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Mehr als ein Debakel

Ein analytischer Tiefgang ist unverzichtbar –
von Werner Weidenfeld

Werner Weidenfeld: "Es geht um 
grundsätzliche Wandlungen in der politischen Kultur."

04.10.2008 · Bayernkurier (Jahrgang 59, Nr. 40)



Das Ereignis ist schwer auf einen Begriff zu bringen. Debakel, Erdrutsch, Katastrophe – solche Ausrufe beherrschen die ersten Reaktionen. Aber sie erklären das ungewöhnliche Phänomen nicht. Wer die Tiefendimension gesellschaftlicher Veränderungen ins Auge fasst, der wird nicht nur Signale aus der Welt der Alpträume senden. Es geht um grundsätzliche Wandlungen der politischen Kultur:

1. Nach der Wahl ist das Empfinden der Bürger nicht in ein Schema von Siegern und Verlierern einzuordnen. 72 Prozent der Wähler finden den Wahlausgang gut, 54 Prozent der CSU-Wähler ebenfalls. Das ist ein geradezu tiefenpsychologischer Hinweis. Das künftig höhere Maß politischer Bescheidenheit der CSU wird selbst bei den Anhängern befürwortet. Man will das politische Leben neu gewichten – relativ gleichgültig zu den eigenen parteipolitischen Prioritäten. Das ist ein einzigartiges Phänomen nach solch drastischen Wahlergebnissen.

2. Der Wahltag brachte eine historische Korrektur der Parteienlandschaft. Wie konnte dies geschehen? Die CSU hat ihre Erfolgsgeschichte eingewoben in eine Gesellschaft stabiler Milieus. Eine feste Zuordnung gesellschaftlicher Gruppen, eine klare Form kultureller Wahrnehmungen, eine starke Hinwendung zur Pflege der Traditionen – die CSU war der Ausdruck dieser Milieu-Gesellschaft. Inzwischen hat sich diese Formation weitgehend aufgelöst. Neue Prägungen, nicht zuletzt durch Millionen Zugereiste, rückten an diese Stelle. Die CSU entbehrt nun der selbstverständlichen Vernetzung mit allen gesellschaftlichen Elementen.

3. Die Menschen suchen eine Korrektur der Machtarchitektur ohne einen Wechsel der Politik. So wandern viele CSU-Anhänger zu potenziellen Koalitionspartnern wie FW und FDP. Eine plurale Bürgerlich­keit gibt dem Leben neue Farben. Ein frischer Wind soll das politische Leben bestimmen. So vollzieht sich im bürgerlichen Teil als Pluralisierung der Parteien (CSU, FW, FDP), was uns auf der linken Seite vertrauter ist. Neben die SPD gesellten sich dort Grüne und Linke. Die Landtagswahl in Bayern setzt ein Zeichen, das die gesamte Parteienlandschaft in der Republik korrigieren wird.

4. Im Schatten eines solchen Wahltags sollte man ein Faktum nicht übersehen: 83 Prozent der Bayern danken der CSU dafür, dass sie Bayern stark gemacht hat. Die positive Einstellung wird also historisch fixiert. Aber die gleichen Personen wollen keine Einparteienregierung mehr. In der Ära der Pluralität sollen aus dieser Sicht mehrere Parteien zusammen regieren. Auch viele Anhänger der CSU wollen eine Koalitionsregierung. Es war sicherlich kein besonders gelungener Griff der Wahlkampfstrategie der CSU, die Werbung für die Einparteienregierung in den Mittelpunkt zu rücken. Mehr als 70 Prozent der Bürger wollten weitere Parteien im Parlament haben. Der Wunsch wurde allerdings nicht von jedem in die faktische Stimmabgabe umgesetzt. Die Sehnsucht nach frischem Wind suchte sich viele Wege zur Realisierung.

5. Kulturell ist die klassische Identifizierung von CSU und bay­erischem Lebensgefühl nicht mehr im alten Stil aufrechtzuerhalten. Dazu hat sich das Lebensgefühl zu stark verändert. Angesichts dieser Diskrepanz wurde nun vieles an der CSU in einen Sog der Frustration gezogen: der Führungsstil, das Durchsetzungsvermögen in Berlin, die Bürgernähe, der Gerechtigkeitssinn, die klare Führungskraft. So geriet etliches in den Sog kritischer Distanzierung, was nicht präzise beschreibbar war. Manches ist wohl als Abstrafung einer höchst ungewöhnlichen Zweidrittelmehrheit zu begreifen. So abgehoben im Amt will man keine Partei sehen.

6. Die Erfolgsbilanzen Bayerns sind umfassend. Die geringste Arbeitslosigkeit, das Wirtschaftswachstum, die klugen Schüler, die Elite-Universitäten – jeder Bürger hat die Erfolge schnell konsumiert. In der Konsequenz verliert die CSU ihre Sonderstellung. Die Erfolge gehören zur Geschichte, sie sind nicht die Orientierung der Zukunft.

7. Jede Landtagswahl wird vom bundespolitischen Klima grundiert. Kein Land ist eine Insel; jedes Land ist nur eine Variante der bundespolitischen Szenerie. Die Umfragen signalisieren recht hohe Unzufriedenheit mit der Großen Koalition. Kein Mitverantwortlicher der Berliner Regierung kann daher auf Rückenwind vertrauen. Beide Partner zahlen einen hohen Preis. Die CSU wird zwangsläufig ihre Position in der Regierung neu definieren. Im bisherigen Alltag erscheint sie entbehrlicher als in früheren Zeiten. Die bundespolitische Qualität der Landtagswahl wird hier direkt greifbar.

Jedes Nachdenken über die strategischen Konsequenzen aus dem Ergebnis des 28. September 2008, einem Ergebnis von historischer Tragweite, muss Tiefe und Dramatik dieser sieben gesellschaftlichen Korrekturen erfassen. Jede oberflächliche Routine greift zu kurz. Der übliche Hinweis auf die üblichen Reaktionen erfasst nicht die wirkliche politische Substanz. Dieses Mal ist ein analytischer Tiefgang wirklich unverzichtbar.


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