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Europa muss seine Chancen in China nutzen

Voraussetzung ist ein feineres Gespür für kulturelle Nuancen

Von Werner Weidenfeld

15.08.2004 · FAZ



Die Macht der Stereotype sollte niemand unterschätzen. Sie prägen und profitieren das, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen. Sie filtern allerdings auch alle Informationen aus, die nicht in dieses Raster passen. Es gibt dafür heute in der Weltpolitik wohl kein dramatischeres Beispiel als China. Seit Jahren fokussiert sich das westliche Interesse auf zwei Aspekte: die Menschenrechte und die wirtschaftliche Dynamik. Aber hat dieses Riesenreich eines solchen Milliardenvolkes nicht mehr an Zwischentönen zu bieten? Gilt es nicht, ein feineres Gespür dafür zu entwickeln, was sich in der chinesischen Gesellschaft verändert? Haben wir ein angemessenes Sensorium für das neue gesellschaftliche Selbstbewusstsein, die veränderten Nuancen in Kommunikation und Stil?

Chinas Politik steht vor einem Quantensprung. Sie muss gleichzeitig vier Entwicklungen organisieren: den Übergang von exzessivem zu intensivem Wachstum, die Steuerung der wirtschaftlichen Dynamik angesichts wachsender regionaler Unterschiede, den Übergang zu offeneren Formen politischer Willensbildung und die Neubestimmung der internationalen Rolle des Landes. Indizien für die Veränderungen, die dieser Prozess mit sich bringt, waren beispielhaft auf einem von der Bertelsmann-Stiftung organisierten "Europäisch-Chinesischen Kulturkongress" zu erfassen, bei dem Teilnehmer aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Medien mehrere Tage miteinander diskutierten. Wären in früheren Jahren bei der Vorbereitung einer solchen Veranstaltung - immerhin war der chinesische Kulturminister der Partner - geradezu endlose Verhandlungen notwendig geworden, so war dieses Mal keine Intervention zu den Themen- und Personalvorschlägen aus Deutschland zu registrieren. Auch bei den ergänzenden Vorträgen und Diskussionen an chinesischen Universitäten und mit chinesischen Think Tanks waren kritisches Selbstbewusstsein und unverklemmte Diskussionsfreude zu spüren.

Die Dialogrituale früherer Jahre sind mir noch lebhaft präsent: Wollte man nach einem eigenem Vortrag, dem in der Regel bestenfalls wohlvorbereitete Höflichkeitsfragen folgten, selbst eine Diskussion beginnen und stellte provokante Gegenfragen, musste das Gespräch von chinesischer Seite plötzlich beendet werden. Man versprach, die Antworten einige Tage später zu liefern. Dazu wurden dann chinesische Arbeitsgruppen gebildet, die in kollektiver Verantwortung die Bearbeitung der Fragen übernahmen. Der Inhalt war dann parteiprogrammatisch abgesichert.

Nichts von alledem ist heute feststellbar. Die immense wirtschaftliche Dynamik des Landes, die in den großen Städten atemberaubend sichtbar wird, so geben Chinesen zu, diese Dynamik habe auch ihre Schattenseiten: die Diskrepanz zwischen Arm und Reich, die Divergenz von Stadt und Land. China werde in eine dramatische soziale Krise geraten, die sich auch in eine politische Krise wenden könne. Hinweise solcher Art aus quasioffiziellem Munde in China zu vernehmen - früher geradezu undenkbar.

Solch selbstkritische Differenzierung, diese Andeutung eines pluralen Selbstbewusstseins in den Führungsschichten von Politik, Wirtschaft und Kultur allerdings macht oft genug an einer ehernen Grenze halt. Sie ist dann erreicht, wenn der ausländische Besucher die Formel von den "asiatischen Werten" in Frage stellt. Hier verbittet man sich ohne Zögern jede ausländische Belehrung und Intervention. Noch vor wenigen Jahren hätte man als ausländischer Besucher überhaupt keine Chance gehabt, den Raum bis zu dieser Grenze, die damals erheblich früher erreicht war, auszuloten. Die Neugier der Eliten treibt heute das Land zu immer neuen Horizonten.

Ein Grund für den Wandel des Bewusstseins ist die neue Qualität internationaler Verwebung der Wirtschaft. Wer unter den Bedingungen internationaler unternehmerischer Arbeitsteilung erfolgreich sein will, kann sich Abschottung nicht leisten. Ich erinnere mich an meine ersten China-Besuche vor mehr als 25 Jahren: Damals war der Zugang zu einem der wenigen Telefonapparate in einem Ministerium das eigentliche Statussymbol der Macht. Heute bewegen sich viele Millionen Chinesen mit ihren Mobiltelefonen in telefonischer Unabhängigkeit. China ist zum größten Markt für Mobiltelefone geworden. Diese kommunikationstechnologische Revolution, die bereits früher in anderen monokratischen Systemen ihre Wirkung gezeigt hat, hinterlässt auch in China tiefe Spuren.

Dieser Wandel eröffnet für ausländische Partner große Chancen, auch angesichts des schier grenzenlosen Potentials an Talenten, Intelligenz, Arbeitskraft und Rohstoffen, das China zu bieten hat. Die Weltmacht Amerika hat diese Chancen am schnellsten erkannt und zu nutzen verstanden. China sucht sich aus dieser Umklammerung zu lösen und Europa stärker ins Spiel zu bringen. Das wäre die Stunde der Europäer. Tatsächlich nämlich gibt es keinen weltpolitischen Akteur, der größere Chancen in diesem Riesenland hätte als Europa - wenn es nicht jenes leidige strategische Defizit der Europäer gäbe. Wenn sie nur ihre Interessen klar definierten, wenn sie die Perspektive der Chinesen verstünden, wenn sie chinesisches Denken und Fühlen auch in seiner kulturellen Langfristigkeit begriffen - dann könnte eine neue Ära der europäisch-chinesischen Beziehungen beginnen.


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