Jenseits der alten Grenzen
FAZ-Artikel von Werner Weidenfeld und Josef Janning
20.01.2001 · Frankfurter Allgemeine Zeitung
Daneben werden mit der physischen Einführung des Euro als Zahlungsmittel 2002 die Grenzen der nationalen Währungs-räume fallen. Auch die nicht an der Währungsunion teilnehmenden EU-Staaten werden den Öffnungsdruck der Gemeinschaftswährung verspüren. Die institutionellen Reformen des Vertrags von Nizza schließlich haben Grenzen des supranationalen Prinzips deutlich gemacht. Die Schritte der Öffnung nationaler Souveränität verlangen offenbar nach einer präzise-ren Bestimmung der Reichweite europäi-scher Einigung. Im Reformprozeß nach Nizza werden deshalb Schranken der Entgrenzung entwickelt werden.
In der öffentlichen Wahrnehmung dieser europäischen Perspektiven wird eine Ambivalenz spürbar. Einerseits erweitern die Schritte der Entgrenzung den Bedeutungsin-halt des Konzepts der europäischen Einigung und eröffnen neue Felder der Selbstverständigung der Europäer. Andererseits erzeugen Entgrenzungen Unsicherheit und Angst. Die Erweiterung um mittel- und osteuropäische Staaten präzisiert zugleich die geographische Reichweite der EU. Sie umfaßt heute den gesamten früheren "Westen" Eu-ropas bis auf die Schweiz mit Liechtenstein, Norwegen und Island - die jederzeit beitreten könnten. Daneben gibt es drei Gruppen von Staaten, aus denen die künftigen Neumitglieder der Europäischen Union kommen werden: Die Reichweite der Integration ist nicht mehr geographisch zu bestimmen.
Die erste Gruppe bilden die gegenwärtigen Aspiranten: die Staaten im östlichen Mitteleuropa, im Baltikum, in Süd-osteuropa sowie die beiden Inselrepubliken Zypern und Malta. Zu den größten Schwierigkeiten im Verhandlungs-prozeß zählen die Anpassung der regulierten Politikfelder der EU - vor allem der Agrarpolitik - und die administrativ-rechtliche Überführung des EU-Rechts in das der Kandidatenstaaten. Politische Problemlagen könnten den Beitritt komplizieren: So ist die Integration der russischen Minderheit in Estland und Lettland bisher nicht abge-schlossen, die Stellung der ungarischen Minderheiten in verschiedenen Staaten erscheint nicht dauerhaft gesichert, und ein Beitritt nur des griechischen Teils Zyperns würde die Teilung der Insel verfestigen.
Eine zweite Gruppe künftiger Mitglieder bilden die Staaten des westlichen Balkans. Über den Stabilitätspakt und durch verschiedene Erklärungen europäischer Gremien haben sie eine Beitrittszusage erhalten, sofern ihre innere Entwicklung und regionale Verträglichkeit den Anschluß an die Entwick-lung in Ostmitteleuropa erlaubt. Auch für die Bundesrepublik Jugoslawien besteht in diesem Rahmen die Chance aufzuschließen.
Die dritte Gruppe schließlich umfaßt den Raum im Osten und Südosten der zuvor genannten Regionen einer erweiterten Europäischen Union. Unter den damit umrissenen Staaten verfügt derzeit nur die Türkei über eine Beitrittszusage. Für Rußland oder die Ukraine, für Moldawien oder Georgien ist damit zugleich die prinzipielle Möglichkeit eröffnet, künftig einmal den Weg der Türkei einzuschlagen.
Die Entscheidung, der Türkei den Status eines Beitritts-kandidaten zuzuerkennen, hat Europas Grenzen neu gezogen: Die Reichweite der Integration ist nicht eindeutig geographisch zu bestimmen - die Türkei liegt im Schnitt-punkt mehrerer Großregionen und nur zu einem kleinen Teil auf dem europäischen Kontinent.
Die Vertiefung und die Grenzüberschreitungen der Er-weiterung werden die Präzisirung der früher vage gehaltenen Vorstellung von der Finalität der Einigung erzwingen. Beide Entwicklungsstränge enthalten Bela-stungsproben für das System der Integration und den Zusammenhalt seiner Mitglieder, die eine Verstärkung der wechselseitigen Bindungen erforderlich machen. In der Verarbeitung dieser Lasten steht der Einigungsprozeß an einer konzeptionellen Wegscheide, die die Entscheidung zwischen verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten verlangt.
Im ersten dieser Szenarien würde die produktive Bewältigung der aktuellen Herausforderungen zur Triebfeder weiterer Integration werden: Die Europäische Union würde zu einer Föderation europäischer Staaten, gestützt auf einen Verfassungsvertrag mit abgegrenzten Zuständigkeiten der verschiedenen Ebenen und demokratischen Legitimations- und Kontrollverfahren. Damit wäre die Staatswerdung Europas zugunsten der supranationalen Idee entschieden.
Die europäische Integration kann aber auch einen zweiten Weg nehmen, auf dem supranationales Handeln die Politik der Staaten nur ergänzt. Dieses Europa könnte die Form einer vertieften Freihandelszone annehmen - locker genug, um die divergierenden Interessen, Ansprüche und Ambitio-nen der Staaten auszuhalten, aber stark genug, um die Skalenerträge des gemeinsamen Wirtschaftsraums in den Stufen der Erweiterung von 15 auf 28 und mehr Staaten nicht zu verlieren.
Ein dritter Weg wäre der einer differenzierten Integration. Wenn es nicht gelingt, die EU zu erweitern und gleichzeitig ihre politischen Ziele zu realisieren, dann läge in der Vorwegnahme der politischen Finalität einer großen Union durch den Kreis der dazu fähigen Staaten die wohl einzige Chance, den Zusammenhalt der EU zu stärken und das Integrationsprojekt voranzubringen. Eine Gruppe von Staaten würde jeweils die Wirtschaftsunion, die Union der inneren Sicherheit, die Verteidigungsunion bilden. Die Zu-sammensetzung dieser Avantgarde-Projekte dürfte weitgehend deckungsgleich ausfallen und könnte so das Konzept einer Europäischen Föderation aufrechterhalten.
Eine weitere Möglichkeit läge im Zerfall der Integration - nicht als düstere Variante des Scheiterns, sondern wegen Unzeitgemäßheit des Konzepts. Dieses Szenario nimmt an, daß die Integration ein Produkt des Kalten Krieges und der Teilung in antagonistische Blöcke war und ihren Entste-hungskontext mittelfristig nicht überdauern wird.
Die Regierungskonferenz zur Reform der EU und das Gipfeltreffen von Nizza haben das Ausmaß der Differenzen zwischen Positionen und Interessen demonstriert, welche die EU gegenwärtig kennzeichnen. Die Bilanz des Vertrags von Nizza enthält in diesem Sinne gemischte Signale für die Zukunft der Integration. Einerseits sind Schritte in Richtung auf das für Nizza gesetzte Ziel einer verstärkten Handlungsfähigkeit erreicht worden, etwa in der Verringerung der Themen, bei denen Einstimmigkeit gilt, sowie in der Erleichterung der verstärkten Zusammenarbeit. Andererseits sind solche Fortschritte mit einer Verstärkung der Vetopositionen und mit Nichtentscheidungen in sen-siblen Bereichen erkauft worden, welche die Handlungs-fähigkeit der EU in den Stufen ihrer Erweiterung schwächen werden. So sind zentrale Politikfelder der europäischen Innenpolitik sowie der Sozial- und Steuerpolitik ausgespart worden, in der Handelspolitik könnte sogar eine Rückkehr zur Einstimmigkeit die Folge diffuser Schutzklauseln sein.
Die künftigen Mitglieder wurden zudem im Entscheidungs-system herabgestuft: In der Stimmgewichtung im Rat konnte die Schlechterstellung in der Regierungskonferenz noch weitgehend korrigiert werden, in der Zuweisung der Sitze im Europäischen Parlament sind jedoch Abstufungen be-schlossen worden, die dem Grundsatz proportionaler Repräsentanz in demokratischen Gremien widersprechen. Das Verfahren der qualifizierten Mehrheitsentscheidung im Rat wird mit dem Vertrag von Nizza nicht im Sinn der Regierungsfähigkeit verbessert. Das Regieren über Mehrheiten wird auch künftig nicht das prägende Politikmuster der Integration sein, denn neben die Reform der Stimmgewichtung sind neue Sicherheitsklauseln getreten. Was die Erhöhung der Stimmenzahl an Ge-staltungspotential eröffnet, wird durch die Anhebung des Quorums im Zuge der Erwei-terung sowie durch die Einführung zweier zusätzlicher Kriterien (Mehrheit der Staaten und Vertretung von 62 Prozent der EU-Bevölkerung) wieder verloren. Die Gestaltungsmacht in der europäischen Politik nimmt ab, die Verhinderungsmacht wächst.
Mit den Entscheidungen von Nizza ist nur ein Teil der Frage nach der künftigen politischen Ordnung vorläufig be-antwortet. Andere Bereiche erscheinen angesichts der in Nizza zutage getretenen Konflikte in ihrer Bedeutung gewachsen zu sein. Dazu gehören vor allem drei Fragen:
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Die Kompetenzfrage
Das Ringen um Einstimmigkeit und Vetopositionen in Nizza signalisiert ein Unbehagen an der Reichweite und Intensität von Integration in der EU, das möglicher-weise erst über eine eindeutige und systematische Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der europäischen und den mitgliedstaatlichen Entscheidungsebenen aufzulösen ist. -
Die Akzeptanzfrage
Mit dem Vertrag von Nizza liegt ein weiteres Dokument europäischer Diplomatie vor, dessen Unlesbarkeit beispielhaft für die Undurchschaubarkeit des ganzen Systems steht. Der Vertrag von Nizza vereinfacht das politische System der EU nicht; infolgedessen müssen andere Formen verbesserter Transparenz gefunden werden, um die Zustimmung der Bürger zu erhalten. Dies könnte durch die Entwicklung eines Grund-vertrages geschehen, der die wesentlichen Ziele, die Rechte und Pflichten der Bürger, die Zuständigkeiten und die Institutionen und Verfahren transparent macht. -
Die Demokratiefrage
In der Vorbereitung auf Nizza ist über die "demographische Frage" häufig so gesprochen worden, als sei damit bereits eine Verstärkung der demokra-tischen Qualität verbunden. Nach Nizza wird diese Vermischung aufgelöst werden müssen in der Klärung der Rolle des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente.
Was hält Europas Gesellschaften zusammen? In einer Zeit der Entgrenzung und Neudefinition ist der Zusammenhalt der Bürger wie der Staaten in der EU im besonderen gefordert. Die Gestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion, die Reform des politischen Systems, die Aufnahme weiterer Staaten wie die Erneuerung der internationalen Rolle der EU
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benötigen eine Klärung der Ziele und Prinzipien gesellschaftlicher Solidarität;
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erfordern die Neuverständigung über die Aufgabenteilung;
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verlangen eine Neubestimmung der Ko-häsion und des sozialen Ausgleichs in Europa.
Zukunftsgestaltung in dieser entscheidenden Phase benötigt den öffentlichen Dialog und die Beteiligung vieler. Die auch künftig erforderliche Fixierung von Reformergebnis-sen in Vertragsänderungen sollte den Endpunkt von Europadebatten und nicht ihren Anfang bilden. Regierungs-konferenzen würden damit nicht zum Ersatz der Reformde-batte, sondern gewissermaßen zu ihrem Resümee.
Das Jahr 2001 sollte zu einem Jahr der großen, breit-gefächerten öffentlichen Debatte über das Kompetenz-gefüge und die politische Grundordnung Europas werden.Im Jahr 2002 könnten Fachleute die Ergebnisse zusammen-führen und Vorschläge ausarbeiten. So könnte das Instrument des Konvents für die Erarbeitung eines Grund-vertrages genutzt werden, während sich die Frage des Kompetenzgefüges für die Behandlung durch Sach-verständige eignen würde, und für die Klärung der Rolle der nationalen Parlamente eine interparlamentarische Kommissi-on gebildet werden könnte. 2003 wäre Gelegenheit für eine Reflexionsgruppe aus Vertretern von Regierungen und Parlamenten, die Vorschläge zu bündeln und zur Behand-lung auf einer Regierungskonferenz vorzubereiten. In diesen Prozeß sollten die künftigen Mitglieder eingebunden werden. Die Erweiterungsverhandlungen mit den am weitesten fortgeschrittenen Staaten könnten 2002 abgeschlossen sein, so daß einige Staaten mit dem Beginn der nächsten Regierungskonferenz den Beitritt vollziehen und Sitz und Stimme in der Regierungskonferenz beanspruchen dürfen.
Bisher hat sich die Europäische Union ohne markante ordnungspolitische Debatte entwickelt. Heute steht die Einigung an einem Punkt, an dem die Auseinandersetzung um Grundfragen unerläßlich ist. Was Europa leisten soll und wie es verfaßt sein soll, was die Menschen erwarten und was Europas Gesellschaften zusammenhält - Antworten darauf sind der Schlüssel zur Zukunft Europas.
Der Text ist ein Auszug aus dem Strategiepapier der Bertelsmann Forschungsgruppe Politik, das den Teilnehmern des Internationalen Bertelsmann Forums vorliegt.
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