"EU lechzt nach Zuverlässigkeit"
Interview mit Prof. Dr. Werner Weidenfeld zur Zukunft der EU-Verfassung
27.05.2006 · Aargauer Zeitung / Mittelland Zeitung
Weidenfeld: Oberflächlich betracht erscheint die EU handlungsfähig. Das operative Tagesgeschäft in Brüssel läuft weiter. Bei genauer Betrachtung wird jedoch klar, dass die eigentlichen Kernprobleme Europas ungelöst bleiben.
Frage: Wie schwer ist denn die Krise, in der die EU seit dem Nein der Franzosen und Holländer zur Verfassung steckt?
Weidenfeld: Das Nein in Frankreich und den Niederlanden zum Verfassungsvertrag ist ein Symptom aber nicht die eigentliche Ursache für die gegenwärtige Krise der EU. Europa steckt in einer fundamentalen Orientierungskrise. Unvereinbare strategische Perspektiven prallen aufeinander. Während die einen nur in den Vereinigten Staaten von Europa eine Überlebenschance für den Kontinent sehen, betonen andere Mitgliedstaaten sie seien nur einem Binnenmarkt beigetreten. Diese tiefe Diskrepanz in der finalen Perspektive droht der Erfolgsgeschichte der Integration ein abruptes Ende zu bereiten.
Frage: Sehen Sie auch konkrete Erfolge, die die EU im Laufe des letzten Jahres erreicht hat?
Weidenfeld: Mit dem im Dezember 2005 gefundenen Kompromiss über den EU-Finanzrahmen 2007-2013 hat Europa seine Fähigkeit zur Einigung bewiesen. Damit konnte eine noch tiefere Krise abgewendet werden. Doch die Beendigung des Finanzstreits folgte keiner sachlichen Reformstrategie, sie war vielmehr der Rückkehr zur Logik des Basars geschuldet. Alle großen Strukturfragen allen voran die Subventionierung des Agrarmarktes wurden nicht beantwortet.
Frage: Braucht die EU überhaupt die Verfassung?
Weidenfeld: Je größer und je mächtiger Europa künftig sein wird, desto schmerzlicher wird das Fehlen einer Verfassung empfunden werden. Die Dichte der europäischen Integration hat heute ein Niveau erreicht, das die Frage nach der inneren Struktur Europas geradezu zwanghaft aufwirft. Ein Europa, das magnetisch immer mehr Aufgaben und immer mehr Mitglieder an sich gezogen hat, lechzt geradezu nach verbürgter Zuverlässigkeit. Auf Dauer wird sich die Union der Notwendigkeit, mehr Klarheit über die künftige Verfasstheit Europas zu schaffen, nicht widersetzen können.
Frage: Wo stoßen die jetzigen Institutionen für die große EU an ihre Grenzen und wie lange kann die EU so noch weiterarbeiten?
Weidenfeld: Ohne Verfassung bleibt der Vertrag von Nizza gültig, der die Entscheidungen in einer Europäischen Union von 25 und bald mehr Mitgliedstaaten schwieriger und langwieriger macht. Die EU braucht dringend die institutionellen Neuerungen der Verfassung, insbesondere die Optimierung ihrer Entscheidungsverfahren, um auch in Zukunft entscheidungs- und handlungsfähig zu sein.
Frage: Lösungen in der Verfassungsfrage sind derzeit nicht in Sicht. Was braucht es, damit das Thema wieder auf die Tagesordnung kommt?
Weidenfeld: Nach der Ablehnung der Verfassung durch die Bevölkerung in zwei Kernländern Europas sind mehr denn je Alternativen zum aktuellen Verfassungsvertrag gefragt. Es bietet sich an, die Weiterentwicklung des politischen Systems der EU zu entdramatisieren: Aus dem provozierenden Großtitel der Verfassung sollte wieder die bescheidene Variante eines Vertrages werden. Der Kernbestand an Verfassungsneuerungen sollte in die bestehenden Verträge übertragen werden. Hierzu sollten die zentralen Reformen des Verfassungsvertrages identifiziert und in Gestalt eines Änderungsvertrages zum Vertrag von Nizza gebündelt werden. Wir haben vom Centrum für angewandte Politikforschung dazu einen konkreten Textvorschlag erarbeitet.
Frage: Die Kandidaten, die der EU beitreten möchten, stehen immer noch Schlange - Rumänien, Bulgarien, die Türkei, Länder auf dem Balkan. Muss die EU zunächst die Verfassungsfrage klären, bevor sie weitere Mitglieder aufnehmen kann?
Weidenfeld: Auch ohne eine abschließende Klärung der Verfassungsfrage werden Bulgarien und Rumänien 2007 oder spätestens 2008 der EU beitreten. Grundsätzlich wird sich Europa jedoch über die geographische Reichweite der Integration verständigen müssen. Gelingt das nicht, gerät unser Kontinent über kurz oder lang in die Gefahr, an dem klassischen Syndrom der Überforderung und Überdehnung zu scheitern.
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