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Die Erosion der Republik

Ein Kommentar von Werner Weidenfeld

Hektisch wogt die politische Debatte von Sarrazin zu Atomlaufzeiten. Hinter der kurzlebigen Aufregung jedoch verlieren Politik und Parteien ihre Deutungshoheit und Bindewirkung.

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09.09.2010 · Financial Times Deutschland



Die Event-Gesellschaft kann beglückt sein. Es passiert viel in der Republik. Da blickt die Öffentlichkeit gebannt auf eine merkwürdige Bestseller-Kampagne eines Bundesbankers. Die Medien befassen sich in traumatischer Hektik mit der denkbar dürftigen Substanz des Buchautors Thilo Sarrazin und seiner höchst aufgeregten Kritiker.

Geschickt ist auf dünnem Eis das scharfe, polemische Arrangement der Datenfitzelchen von Sarrazin organisiert - aus einer Amtsposition heraus, von der man distinguiert vornehme Zurückhaltung erwartet. Dann folgt sofort der Startschuss zum Ausschluss aus der SPD, zum Rauswurf aus der Bundesbank, zum Unterschriftendrama des Bundespräsidenten - welch eine Ereignisfülle!

Kaum jemand wird sich an banalere Umgangsformen erinnern, aus denen das Gefühl einer atmosphärischen Staatskrise entstand. Aber schnell wird in die ersten Anzeichen von öffentlicher Erschöpfung der Aufmerksamkeit hinein ein neues Thema platziert: die Laufzeit von Atomreaktoren. Das Interesse konzentriert sich auf die stundenlange sonntägliche Krisensitzung im Bundeskanzleramt. Was früher Ort politischer Entscheidungswürde war, ist zum Basar für atomare Laufzeiten verkümmert. Natürlich endet die Auseinandersetzung der diversen Minister im Datenkompromiss, dessen höhere Sinngebung sich den meisten Menschen entzieht.

Es folgt sofort eine demoskopische Unterfütterung zur Seelenlage der Republik: Atemlos wird in großen Schlagzeilen registriert, dass 18 Prozent der Mitbürger eine Sarrazin-Partei wählen würden. Blicken wir auf ein Fanal an Fremdenfeindlichkeit? Gleichzeitig allerdings würden 20 Prozent eine Merz-Partei und sogar 25 Prozent eine Gauck-Partei wählen. In medialer Erhitzung setzt sich zumindest situativ stimmungsmäßig die Wanderungsbewegung weg von den alten Großparteien fort.

Blicken wir nur wenige Tage weiter zurück, um die Hektik punktueller Aufmerksamkeit genussvoll auszukosten: Da tritt der Bundespräsident zurück - und auch einige Ministerpräsidenten. Die Kontroverse, wer Kapitän der Fußballnationalelf werden soll, bannt die Aufmerksamkeit. Was früher "Sommerloch" hieß, ist einem permanenten Festspielsommer gewichen: Da wird eine Debatte über Wehrpflicht wie über Rente mit 67 geboten, Spekulationen keimen, wer sich noch wie lang auf welchem Posten halten wird. Die Gesellschaft wird also bestens unterhalten. Zugleich kann man festhalten: Die Oberflächlichkeit des politischen Lebens strahlte nie heller auf als heute.

Dramatische Befunde

Der ernstere Blick auf die Tiefendimensionen der Republik forciert jedoch Besorgnis, Frustration, Pessimismus. Das empirische Datenmaterial liefert scharfe Profile zur Befindlichkeit:

1. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war die Distanz zwischen Bürger und politischer Klasse nie so groß wie heute.

2. Das Vertrauen in die Politik befindet sich auf dem niedrigsten Stand.

3. Die Bindewirkung der Parteien ist auf ein Minimum geschrumpft.

4. Die Absicht, an einer Wahl teilzunehmen, bewegt sich in einem drastischen Sinkflug.

Hinter diesen dramatischen Befunden steckt mehr als eine bloße Benotung für die jeweilige Regierung, mehr als eine kurzfristige Stimmungslage. Dahinter steckt eine tiefe Veränderung des Webmusters des Politischen in der Bundesrepublik Deutschland: Die Politik insgesamt, nicht nur die Regierung, hat ihre Fähigkeit zur Orientierung eingebüßt. Ihr fehlt eine Botschaft, ihr fehlt eine Perspektive, ihr fehlt der Entwurf eines künftigen Gesellschaftsbilds. Zu Zeiten eines Konrad Adenauer und eines Willy Brandt, eines Helmut Schmidt und eines Helmut Kohl war die Politik orientierungsfähig. Da gab es große Themen, die im Pro und Kontra die Gesellschaft verbanden - von der sozialen Marktwirtschaft bis zur Entspannungspolitik, von der Nato-Nachrüstung bis zur Vollendung der deutschen Einheit. Es wurde gerungen um das Gesellschaftsbild der Zukunft.

Politik lernfähig

Die Politik ist situativ und hektisch geworden. Themen und Argumente wechseln von Augenblick zu Augenblick. Das geradezu technische Detail wird mitgeteilt, aber nicht erklärt, geschweige denn in einen Zusammenhang eingeordnet. So leidet die Politik schwer unter einem Deutungs- und Erklärungsdefizit.

Komplexe Probleme verlangen nach Lösungen. Das gilt vom demografischen Wandel über die Energieversorgung, das Gesundheitswesen bis hin zur Sicherheit. Lösungen sind aber nicht per punktuellem Zuruf möglich, nur im Angebot einer Strategie. Der Politik ist aber solch strategisches Denken abhandengekommen.

Gleiches gilt für die einzelnen Parteien. Keine Kraft ist dem politisch-kulturellen Dilemma bisher entkommen. Überall ist der Vertrauensbruch wahrzunehmen. Die Parteienlandschaft wird von egozentrischer Profilierung geprägt. Kein Parteifreund, kein Koalitionspartner bleibt von solchen Attacken verschont. Wer erscheint da noch zuverlässig und authentisch? Damit verschwindet die einstige Bindekraft der Parteien.

Diese Dialektik aus oberflächlichem Aktivismus und medialem Eventmanagement einerseits und kollabierender Tiefenwirkung andererseits wird die Politik auf mittlere Sicht begleiten. Wer nur auf die Erosion der Republik blickt, kann den düsteren Empfindungen nicht entrinnen. Zuversicht kann nur eine historische Erfahrung vermitteln: Politik ist durchaus lernfähig. Das Webmuster des Politischen kann also durchaus wieder zum Besseren korrigiert werden.


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