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Deutschland - eine Schönwetterdemokratie?

Die Vielzahl der Nebenregierungen passen nicht mehr zur Berliner Republik.

Von Karl-Rudolf Korte

05.07.2003 · Allgemeine Zeitung Mainz



Unsere Demokratie gilt als stabil. Längst wandelten sich obrigkeitsstaatliche Einstellungen zu demokratischen. Die Deutschen haben eine ausgeprägte Grundloyalität zum politischen System.

Demokratieentwicklung und Wohlstandsgewinne verliefen über Jahrzehnte zeitgleich. Doch die Rahmenbedingungen und die Erfolgsmuster dieser Schönwetterdemokratie haben sich grundlegend geändert. Die Idylle endet. Unter der Oberfläche brodelt es gewaltig. Mit Zeitverzögerung stellt sich die Demokratiefrage neu.

Ein Vertrauen der Bürger gegenüber der Lösungskompetenz der Politik existiert nicht mehr. Das ist mehr als traditionelle Politik- und Parteienverdrossenheit. Die Bürger verachten mittlerweile ihre jeweiligen öffentlichen Repräsentanten: Parteieliten werden zynisch belächelt; Verbands- und Gewerkschaftsvertretern ergeht es nicht besser. Ein Politikstil, der traditionell auf politische Repräsentation und Interessenvertretung setzt, ist offenbar Teil des Problems. Die Säulen der Deutschland-AG haben sich entweder selbst demontiert (Gewerkschaften) oder werden von neuen außerparlamentarischen Bürgerbewegungen im Nadelstreif in die Funktionslosigkeit getrieben.

Neben dieser Krise der Repräsentation ist die neue Lage durch Unfähigkeit zur politischen Mehrheitsentscheidung charakterisiert. Die klassischen Instrumente und Techniken des politischen Entscheidens versagen. Denn über Jahrzehnte lebte die bundesdeutsche Verhandlungsdemokratie innen- und außenpolitisch davon, Zuwächse zu verteilen. Wachstum war Teil der Staatsräson. Mit Geld, das umverteilt wurde, ließen sich Konflikte im Konsens lösen. Die neue ökonomische Knappheit kann jedoch die Sehnsüchte nach fürsorglichen Regimen in den Bereichen der Arbeits-, Gesundheits- und Sozialpolitik nicht mehr befriedigen.

Aus gefühlter Armut entwickelt sich in absehbarer Zeit kollektive Armut, zuerst sichtbar am Verfall der Kommunen. Regieren kann sich so nur noch am Abgrund abspielen. Ist das Regierungssystem so winterfest, so entscheidungsstark, wenn sichtbar wird, dass halbherzige Reformen, neue Schulden und die immerwährende Hoffnung auf eine internationale Konjunkturbelebung nicht mehr ausreichen? Für die Bundesregierung gilt ebenso wie für die Landesregierungen, dass die Zeit des Moderierens und des Inszenierens vorbei ist.

Führungsstarke Entscheidungspolitik ist jedoch in Deutschland schwierig, weil der Bezugspunkt des Regierungssystems immer noch die Weimarer Republik ist. Eine differenzierte Machtteilung in einer ausgeprägten Kanzlerdemokratie war die konsequente Antwort auf den Wahnsinn der NS-Zeit. Kein Land hat deshalb so viele Nebenregierungen mit Blockademacht wie die Bundesrepublik. Im Geben und Nehmen konnten Pakete geschnürt werden, die starken Gruppeninteressen nutzten und den Wohlfahrtsstaat zum Fürsorgestaat aufblähten. Doch Stabilität ist heute nur noch zu sichern, wenn auch Effektivität und Effizienz Richtschnur des Regierens sind.

Die Vielzahl der Nebenregierungen passen nicht mehr zur Berliner Republik. Eine neue Machtzentralisierung, beispielsweise durch Kompetenzverteilungen zwischen Bundestag und Bundesrat, entspräche auch dem Trend zum europäischen Regieren. Längst hat Brüssel Entscheidungsmacht an sich gezogen und damit traditionell nationalstaatlichen Machtambitionen eingehegt.

Noch artikuliert sich der Aufstand der Enttäuschten konventionell am Wahltag. Wenn das so bleiben soll, muss auch das Entscheidungssystem reformiert werden.


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