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Ein Schritt vor und einer zurück

Der Reformkurs der Türkei

03.05.2007 · Position von Cenk Alican, Sarah Seeger u. Layla Yüzen



Am 17. April 2007 haben der türkische Außenminister Abdullah Gül und der Chef-Unterhändler für Angelegenheiten der EU Ali Babacan einen 400-seitigen Reformkatalog veröffentlicht. Die türkische Regierung bekundet darin ihren politischen Willen, das Land auch unabhängig von einem möglichen EU-Beitritt tief greifend zu reformieren und zu modernisieren. Damit geht die türkische Regierung in die Offensive, nachdem die Beitrittsverhandlungen mit der EU zuletzt ins Stocken geraten waren. Das Kalkül liegt auf der Hand: Mit dem Reformprogramm soll ein Kontrapunkt zu den sowohl von europäischen Politikern, aber auch von der Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten und der türkischen Öffentlichkeit zunehmend geäußerten Zweifeln über einen EU-Beitritt der Türkei gesetzt werden. Nun wird der Reformprozess der Türkei jedoch von der Eskalation der politischen Lage überschattet, die durch die vehemente Einmischung des Militärs in die aktuellen Präsidentschaftswahlen ausgelöst worden ist. Die Wirkung des Reformprogramms wird dadurch zutiefst in Frage gestellt.

Das Dokument mit dem Titel "Das Programm der Türkei zur Anpassung an den Rechtsbestand (acquis) der EU" beinhaltet insgesamt 33 Kapitel und benennt zentrale politische und wirtschaftliche Reformen für die Türkei. Als Richtschnur dient dabei der Rechtsbestand der Europäischen Union ("acquis communautaire"). Innerhalb von nur sechs Jahren, also bis zum Jahr 2013, soll die Türkei auf das Rechtsniveau der EU-Mitgliedstaaten gebracht werden. So sollen unter anderem Fortschritte bei Justiz und Rechtsstaatlichkeit gemacht, die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt, die Korruption bekämpft, der Umweltschutz vorangetrieben, der Verbraucherschutz ausgebaut, die Sozialsysteme reformiert und die Verkehrsinfrastruktur verbessert werden. Wie die türkische Regierung betont, sind die Reformen dazu gedacht, "die Vorbereitungen der Türkei zu erleichtern, um die Verpflichtungen, die aus dem acquis erwachsen, zu erfüllen und um die Lebensqualität unserer Bürger zu verbessern."

Die vorläufige Aussetzung der Beitrittsverhandlungen über acht der insgesamt 35 Verhandlungskapitel durch die Europäische Union im Dezember 2006 aufgrund des nach wie vor ungelösten Streits um das so genannte Ankara-Protokoll und die damit verbundene Anerkennung Zyperns lassen einen EU-Beitritt der Türkei bis 2013 allerdings fraglich erscheinen. Selbst wenn, wie derzeit von der amtierenden EU-Ratspräsidentin Angela Merkel erwogen, noch bis Juni zwei bis vier weitere Verhandlungskapitel eröffnet werden sollten, ist die Dauer der Gespräche noch völlig offen. Als hohe Hürden werden sich die Debatte um den türkischen Straferechtsparagrafen 301 gegen die "Beleidigung des Türkentums", die Verabschiedung des EU-Rahmenbeschlusses gegen öffentliches Billigen, Leugnen oder grobes Verharmlosen von Völkermord und dessen Auswirkungen auf den Umgang der türkischen Regierung mit dem Völkermord an den Armeniern zwischen 1915-1917 sowie die Kurdenproblematik erweisen.

Die Erdogan-Regierung ist sich dieser Probleme bewusst. Deren Taktik ist somit nicht primär darauf gerichtet, einen zeitlich und inhaltlich exakt umsetzbaren Reformfahrplan vorzulegen. Der Katalog ist vielmehr als ein Zeichen gegen die Vorbehalte gegenüber einem möglichen EU-Beitritt der Türkei zu verstehen und spricht all diejenigen Akteure an, die letztlich als Vetospieler den Beitritt verhindern könnten.

In erster Linie richtet sich der Bericht an die europäischen Staats- und Regierungschefs und insbesondere an die Beitrittsskeptiker wie Deutschland, Frankreich, Österreich und die Niederlande, denen die türkische Regierung wiederholt mangelnde Kooperationsbereitschaft vorgeworfen hatte. Besonders anlässlich der Verabschiedung der "Berliner Erklärung" am 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 2007 hatte sich Ankara unzufrieden über den bisherigen Verlauf des Beitrittsprozesses geäußert. Gerne hätte sich die Türkei auf der Gästeliste der Jubiläumsfeier wiedergefunden, war jedoch von der deutschen EU-Ratspräsidentschaft nicht eingeladen worden. Premierminister Recep Tayyip Erdogan reagierte gekränkt und machte zwischenzeitlich Angela Merkel persönlich für den seiner Meinung nach enttäuschenden Verlauf der Beitrittsverhandlungen verantwortlich. In der Tat wird die Frage der Erweiterungspolitik im Präsidentschaftsprogramm Berlins nur am Rande thematisiert, es findet sich lediglich die Feststellung, die deutsche Ratspräsidentschaft wolle "die laufenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und Kroatien (...) nach Maßgabe der Fortschritte der Kandidaten bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen fördern."

Sucht man nach einer Erklärung für Merkels zurückhaltendes Verhalten, so sollte man einen Blick auf das zentrale Projekt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft werfen: nämlich die substanzielle Weiterführung der Reform des europäischen Primärrechts. Bereits die zähen Verhandlungen um die Formulierung der Berliner Erklärung hatten die Sprengkraft des Themas Erweiterung gezeigt. Eine allzu offene Debatte über den Zankapfel Türkei hätte dem EU-Gipfel im Juni 2007, der die entscheidenden Weichen für die Zukunft des Verfassungsvertrags stellen soll, einen Bärendienst erwiesen.

Mit der Veröffentlichung des Reformprogramms hat Ankara nun selbst die Initiative ergriffen und das Thema Türkei-Beitritt wieder ins europapolitische Rampenlicht gerückt. Mit der Forderung nach einem konkreten Beitrittsdatum auf der einen Seite und der Betonung der Stärke des Landes auf der anderen – vor allem im Bereich Wirtschaft hat die Türkei bereits zentrale Reformvorhaben umsetzen können – soll der Beitrittsprozess entschieden vorangetrieben werden. Die europäischen Institutionen wiesen den Anspruch der Türkei auf einen konkreten Termin jedoch einmütig zurück. Zwar begrüßte die Kommission den Fahrplan, relativierte dessen Bedeutung jedoch mit dem knappen Verweis darauf, dass ein solches Reformkonzept von jedem beitrittswilligen Land erwartet werde. Damit ist es der Regierung Erdogan zwar gelungen, das Thema auf die europapolitische Agenda zu heben, in Zugzwang brachte sie die Europäische Union allerdings nicht.

Der türkischen Regierung ist bewusst, dass es sich maßgeblich auch an der öffentlichen Meinung in der EU entscheiden wird, ob die Türkei dem europäischen Club beitreten wird. Im Falle Frankreichs hat die Meinung der Bürger zu weiteren EU-Beitritten bereits heute verbindlichen Charakter: die französische Verfassung wurde dahingehend geändert, dass künftig ein Referendum über weitere EU-Beitritte abgehalten werden muss.

Derzeit prägen Zweifel und Ängste die öffentliche Debatte, besonders aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Türkei um ein muslimisch geprägtes Land handelt und dass sie bei einem Beitritt zum bevölkerungsstärksten Land der EU würde. Die türkische Regierung ist daher um die Gunst der Bürger in der EU bemüht. Eine schnell wachsende Wirtschaft, eine geostrategisch wichtige Lage und gute Beziehungen zu ihren östlichen Nachbarn sind einige der Argumente, die für einen Beitritt herangezogen werden. Hier ist allerdings noch einiges an Überzeugungsarbeit nötig: so wollen in Schweden zwar immerhin 46 Prozent der Bevölkerung den Türkeibeitritt, in Österreich allerdings nur fünf Prozent. Insgesamt sprechen sich laut einer Eurobarometer-Umfrage vom Dezember 2006 fast 60 Prozent der EU-Bürger gegen einen Beitritt des Landes aus.

Neben den europäischen Regierungen und Institutionen sowie der europäischen Öffentlichkeit dürfte das Reformprogramm vor allem aber an die eigene Bevölkerung gerichtet sein. Die turnusgemäß für November anberaumten Parlamentswahlen werden nach einem Urteil des Verfassungsgerichts zu der eigentlich für den 15. Mai angesetzten Präsidentenwahl voraussichtlich bereits voraussichtlich am 24. Juni stattfinden. Der Entschluss zur Durchführung von Neuwahlen war gefallen, nachdem die politische Führung aufgrund der Präsidentschaftskandidatur von Außenminister Gül massiv unter Druck geraten war. Vor allem republikanische und nationalistische Kreise demonstrierten lautstark gegen die Kandidatur Güls und die regierende religiös-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Deutliche Worte kamen insbesondere von Seiten des Militärs. Mit der Warnung vor einem islamistischen Gottesstaat versuchten die obersten Generäle, die Kandidatur Güls zu verhindern und damit die politischen Fäden des Landes wie zuletzt beim Militärputsch 1980 selbst in die Hand zu nehmen.

In den Demonstrationen entlädt sich jedoch auch allgemeine Kritik am politischen Kurs der AKP. Im Hinblick auf die Europapolitik werden die bereits begonnenen Reformen unter anderem von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) als zu weitgehende Kompromisse im Hinblick auf die türkische Eigenständigkeit empfunden. Noch deutlichere Kritik kommt von der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die in einem möglichen EU-Beitritt des Landes eine empfindliche Schwächung des Türkentums sieht. Aus der EU-Skepsis in der türkischen Bevölkerung könnte daher vor allem die MHP politisches Kapital schlagen: die wachsenden nationalistischen und militärischen Kräfte in der Gesellschaft könnten der Partei wieder realistische Chancen bei den Parlamentswahlen eröffnen. Für die Regierungspartei geht es daher darum, ihre derzeitige Mehrheit zu verteidigen.

Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Trotz der Großdemonstrationen dürften die vorgezogenen Parlamentswahlen und die sich daran anschließende Präsidentenwahl keinen allzu großen Schaden für die AKP mit sich bringen. Umfragen zufolge genießt die Partei nach wie vor die größte Unterstützung in der Bevölkerung. Ein Sieg bei den Wahlen ist daher wahrscheinlich. In diesem Fall wäre ein AKP-Präsidentschaftskandidat vor allem gegenüber den oppositionellen Kräften ausreichend legitimiert – unabhängig davon, ob der Präsident wie bislang vom Parlament gewählt oder, wie von der Regierung vorgeschlagen, in einer Direktwahl vom Volk bestimmt würde. Ziel der AKP ist es daher, die Bürger mit dem vorgelegten Reformprogramm auch weiterhin an die Regierung Erdogan zu binden und von den Vorteilen eines modernisierten Sozialwesens, einer reformierten Wirtschaft sowie einer Stärkung von Meinungsfreiheit und Mitbestimmung zu überzeugen.

Die Regierung in der Türkei könnte mit dem Reformprogramm somit in der türkischen Öffentlichkeit weitaus mehr Erfolg erzielen als im Hinblick auf die Akteure in der Europäischen Union. Zwar war es die AKP, die das Land in der Vergangenheit tiefer als je zuvor reformiert und modernisiert hat. Die Gefahr einer fundamentalistischen Unterwanderung der Demokratie, wie von den Generälen behauptet, besteht daher trotz der stark religiös geprägten Vergangenheit des Premiers derzeit nicht. Der Reformkurs Ankaras und das Ansehen des Landes in der EU könnten vielmehr durch das Demokratieverständnis des Militärs, das sich in kemalistischer Tradition als legitime Kraft des politischen Geschehens sieht, nachhaltig geschädigt werden.

Das Reformprogramm der türkischen Regierung kann daher lediglich ein einzelner, wenn auch dringend nötiger Baustein eines lang andauernden Prozesses sein. Zwar bilden die intendierten Maßnahmen das Fundament einer demokratischen und rechtsstaatlichen Türkei, Reformen des Rechtswesens alleine werden das Land jedoch nicht ausreichend auf einen möglichen EU-Beitritt vorbereiten können. Die Frage der Beitrittsreife wird vielmehr an dem Grad der gesellschaftlichen Modernisierung gemessen werden müssen – dazu gehört auch ein fest verwurzelter Konsens über die (Ver-)Teilung der politischen Macht und die Neutralität der militärischen Führung. Ohne einen Wandel der politischen Kultur wird es für das Land äußerst schwierig werden, die Gegner in der EU für eine Vollmitgliedschaft der Türkei zu gewinnen. Erst wenn es gelingt, eine echte und Gewalten teilende Demokratie zu etablieren, wird die Frage einer türkischen EU-Mitgliedschaft abschließend geklärt werden können.

Das Reformprogramm ist im Volltext derzeit nur in türkischer Sprache unter www.abgs.gov.tr zu erhalten. Eine offizielle Zusammenfassung gibt es auch in Englisch und auf Deutsch.


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