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Neue Weltordnung - Im Angesicht des Chaos

Rezension des neuen Kissinger-Buches „Weltordnung“ - von Werner Weidenfeld

Wie geht es weiter? Henry Kissinger liefert den Kompass für eine neue „Weltordnung“. Werner Weidenfeld hat das neue Buch des ehemaligen amerikanischen Außenministers gelesen.

Originalartikel auf tagesspiegel.de

12.11.2014 · Tagesspiegel



Die Welt ist aus den Fugen geraten. Sie brennt. Die Meldungen gewaltsamer Exzesse überschlagen sich geradezu. Die Zahl der Kriegsschauplätze wächst von Woche zu Woche. Terror wird zum Alltagserlebnis. Todbringende Epidemien lassen hilfesuchend nach international organisierten Therapiemaßnahmen rufen. Bei den Cyberwars weiß man nicht, wo der Feind sitzt. Die weltpolitische Architektur hat ihre Kalkulierbarkeit früherer Jahrzehnte verloren. In Zeiten des Ost-West-Konflikts waren die diversen Aktionsformen berechenbar. Die Ratio des Gegners war bekannt. Alles das, was orientierende Sicherheit versprach, ist in der multipolaren Welt voller asymmetrischer Kriegshandlungen verschwunden.

Von der neuen Intensität terroristischer Religionskriege über die armutsbedingten Transformationskonflikte bis zum Kampf um Rohstoff- und Energieversorgung – wie soll die demokratisch verfasste Welt damit umgehen? Wie soll sie ihren eigenen Überlebenskampf, ihre Daseinsvorsorge, ihren Schutz organisieren?

Strategische Extraklasse

Die westliche Politik antwortet auf diese Fragen mit situativem Krisenmanagement. Man fährt auf Sicht. Die Suche nach einem Kompass bleibt offenbar erfolglos. Da wird die Sehnsucht nach orientierendem strategischen Entwurf, das Verlangen nach strategischer Rationalität einer weltpolitischen Konfliktregelung geradezu dramatisch spürbar.

Auf der Suche nach einem strategischen Kompass, nach einer analytischen Orientierung ist die Erwartung nach Antworten aus der Feder eines Henry Kissinger in höchstem Maße ausgeprägt. Schließlich gehört er zu den ganz wenigen Spitzendenkern, die nach dem Zweiten Weltkrieg weltpolitisch relevante Perspektiven entwickelten. Da mögen noch George F. Kennan, Zbigniew Brzezinski, Sam Huntington, Joe Nye, Egon Bahr, Jacques Delors Erwähnung verdienen. Aber das war’s dann auch schon. Und Henry Kissinger gehört hier zudem in die Kategorie „strategische Extraklasse“. Kissinger hatte ja bereits auf sich aufmerksam gemacht, als er in Harvard lehrte. Dann wurde er Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten und dann Außenminister. Diese Amtszeit endete 1977, aber bis heute hält jede politisch interessierte oder politisch verantwortliche Runde den Atem an, wenn er die weltpolitische Lage erklärt. Sein strategisch- analytisches Talent lässt jeden heute aktiv verantwortlichen Außenminister gespannt sein auf seine Reflexion, auf seine politisch-kulturelle Erkenntnis, auf seine intellektuelle Originalität.

Vor diesem Hintergrund greift man besonders schnell zu seinem neuen Buch „Weltordnung“. Wenn doch die Welt sichtbar aus den Fugen geraten ist, dann will man wissen, wie diese weltpolitische Architektur wieder in Ordnung zu bringen ist und wie die vielen kriegerischen Konflikte zu regeln sind.

Neuer weltpolitischer Aggregatzustand

Henry Kissinger markiert die aktuelle Problemlage als den Ausgangspunkt seiner strategischen Nachdenklichkeit sehr präzise: „Unser Zeitalter sucht beharrlich und manchmal geradezu verzweifelt nach dem Konzept einer Weltordnung. Chaos droht, doch zugleich herrscht eine noch nie da gewesene Interdependenz: im Hinblick auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, den Zerfall von Staaten, die Auswirkungen der Umweltzerstörungen, die immer wieder begangenen Völkermorde und die Ausbreitung neuer Technologien, die es ermöglichen, Konflikte so weit zu eskalieren, dass sie unkontrollierbar und letztlich auch undurchschaubar werden.“ Er will eine Ordnung ausfindig machen, die von Menschen unterschiedlicher Kulturen und Traditionen akzeptiert wird. Seine Ambition fokussiert sich darauf, konzeptionell den Grundstein für eine zukünftig tragfähige friedliche Weltordnung zu legen. Kissinger wiederholt hier ein Grundmuster seines Denkens, das ihn seit Jahrzehnten begleitet: der „Westfälische Frieden“ (1648), die dort fixierte Gleichberechtigung der Staaten und die dort angestrebte „Balance of Power“ – alles das findet sich in seinem neuen Buch wieder: „Das heutige, nunmehr globale Westfälische System … ist darauf gerichtet, den an sich anarchischen Charakter der Welt durch ein umfangreiches Netz internationaler Rechts- und Organisationsstrukturen zu bändigen.“

Dies ist der Kern des strategischen Ansatzes Kissingers, auch wenn er sieht, dass dieses System von allen Seiten infrage gestellt wird – sogar der Kontinent, von dem er selbst stammt, tut es, wenn auch in einer geordneten Form: „Ein großer Teil Europas steht im Begriff, über das von ihm selbst entworfene Staatensystem hinauszugehen und durch gemeinschaftliche Souveränität, also durch einen Herrschaftsverband, zu ersetzen. Und obwohl Europa das Konzept des Mächtegleichgewichts erfand, schränkt es ironischerweise das Element der Macht seiner neuen Institutionen bewusst und weitgehend ein.“ Dem Strategen Kissinger hätte es aber doch nicht verborgen bleiben dürfen, dass im neuen weltpolitischen Aggregatzustand diese Integration, die mehrere Formen von Souveränität kombiniert, die Antwort auf die neuen machtpolitischen Gewichtungen der Welt-Architektur ist. Er hängt wohl zu sehr am Bild der traditionellen Nationalkulturen. So bleibt ihm in erster Linie ein langer Katalog von Fragen an Europa.

Lob für den Wiener Kongress

Sein Resümee lautet: „So befindet sich Europa in einer Schwebe zwischen einer Vergangenheit, die es überwinden will, und einer Zukunft, für die es noch keine Vision entwickelt hat.“ Und genau an diesem Punkt aber müsste der kreative Entwurf eines Henry Kissinger ansetzen.

Kissinger zögert keine Sekunde mit seinem Lob auf den „Wiener Kongress“ (1815): „Das Gleichgewicht der Kräfte war die herausragende Errungenschaft des Wiener Kongresses.“ Das entspricht genau dem intellektuellen Pulsschlag des Strategen Kissinger. Der Gedanke liefert für ihn seit langer Zeit das Muster zum Pro und Contra, zu den Errungenschaften und dem Versagen der internationalen Politik.

Aber wie kann ich das alles übersetzen in die Welt der Obamas, Putins und Hollandes, in die Transformationen Afghanistans, Syriens, Iraks, Ägyptens, Saudi-Arabiens? Wie kann ich das alles übersetzen in die Ära der Cyberwars oder in die Epoche neuer strategischer Partnerschaften Deutschlands mit Indien, Brasilien, China? Jenseits der großen historischen Entwicklungsbögen, die Kissinger feinsinnig analysiert, kommt er erst auf den letzten Seiten seines Buches zu der eigentlichen Frage, die uns unter den Nägeln brennt: „Und wie geht es weiter?“ Mit Recht hält er dazu fest: „Das Internationale System neu zu gestalten, stellt die Staatskunst unserer Zeit vor ihre größte Herausforderung.“ Das stimmt. Aber er selbst wirft dazu dann nur Fragen auf, deren Beantwortung er dringend einfordert. Dabei würde er selbst das gefährliche strategische Defizit der aktuell Verantwortlichen deutlich reduzieren, wenn er Antworten auf diese Fragen anbieten würde.

Henry Kissinger bleibt in seinem Buch „Weltordnung“ den ganz großen historischen Profilen seiner früheren Publikationen treu. Man ist beeindruckt von der subtilen, tiefen Kenntnis der Geschichte. Aber im Blick auf die aktuellen Abgründe der gegenwärtig aus den Fugen geratenen weltpolitischen Architektur ist man geneigt, ihm motivierend zuzurufen: „Henry, schreibe möglichst bald Band II deines Buches ‚Weltordnung‘. Wir brauchen handfeste strategische Antworten auf die existenziellen Herausforderungen unserer Tage. Wir sind immer noch auf der Suche nach der Bändigung kriegerischer Konflikte, nach dem Friedensmuster der Zukunft!“