Gesucht: ein Projekt
Wie Europa wieder den Glauben an sich selbst gewinnen u. sogar zu einer gemeinsamen Außenpolitik finden könnte
16.11.2006 · Süddeutsche Zeitung
In dieser Situation bleibt die zentrale strategische Frage zur Zukunft Europas unbeantwortet: Wozu neue Kräfte mobilisieren? Die Antwort erschließt sich bei einem Blick jenseits der Grenzen der Gemeinschaft: Es geht um die KraftEuropas in einer sich fundamental verändernden globalen Ordnung. Wenn Europa die Regeln der neuen Weltordnung mitgestalten will, muss es eine eigene Antwort auf die globalen Herausforderungen geben. Drei Ziele sind dabei von zentraler strategischer Bedeutung: Europa muss seine Institutionen effizient machen, es muss Weltpolitik mitgestalten, und es muss ein eigenes Selbstbewusstsein entwickeln.
Um effizient zu werden, braucht Europa eine neue Ordnung. Nach der Ablehnung des Verfassungsvertrags in zwei EU-Gründerstaaten dürfte ein weiterer Ordnungsversuch zum Scheitern verurteilt sein. Eine Vielzahl von Alternativen zum Verfassungsentwurf liegt zwar auf dem Tisch - doch keine davon erscheint erfolgversprechend. Wollte man am ursprünglichen Verfassungsvertrag festhalten, wäre mit einem zweiten Nein in Frankreich oder den Niederlanden zu rechnen. Die Alternative, wichtige Elemente aus dem Verfassungsvertrag einfach in die politische Praxis des geltenden Nizza-Vertrages zu übertragen, wird auf den Widerstand einzelner EU-Staatenstoßen. Die Option, einfach die wichtigsten Bestimmungen zu Entscheidungsprozessen und Grundrechten aus dem Nizza-Vertrag zu einer "gekürzten Verfassung" zu bündeln, wird in der Öffentlichkeit als Mogelpackung verstanden werden und ebenfalls scheitern.
Zielführender wäre es deshalb, den Kern der Verfassungsneuerungen in Form eines Änderungsvertrags zum Vertrag von Nizza in das geltende Recht zuübertragen. Aus dem provozierenden Großtitel der "Verfassung" würde ein bescheidener "Vertrag zum Vertrag von Nizza" gemacht, der das Votum der französischen und niederländischen Wähler nicht überginge. Damit wäre sichergestellt, dass ein Grundbestand der Reform umgesetzt wird.
Stabilität nach innen braucht auch eine Strategie nach außen. Europa kann es sich nicht leisten, bei der Gestaltung der wirtschaftlichen und politischen Ordnung der Welt abseits zu stehen. Es liegt im vitalen Interesse der Mitgliedstaaten, die EU mit den notwendigen Ressourcen und Instrumenten auszustatten, um den nationalen Gestaltungsverlust zu kompensieren und globale Verantwortung zu übernehmen.
Trotz der Erfolge vergangener Jahre sind sowohl die Außen- als auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der EU immer noch geprägt von unterschiedlichen nationalen Ansätzen. Diese Politik ist längst überholt. Wenn Europa seine Interessen in der Welt vertreten will, muss es seine Sicherheitspolitik bündeln. Am deutlichsten werden die Ansprücheausgedrückt, wenn sich Europa eine gemeinsame Armee schafft.
Integrierte Streitkräfte steigern die militärische Leistungsfähigkeit Europas und bringen die Staaten Europas sicherheitspolitisch näher zusammen als jemals zuvor. Die sicherheits- und verteidigungspolitische Verzahnung würde den Druck auf die Mitglieder erhöhen, intensiver strategisch zu denken und bei sensiblen außen- und sicherheitspolitischen Fragen mit einer Stimme zu sprechen. Europa wäreso in der Lage, im Konzert der internationalen Mächte eine verantwortungsvolle und selbstbewusste Rolle zu spielen.
Womöglich ist es für eine solche europäische Armee noch zu früh. Es sollte aber zumindest möglich sein, dass die kooperationswilligen und kooperationsfähigen Staaten auch ohne die Beteiligung aller EU-Länder voranschreiten. Eine besondere Verantwortung tragen dabei Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Die großen drei verfügen über die Fähigkeiten, ohne die eine europäische Streitkraft nicht verwirklicht werden kann.
Damit Europa seine Orientierungskrise überwinden kann, muss der Kontinent mehr Selbstbewusstsein entwickeln. Dazu braucht Europa zwei Dinge: mehr Politisierung und ein gemeinsames, sinnstiftendes Großprojekt. Politisierung bedeutet zum Beispiel, das Oppositionsprinzip als Lebensnerv eines jeden politischen Systems auch in der EU zu verankern. Politisierung bedeutet, dass Meinungsverschiedenheiten in der Europapolitik für die Bürger sichtbar ausgetragen und nationale politische Debatten europäisiert werden. Politisierung bedeutet schließlich auch Personalisierung - der Europawahlkampf kann dadurch dramatisiert werden, indem die Bürger durch die Wahl ihres Europaabgeordneten unmittelbaren Einfluss auf die Bestimmung des Kommissionspräsidenten nehmen können.
Europa benötigt außerdem eine einfache, aber überzeugende Antwort auf die Frage nach dem Zweck der EU. Europa muss als wirtschaftlicher, politischer und sicherheitspolitischer Akteur erkennbar werden, der in einem dynamischen Umfeld das Leben der Menschen positiv gestaltet. Am ehesten ließe sich dies durch ein ambitioniertes, aber realistisches Großprojekt verwirklichen, in dem die zentrale Idee des Europas der Zukunft zum Ausdruck käme. Vor einigen Jahren war dies der Binnenmarkt, nunkönnte es eine gemeinsame Wirtschaftsregierung, eine Sozialstaatsregelung oder eben eine europäische Armee sein.
Die innere und äußere Verletzlichkeit Europas legt es nahe, ein sicherheitspolitisches Großprojekt in Angriff zu nehmen. Wenn es gelänge, die EU bei innerer und äußerer, ziviler und militärischer Sicherheit zu einem Akteur zu machen, dann könnte der Mehrwert Europa für jeden einzelnen Bürger greifbar werden. Der epochale Beschluss zur europäischen Einigung vor 50 Jahren hat dem Kontinent Frieden und Wohlstand gebracht. Dieses Erfolgsprojekt lässt sich auch in globaler Perspektive denken.
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