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Suppe gegen soziale Kälte

Was hält die Deutschen zusammen? (Pressespiegel)

Kirchen, Gewerkschaften und Parteien leiden unter Vertrauensverlust. Doch es gibt neue Bindekräfte.

Autor: Matthias Gierth

05.08.2004 · Rheinischer Merkur



"Die Nation hat schlechte Laune“, schrieb der Schriftsteller Günter de Bruyn schon vor fünf Jahren in seinem Buch „Deutsche Zustände“. Und weiter: „Sie ist wieder vereint, aber nicht glücklich. Den Demokratien drohen die gemeinsamen Ideale und Leitlinien abhanden zu kommen, die auch für pluralistische Staaten notwendig sind. Bemühung darum ist wenig zu spüren. Die Parteiprogramme werden in Grundsatzfragen blasser und leerer. Laut artikulieren sich Gruppeninteressen, während die Gesamtheit kaum eine Lobby findet.“

Würde de Bruyn seine Diagnose heute erneut stellen müssen, sie fiele vermutlich noch weit schärfer aus. Die derzeitigen Gegensätze in Deutschland mögen im Vergleich zu den großen historischen Auseinandersetzungen wie den konfessionellen Konflikten von Reformation und Gegenreformation gering erscheinen – für sich genommen haben sie eine Schärfe erreicht, die der Frage nach dem Kitt unserer Gesellschaft hohe Dringlichkeit verleiht: Was hält uns zusammen? Welche Werte und Regeln gelten? Und: Wie lässt sich die Sprengkraft aufheben, zumindest abschwächen, die durch die Unterschiede zwischen Armen und Reichen, Kinderlosen und Eltern, Ossis und Wessis, In- und Ausländern entsteht?

Nun sind politische, soziale und kulturelle Konflikte in demokratischen und pluralistischen Gesellschaften ein allgegenwärtiges und unvermeidliches Phänomen. Letztlich kommt es auf den Umgang mit ihnen an. „Im positiven Fall“, so der Bielefelder Konfliktforscher Professor Wilhelm Heitmeyer, „führen Konflikte zu verändertem Problembewusstsein und sozialem Wandel, im negativen zur Verhärtung von Polarisierung und Gewalt.“

Tatsächlich ist es in der Geschichte der Bundesrepublik stets gelungen, die Einheit gefährdenden Konflikte wie die 68er Unruhen oder den Streit über Atomkraft und Nachrüstung in den siebziger und frühen achtziger Jahren friedlich zu lösen. Die besondere Herausforderung besteht heute darin, dass erstmals traditionelle Bindekräfte im Schwinden sind und neue erst entstehen.

Denn Organisationen, die den Ausgleich von Interessenskonflikten in den letzten Jahrzehnten gewährleisteten, haben erheblich an Kraft eingebüßt. Rein äußerlich zeigt sich dies im Mitgliederschwund, den Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen gleichermaßen erleben. Doch die Zahlen bestätigen nur einen inhaltlichen Befund: Das Vertrauen der Bürger in die Problemlösungsfähigkeit der Politik bricht weg. Damit aber, so hat es Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) kürzlich in der Dresdner Frauenkirche unterstrichen, „verschwindet das notwendige Engagement, verstärkt sich der Trend zu Personalisierung und Skandalisierung von Politik“.

Die Kirchen bieten ein ähnliches Bild. Der Wertekanon des Christentums mag von Fall zu Fall und nach persönlichem Nutzen – jüngstes Musterbeispiel ist die Bioethikdebatte – interessiert zur Kenntnis genommen werden. Als verbindlich eingestuft wird er mehrheitlich oft längst nicht mehr.

In der Sache bedeutet dies weder, dass damit Aufgabenstellung und Notwendigkeit traditioneller Bindeinstitutionen überholt wären. Im Gegenteil. Weil pluralistische Gesellschaften ohne fundamentalen Grundkonsens nicht lebensfähig sind, so werden Rechts- und Moralphilosophen wie etwa der Amerikaner John Rawls nicht müde zu betonen, sind die am politischen Betrieb Beteiligten, besonders herausgefordert: Ihnen obliegt es, die Bürger wieder für sich und die Sache der Demokratie zurückzugewinnen. „Kein gesellschaftlicher Zusammenhalt ohne Bekenntnis zum demokratischen Staat, ohne Respekt vor seinen Institutionen, ohne Interesse, ja Leidenschaft für die öffentlichen Angelegenheiten“, analysiert Thierse. Nur: Dies ist keine bloße Bringschuld der Bürger. Die Politiker sind selbst gefordert, aktiv zu werden.

Dies gilt ebenso bei den Kirchen. Die Basis unserer Ethik stellt – mehrheitliche Zustimmung hin oder her – weiterhin die jüdisch-christliche Überlieferung dar. Aus ihr speisen sich Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenwürde. Sie zu vermitteln setzt aber voraus, sich Andersdenkenden zu öffnen, den Dialog zu pflegen.

Angesichts des Bedeutungsverlustes traditioneller Bindekräfte führt indes kein Weg daran vorbei, die Suche nach neuen Formen aufzunehmen, in denen sich Gemeinsinn zeigt. Hier ist der Befund einigermaßen überraschend. Denn wenn es stimmt, dass, wie das Familienministerium auf seiner Homepage diagnostiziert, auch und gerade „bürgerschaftliches Engagement die Gesellschaft zusammenhält“, besteht zum Schwarzmalen für die Deutschen und ihre Konflikte wenig Anlass.

Erhebungen der letzten Jahre zeigen, dass sich 21,6 Millionen Bundesbürger – das sind 34 Prozent aller Einwohner ab 14 Jahren – in Verbänden, Vereinen, Projekten und Initiativen freiwillig für andere engagieren. Zwar gehen traditionelle Formen des Ehrenamtes wie im Vereinssport eher zurück. Doch zugleich entstehen andere Beteiligungsformen, etwa in Selbsthilfegruppen oder Sozialprojekten, die in ihrer Dauer begrenzt sind. International liegt Deutschland damit im Mittelfeld: In Großbritannien sind 48 Prozent der Bevölkerung freiwillig engagiert, in den USA gar 56 Prozent. Irland zählt 33 Prozent, Frankreich nur 19 Prozent.

Blickt man auf die Einsatzorte, betätigen sich allein rund 6,5 Millionen Deutsche in Kirchen und sozialen Einrichtungen. Gegensätze wie Arm und Reich werden damit gut erreicht. Natürlich kann eine Suppenküche in Berlin-Pankow Spannungen nicht aufheben. Aber sie wird mit dafür sorgen, dass Auseinandersetzungen nicht eskalieren, wenn das soziale Klima kälter wird.

An anderen neuralgischen Punkten der neuen Konfliktfelder fehlt es dagegen vielfach noch am Engagement. Wie sieht es etwa mit Ehrenamtlichen beim Einsatz für Eltern oder Kinderlose im Alter aus? Wie beim Engagement zur Überwindung des Gegensatzes zwischen Ost und West?

Vorsicht, warnt hier der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld, dessen Münchner Centrum für angewandte Politikforschung sich in Kooperation mit der Bertelsmann-Stiftung seit Jahren dem Thema Gemeinsinn und Gemeinschaftsfähigkeit in der Gesellschaft verschrieben hat: „Notwendig sind gesellschaftliche Anstrengungen, um diese Haltungen und Kompetenzen beim Einzelnen weiter anzuregen und zu fördern.“

Es wäre demnach gefährlich, die neuen Konflikte sich selbst zu überlassen. Zwar ist eine Trendwende beim bürgerschaftlichen Engagement nicht in Sicht. Jugendforscher diagnostizieren die „Entstehung einer Kultur der Gegenseitigkeit“. Wirtschaftsfirmen haben längst Anschluss an die Zivilgesellschaft gefunden, wenn sie soziale Projekte unterstützen oder ihren Mitarbeitern Anreize bieten, sich dort zu betätigen.

Auf den Nägeln brennt dagegen die Frage nach den Rahmenbedingungen, unter denen sich bürgerschaftliches Engagement künftig weiterentwickeln kann. Experten wie der Augsburger Sozialdezernent Konrad Hummel berichten immer häufiger von einer „zerknirschten Ehrenamtsszene“, die frustriert ist und von Appellen der Politik die Nase voll hat, die „nur ruft, weil die Kassen leer sind“. Und auf ein weiteres Problem weist Hummel hin: Die Kooperation zwischen Bürgerschaftsinitiativen untereinander wie zwischen kommunalen Einrichtungen und Freiwilligendiensten muss optimiert werden: „Versuchen Sie mal, das Sozialamt und die gemeindliche Armutsinitiative in ihren Ideen zusammenzubringen. Da liegen Lichtjahre dazwischen."


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