Deutscher Föderalismus
Vor der Herausforderung einer europäischen Verfassung
10.07.2003 · Aus Politik und Zeitgeschichte (B 29-30/2003)
Zeitgleich haben sich Bund und Länder im Dezember 2001 - vor dem Hintergrund der Neuregelung des Länderfinanzausgleichs und des Solidarpaktes II für die Jahre 2005 bis 2019 - darauf geeinigt, bis Ende 2004 eine grundlegende Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung ins Werk zu setzen. Um zunächst eine Überprüfung "der Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung und der Zuordnung der politischen Verantwortlichkeiten" durchzuführen, wurden ein Bund-Länder-Lenkungsausschuss "Föderalismusreform" sowie zwei Arbeitsgruppen "Finanzen" und "Innerstaatliche Kompetenzordnung" eingesetzt.[1]
Eine neue Qualität erhält dieser jüngste Anlauf zur innenpolitischen Reform des hochgradig (politik)verflochtenen und blockadeanfälligen föderalen Systems der Bundesrepublik dadurch, dass beide Arbeitsgruppen explizit aufgefordert sind, die "Auswirkungen der EU-Entwicklungen, insbesondere die Folgen des Vertrages von Nizza und die Arbeiten des EU-Konvents, einzubeziehen, um die Europatauglichkeit von Grundgesetz und bundesstaatlicher Ordnung zu prüfen und gegebenenfalls zu optimieren". Überdies sollen sie die "Konkordanz zwischen der innerstaatlichen Föderalismusreform und der europäischen Kompetenzdebatte" herstellen.[2]
Etwas überspitzt ausgedrückt ergibt es wenig Sinn, heute über Bundesstaatsreformen zu sprechen, ohne dabei die Rückwirkungen eines fortschreitenden Europäisierungsprozesses auf die deutsche föderale Ordnung in den Blick zu nehmen - eine Einsicht, die sich in der jahrzehntelangen Debatte über die deutsche Föderalismusreform gleichwohl erst allmählich durchzusetzen scheint. Zum einen ist es gerade die wirtschaftliche Integrationsdynamik des Binnenmarktes und der gemeinsamen Währung, die einen Bedeutungszuwachs der deutschen Länder und Regionen in Europa als Wirtschaftsstandorte bedingt. Um sich erfolgreich im internationalen Wettbewerb behaupten zu können, reichen aber die auf Landesebene noch zur Verfügung stehenden fiskalischen und administrativen Instrumente - wie regionale Wirtschaftsförderung, Infrastrukturpolitik, Bildungs- und Weiterbildungsangebote oder auch Innovationsstrategien - längst nicht mehr aus. Nötig ist vielmehr die Fähigkeit zu einem höheren Maß an rechtlicher Differenzierung auf Feldern wie der Steuer-, Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Industrie- und Standortpolitik. Dies setzt aber zunächst eine Stärkung der eigenständigen Legislativbefugnisse der Länder und damit einen deutlichen Abbau an Politikverflechtung voraus.
Zum anderen spiegelt aber die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes ohnehin nicht mehr die Realitäten unserer föderalen Ordnung wider. Durch den Prozess der fortschreitenden Europäisierung unseres politischen Systems existieren sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene kaum noch Aufgabenfelder, die nicht zumindest in irgendeiner Form durch europäisches Regieren beeinflusst werden. Das tatsächliche Potential für innerstaatliche Entflechtungsmaßnahmen zwischen Bund und Ländern hängt deshalb nicht zuletzt davon ab, ob die zulässige Reichweite und Eingriffstiefe europäischer Regulierungsbefugnisse möglichst klar begrenzt wird.
Im geltenden EU-Vertragswerk mit seinen an den Integrationszielen ausgerichteten Handlungsermächtigungen war dies bislang nicht der Fall. Damit konnte der europäische Einigungsprozess aber eine starke Zentralisierungsdynamik entfalten, von der die Länder besonders betroffen sind: In wachsendem Maße sind Aufgaben in ihrer Zuständigkeit, wie die regionale Wirtschaftsförderung, die Landwirtschafts- und Fischereipolitik, die Kultur-, Bildungs- und Ausbildungspolitik, der Umweltschutz, das Gesundheitswesen oder die Forschungs- und Technologiepolitik, von europäischen Regelungen erfasst worden. Selbst die Übertragung von Bundeskompetenzen bedeutet für die Länder Gewichtsverluste, haben sie dadurch doch in vielen Fällen ihre Mitwirkungsrechte über den Bundesrat verloren. Und schließlich haben die Belastung der Landesverwaltungen und deren Kontrolle durch Behörden der Bundes- und EU-Ebene stetig zugenommen, weil sie es sind, die aufgrund der funktionalen Aufgabenteilung im deutschen Bundesstaat auch für die Umsetzung eines Großteils des Gemeinschaftsrechts verantwortlich sind.
Um dieser als Gefährdung ihrer Eigenstaatlichkeit wahrgenommenen Entwicklung zu begegnen, haben die Länder frühzeitig Anpassungsstrategien entwickelt. Zunächst setzten sie auf "Kompensation durch Partizipation", indem sie ihre Kompetenzverluste primär durch verstärkte innerstaatliche Mitwirkungsrechte an der Europapolitik auszugleichen versuchten. Ausgelöst durch den Integrationsschub der Einheitlichen Europäischen Akte und des Programms zur Vollendung des Binnenmarktes Mitte der achtziger Jahre gingen sie dann dazu über, neben dem Ausbau ihrer innerstaatlichen Mitwirkungsbefugnisse verstärkt direkten Einfluss auf die europäischen Entscheidungsverfahren zu suchen. Dies geschah zum einen über die Einrichtung eigener Länderinformationsbüros in Brüssel. Den eigentlichen Durchbruch erzielten die Länder mit dieser Strategie aber 1992 durch die Einführung des neuen "Europa-Artikels" 23 in das Grundgesetz. Durch ihn wurden nicht nur deutlich erweiterte innerstaatliche Länderbeteiligungsrechte verfassungsrechtlich verankert, sondern zudem die Möglichkeit ihrer direkten Mitwirkung an Sitzungen des Ministerrates geschaffen. Zum anderen sind die Länder seit Mitte der neunziger Jahre im durch den Maastrichter EU-Vertrag geschaffenen Ausschuss der Regionen vertreten. Mit dem neuen "Europa-Artikel" wurde faktisch der deutsche Beteiligungsföderalismus auf EU-Angelegenheiten ausgedehnt und zugleich die Entscheidungslogik "doppelter Politikverflechtung" verfassungsrechtlich anerkannt, die charakteristisch für die Einbindung der Bundesrepublik in das europäische Mehrebenensystem ist.
Seit Mitte der neunziger Jahre zeichnet sich allerdings ein erneuter Kurswechsel in der Länder-Europapolitik ab, der als Übergang von Strategien des "let us in" hin zu einer Strategie des "leave us alone" bezeichnet werden könnte.[3] Gekennzeichnet ist diese neue Stoßrichtung, deren erster Erfolg in der Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in den Maastrichter EU-Vertrag bestand, durch die Betonung der Absicherung und des Ausbaus autonomer Handlungsspielräume gegenüber dem europäischen Gesetzgeber. Wie erfolgreich die Länder im Rahmen dieser neuen Strategie der Kompetenzbehauptung europapolitisches "Agenda-Setting" betreiben, zeigen die laufenden Beratungen über den künftigen EU-Verfassungsvertrag. Tatsächlich sah sich die deutsche Bundesregierung im Zuge der jüngsten Vertragsreform erst auf Druck von Länderseite dazu veranlasst, auf dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 die Aufnahme einer "Zukunftserklärung" in dem neuen Vertrag durchzusetzen. Dort wird als zentrales Länderanliegen unter anderem die Frage "einer genaueren, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechenden Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten" ganz oben auf die EU-Verfassungsagenda gesetzt.
Tatsächlich enthält der europäische Verfassungsentwurf, der auf dem Europagipfel von Thessaloniki am 20./21. Juni 2003 präsentiert wurde, einige konstitutionelle Neuerungen, die den Länderforderungen nach größeren autonomen Handlungsspielräumen zumindest entgegenkommen:[4]
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Zur Klärung der Kompetenzabgrenzung wird im künftigen EU-Verfassungsvertrag zwischen den Kategorien "ausschließlicher EU-Zuständigkeiten", "Bereichen geteilter Zuständigkeit" sowie reinen "Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen" der europäischen Ebene unterschieden.
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Der Wortlaut des Subsidiaritätsprinzips, das bei der Ausübung nicht ausschließlicher EU-Kompetenzen beachtet werden muss, wird präzisiert. Künftig darf die Union nur tätig werden, "insofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend erreicht werden können, und vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser erreicht werden können".
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Völlig neu ist schließlich der "early warning mechanism", der in dem neu gefassten "Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit" verankert ist. Jedes nationale Parlament oder jede Kammer eines nationalen Parlaments - im deutschen Fall also Bundestag und Bundesrat - soll nun innerhalb von sechs Wochen nach der Übermittlung eines Kommissionsvorschlages in einer begründeten Stellungnahme darlegen können, weshalb dieser Vorschlag nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist. Die Parlamente bzw. ihre jeweiligen Kammern können wiederum die regionalen Parlamente mit Legislativbefugnissen konsultieren. Äußern sich die nationalen Parlamente bzw. ihre Kammern mit mindestens einem Drittel ihrer Stimmen entsprechend, so muss die Kommission ihren Vorschlag überprüfen. Sollte sie dennoch bei ihrer ursprünglichen Position bleiben, so können die nationalen Parlamente/Parlamentskammern über ihren Mitgliedstaat eine Vertragsverletzungsklage beim Europäischen Gerichtshof anstrengen. Gleiches gilt künftig für den Ausschuss der Regionen, soweit es sich um Gesetzgebungsvorhaben der Kommission handelt, für deren Annahme seine Anhörung obligatorisch ist.
Welche innerstaatlichen Implikationen haben diese verschiedenen Ansätze zu einer stärkeren Betonung des Subsidiaritätsgedankens in der Kompetenzabgrenzung und -ausübung auf EU-Ebene nun für den deutschen Föderalismus? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst einmal die veränderte Ausgangskonstellation in den Blick genommen werden, die sich aus der deutschen Vereinigung bzw. den daraus resultierenden größeren Unterschieden in der ökonomischen Leistungskraft und den Wirtschaftsstrukturen der einzelnen Ländern ergeben hat. Besonders in verteilungs- und ordnungspolitischen Grundfragen der Europapolitik haben die Interessendivergenzen deutlich zugenommen. In Bereichen wie der europäischen Struktur- und Agrarpolitik, bei der Subventionskontrolle oder in der Wettbewerbspolitik stehen sich immer öfter das Lager der "großen Drei" - Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen - und die ostdeutschen Länder gegenüber. Während nun die Letztgenannten aufgrund ihrer geringeren Leistungsfähigkeit damit überfordert wären, vor allem kostenintensive EU-Aufgaben selbst zu übernehmen, bzw. massive finanzielle Einbußen fürchten müssten, liegt vor allem den großen und wohlhabenderen Ländern daran, ihre Konkurrenzfähigkeit im internationalen Standortwettbewerb durch die Rückgewinnung eigener legislativer Gestaltungsspielräume zu verbessern.
Es verwundert deshalb auch kaum, dass diese leistungsstärkeren Länder die treibende Kraft bei der Neuausrichtung auf die "leave us alone"-Strategie waren. Gerade für die dortigen Landesregierungen stellt sich die Europäisierung des deutschen Beteiligungsföderalismus über Art. 23 GG wegen seiner mühseligen Verfahrenswege und dem permanenten Abstimmungsbedarf mit den anderen Ländern zunehmend als "Sackgasse" dar.[5]
Potentiell sind es primär die größeren und wohlhabenderen, im internationalen Standortwettbewerb konkurrenzfähigen Länder, die den Hauptnutzen aus den zusätzlichen Kompetenzsicherungsmechanismen im künftigen EU-Verfassungsvertrag ziehen können. Dies setzt allerdings voraus, dass die durch diese Reformansätze zunächst nur für die nationale Ebene gewonnenen autonomen Handlungsspielräume im innerstaatlichen Bereich wenigstens teilweise auf die Länderebene transponiert werden. Das Interesse der leistungsstärkeren Länder an einer subsidiaritätskonformen Zuständigkeitsverteilung ist deshalb untrennbar verbunden mit ihren Bemühungen, in Deutschland die Bund-Länder-Beziehungen zu entflechten und Reformen in Richtung von mehr Wettbewerbsföderalismus durchzusetzen.[6]
Damit ist aber unmittelbar die Frage nach der "Europatauglichkeit" von Grundgesetz und bundesstaatlicher Ordnung angesprochen, die von den beiden Bund-Länder-Arbeitsgruppen zur deutschen Föderalismusreform beantwortet werden soll. Nicht zuletzt angesichts der wachsenden Bedeutung, die der regionalen Ebene - und damit auch den deutschen Ländern - im europäischen und internationalen Standortwettbewerb zukommt, dürften die absehbaren Ergebnisse des laufenden EU-Verfassungsgebungsprozesses den Reformdruck auf unseren Bundesstaat eher erhöhen. Mit der anstehenden EU-Systemreform verlagert sich dieser Handlungsdruck ein Stück weit von der europäischen Ebene in den innerstaatlichen Raum. In einem "Europa mit konkurrierenden Regionen" hängt die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands mehr denn je von einer stärkeren Ausrichtung am Leitbild des Konkurrenzföderalismus ab. Der bisherige Stand der Bund-Länder-Verhandlungen lässt allerdings kaum hoffen, dass dies bis 2004 gelingen wird.
* Thomas Fischer, Projektmanager, Themenfeld Internationale Verständigung, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.
Fußnoten
[1] Vgl. Top 2 "Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung" des Ergebnisprotokolls der Besprechung des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder am 20. 12. 2001 in Berlin.
[2] So wörtlich der Beschluss des Lenkungsausschusses "Föderalismusreform" vom 18. 4. 2002.
[3] Vgl. Charlie Jeffery, The Role of the Regions and Sub-National Units in the European Union: Mapping the Issues (Vortrag am Lincoln College Oxford, 28. 4. 2003, unveröfftl. Manuskript).
[4] Die folgenden Ausführungen beruhen auf dem überarbeiteten Entwurf des Konventspräsidiums vom 24. 5. 2003 für den ersten Teil des EU-Verfassungsvertrages, der künftig die zentralen konstitutionellen Bestimmungen enthalten soll. Vgl. Sekretariat des Europäischen Konvents, Übermittlungsvermerk des Präsidiums für den Konvent, Betreff: "Entwurf der Verfassung, Band I - Überarbeiteter Text von Teil I" (Conv 724/03 vom 24. 5. 2003).
[5] Vgl. Roland Sturm/Heinrich Pehle, Das neue deutsche Regierungssystem, Opladen 2001, S. 97.
[6] Vgl. Martin Große Hüttmann/Michèle Knodt, Die Europäisierung des deutschen Föderalismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52 - 53/2000, S. 31 - 38.