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Pro und Contra WikiLeaks - Was bringen die Enthüllungen?

Interview mit Werner Weidenfeld und Sascha Lobo

29.11.2010 · tagesschau.de



250.000 Dokumente aus US-Botschaften bei WikiLeaks - die Öffentlichkeit habe ein Recht auf Informationen, meint der Blogger und Autor Sascha Lobo. Veröffentlichungen wie diese könnten zu mehr Transparenz in der politischen Kommunikation führen. Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld warnt dagegen vor dem Verlust von Vertraulichkeit in den diplomatischen Beziehungen.

Was macht die jüngste WikiLeaks-Veröffentlichung so außergewöhnlich?

Werner Weidenfeld: Die Menge der veröffentlichten Geheimdokumente stellt eine tiefe Zäsur in den üblichen Kommunikationsabläufen dar. Ich gehe davon aus, dass es ähnliche Beurteilungen amerikanischer Politiker in den Archiven der Bundesregierung genauso gibt. Nun wird aber ein ganzes Archiv öffentlich. Die Profis, die solche Dokumente anfertigen und damit arbeiten, sind bisher von einem Raum der Vertraulichkeit ausgegangen. Der wird zerstört. Indiskretionen gehören zwar zum Alltag. In dieser mediatisierten Welt wird ja sehr vieles öffentlich, etwa aus dem Bundeskabinett, aus den Parteivorständen. Oft werden Indiskretionen sogar gezielt gelenkt. Nur bei WikiLeaks wird ja nichts gelenkt. Das ist eine Riesendampfwalze. 

Sascha Lobo: Diese Veröffentlichung ist in meinen Augen ein sehr starkes Symbol für Kontrollverlust. Damit will WikiLeaks sagen: Sogar diplomatisch vertrauliche Botschaften der USA, die extrem viel in Sicherheit investieren, sind nicht sicher. Die Welt soll sich davor fürchten, dass alle Informationen irgendwann an die Öffentlichkeit dringen können. An sich ist WikiLeaks ja keine umfassende technische Neuerung. Die Technologie ist zwar mitentscheidend, weil sie so einfach zu benutzen ist. Aber es geht hier um die klassische Indiskretion, den Verrat von Geheimnissen. Und dieses Instrument ist so alt wie Kommunikation selbst. Nur kann es über das Internet jetzt eine wesentlich größere Wirkung entfalten.

Hat die Öffentlichkeit ein Recht auf solche Informationen?

Weidenfeld: Nein. Im Gegenteil. Sie müssen in Demokratien verschiedene Formen der Kommunikation zulassen. Die Regierung etwa muss die Möglichkeit haben, bestimmte Dokumente als geheim zu kennzeichnen. Sonst würde sich ja die Kommunikation der Politik darauf beschränken, was sie sowieso öffentlich sagen wollen in Fernsehauftritten oder in Interviews. Damit wäre die Politik reduziert auf einen ganz minimalen Prozentsatz ihrer Kommunikation. Und das würde alle beschädigen.

WikiLeaks konnte bei den Afghanistan- und Irak-Dokumenten noch das Ethos einer Art Kriegsaufklärung hochhalte. Das ist aber bei diesen Dokumenten nicht der Fall. Im diplomatischen Dienst gehören solche durchaus subtilen, sensiblen Beurteilungen zum Kerngeschäft. Unter den Vorzeichen der Indiskretion sind die kaum mehr möglich.

Lobo: Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf mehr Informationen, als sie im Moment bekommt. Regierungen neigen offenbar dazu, Dinge im Geheimen zu besprechen, obwohl sie eigentlich in Volkes Auftrag handeln sollten. Dinge werden als geheim klassifiziert, auf die die Öffentlichkeit durchaus ein Recht hat. Zu dieser Kontrolle ist ja die freie Presse da. WikiLeaks ist eine Art Verlängerung der freien Presse in das Internetzeitalter – als Quelle für investigativen Journalismus. Nicht umsonst arbeitet WikiLeaks mit den renommiertesten publizistischen Organen weltweit zusammen.

Die andere Seite ist aber auch, dass es immer Dokumente gibt, die vielen Menschen schaden könnten, wenn sie an die Öffentlichkeit kommen. Die sehr feine Unterscheidungslinie ist da, wo konkret Menschenleben gefährdet werden durch eine Veröffentlichung.

Was sind die Folgen?

Weidenfeld: Die Diplomaten werden jetzt sicher erst einmal vorsichtiger kommunizieren. Und die Regierungen werden ihre Anstrengungen erhöhen, diese Art von Vorkommnissen künftig zu verhindern. Ich gehe aber davon aus, dass die Profis weniger erschüttert sind als die Öffentlichkeit, die zum ersten Mal mit diesem Ausmaß konfrontiert wird. Die Profis wissen natürlich, wieviel da aufgeschrieben wird. Ich kann mir  nicht vorstellen, dass Herr Westerwelle überrascht ist über so ein Urteil, das da über ihn abgegeben wird.

Lobo: Das Problem ist weniger ein Vertrauensbruch in den diplomatischen Beziehungen durch WikiLeaks. Sondern vielmehr, dass die USA offenbar einen vertraulichen Raum geschaffen haben, in dem viele Hunderttausend Leute mitlesen konnten. Da ist es nur eine Frage der Zeit, bis diese Daten an die Öffentlichkeit gelangen. Da liegt der Fehler. Es kann und es muss vertrauliche Gespräche geben. Aber in diesem Fall ist der  Systemfehler, so viele Menschen an diesen internen Informationen teilhaben zu lassen.

Was passiert, wenn diese Veröffentlichung kein Einzelfall bleibt?

Weidenfeld: Wenn die Frage permanent lautet, wie halte ich Vertraulichkeit aufrecht, wird die diplomatische Arbeit erschwert, ja unterlaufen. Im Zweifelsfall wird dann vermieden, eine Information schriftlich niederzulegen. Da hat niemand was von. Letztlich verfügt die Politik dann ja über immer weniger Informationen. Vertraulichkeit ist in der internationalen Politik unglaublich wichtig. Ich war zwölf Jahre Amerika-Koordinator. In dieser Zeit kam es zur deutschen Einheit, man musste sich mit ganz neuen Sachverhalten auseinandersetzen. Wenn das alles pausenlos in der Zeitung gestanden hätte, wäre etwas zusammengebrochen.

Lobo: Politik und politische Kommunikation könnten dazu gezwungen werden, transparenter und vielleicht sogar ehrlicher zu werden. Allein dadurch, dass man eine gewisse Angst davor haben kann, dass doch alles rauskommt. Das ist ein Nutzen, den auch die deutsche Öffentlichkeit davon haben könnte: Dass es künftig schwieriger wird, der Öffentlichkeit etwas vorzumachen. Der steht als anzustrebender Stern am Horizont. Und WikiLeaks hat einen Schritt in diese Richtung gemacht.

Die Interviews führte Claudia Witte, tagesschau.de