C·A·P Home > Aktuell > Interviews > 2007 > Globalisierung und Lateinamerika

Wer sich der Globalisierung verschließt, verliert

Chancen und Risiken für Lateinamerika - Interview mit Jürgen Turek

Anlässlich der Reise von Bundespräsident Köhler nach Lateinamerika sprach die Redaktion von dw-world.de mit Jürgen Turek, Leiter der Forschungsgruppe Zukunftsfragen und Geschäftsführer des C·A·P über Chancen und Risiken der Globalisierung.

Portugiesisch · Spanisch

08.03.2007 · dw-world.de



1. Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer der Globalisierung? Wo sehen Sie in dieser Einteilung die EU (speziell Deutschland) und Lateinamerika (besonders Brasilien)?

Gewinner der Globalisierung sind ganz allgemein die Länder und Gesellschaften, die sich an die Internationalisierung der sozio-ökonomischen Entwicklungen erfolgreich anpassen. Das bedeutet: die Wirtschaft und die staatlichen Regelungsinstitutionen müssen begreifen, wie sie in derinternationalen Arbeitsteilung funktions- und wettbewerbsfähig bleiben oder werden. Die muss ganz praktisch herunter gebrochen werden auf betriebliche Strukturen, sozial-politische und tarifliche Regelungen oder Megathemen wie Migration. Die Länder der EU inklusive Deutschland haben dies unterschiedlich gut hingekriegt. Länder wie Schweden oder Finnland stehen besser dar als Deutschland oder Frankreich. Wenn man hier mit dem Finger auf Deutschland zeigt,darf man aber die deutsche Vereinigung nicht übersehen. Diese Entwicklungsproblematik hat nur unser Land. Verlierer sind diejenigen Länder, die Globalisierung ignorieren oder verteufeln und dementsprechend so tun, als ginge das Leben ebenso weiter wie in Zeiten des Ost-West-Konflikts. Mit Blick auf die wirtschaftliche Integration Lateinamerikas im Rahmen des Mercosur und der nationalstaatlichen Anstrengungen sehe ich dort wie in Europa ebenfalls unterschiedlich ausgeprägte Anpassungsprozesse. Mit Blick auf die fundamentalen Daten beim Wirtschaftswachstum, der Inflation, des Budgetdefizits und der Leistungsbilanz steht Brasilien hier zumindest wirtschaftlich sicherlich robuster da als andere Länder.

2. Jahrzehnte lang haben die westlichen Industrieländer – darunter auch Deutschland - die Globalisierung mit Nachdruck vorangetrieben. In letzter Zeit hat man den Eindruck, dass die EU bzw. Deutschland z.B. beim den WTO-Verhandlungen auf die Bremse treten. Warum diese Wandlung?

Das Stocken der WTO-Verhandlungen hat meines Erachtens im Grunde wenig mit der Globalisierung zu tun, sondern muss als Wirkungsmacht mächtiger Interessensgruppen insbesondere im Agrarbereich gesehen werden. Aber wenn auch die Doha-Runde als gescheitert angesehen werden muss, so bin ich doch zuversichtlich, dass die Verhandlungen wieder in Gang kommen. Ein liberalisierter Weltmarkt dient letztendlich allen, insbesondere den Entwicklungs- und Schwellenländern. Wenn man den Eindruck hat, dass es in der Globalisierung in diesem Sinne hakt, dann erkennt man im Grunde lediglich, dass man sich über bestimmte Regulierungskonsequenzen dieses Prozesses nicht klar oder einig ist.

3. Ist eine gerechte Globalisierung - wie Sie auch von Bundespräsident Köhler vertreten wird - überhaupt möglich?

Ja, warum nicht? Dies heißt aber wie etwa im eben genannten Bereich der WTO-Verhandlungen, dass man möglichst ausgewogen gibt und nimmt. Im Bereich der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung machen uns darüber hinaus zurzeit China, Indien oder Brasilien vor, wie man aus eigener Kraft von der Globalisierung profitiert. Hierbei handelt es sich um Länder, die nicht nur eine ungeheure wirtschaftliche Dynamik mobilisieren können, sondern auch in den internationalen Gremien selbstbewusst ihre eigenen Interessen vertreten und nicht vom guten Willen anderer abhängig sind.

4. Können Globalisierungsgegner wie Attac diesen Prozess wirklich beeinflussen?

Solche Gruppen haben in der Tat einen gewissen Einfluss. Sehen Sie nur, wie stark etwa der Widerstand von gebündelten Globalisierungsgegnern gegen das Ministertreffen der WTO Ende 1999 in Seattle war. Da kamen dieStreitigkeiten der Minister und die vor allem über das Internet organisierten Proteste dieser Gruppen und einer stark mobilisierten Öffentlichkeit zusammen. Das Treffen scheiterte.

5. Wie hat Lateinamerika - und hier besonders Brasilien - von der Globalisierung profitiert? Hat die Region/das Land den Zug verpasst?

Die Länder Lateinamerikas profitieren dann genauso wie der Rest der Welt von der Globalisierung, wenn sie sich sozio-ökonomisch geschickt anpassen und sich nicht abschotten. Für Brasilien gilt: Das Land ist heute die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt. Zusammen mit Russland, Indien und China gilt das Land als kommender wichtiger Player auf dem Weltmarkt. Mit innovativen Konzepten etwa auf dem Kraftstoffsektor und dem Nuklearsektor schließt das Land auf. Die relativ guten Wachstumsraten der letzten Jahre, steigende Exporterlöse auf den Rohstoffmärkten und anschwellende Devisenreserven zeigen an, dass sich die brasilianische Volkswirtschaft offensichtlich agil in der Weltwirtschaft bewegt. Es bleiben soziale Probleme. Trotz zahlreicher sozialer Programme leben etwa 35 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Hier aber gilt: die Anpassung an die Globalisierung beinhaltet auch, dass nicht nur die Wirtschaft sondern auch die Bevölkerung durch Bildung, soziale Inklusion und Akzeptanz an diesen Prozess herangeführt werden muss. Und dies kann nur mittel- und langfristig geschehen, muss aber in jedem Land, so auch in Brasilien, irgendwann systematisch in Angriff genommen werden.


News zum Thema


Pandemie: „Wir müssen jederzeit mit Seuchen rechnen“
Der Münchner Zukunftsforscher Jürgen Turek will herausfinden, wie Corona unser künftiges Leben beeinflussen wird.
09.12.2020 · Augsburger Allgemeine

Globalisierung im Zwiespalt
Die postglobale Misere und Wege, sie zu bewältigen. Das neue Buch von Jürgen Turek.
22.03.2017 · C·A·P

no-img
Countdown: Hat die Erde eine Zukunft?
Eine Rezension von C·A·P-Fellow Jürgen Turek
03.09.2014 · C·A·P

Europäische Wettbewerbsfähigkeit
Ein Beitrag von Jürgen Turek
09.10.2013 · C·A·P

2052: Eine globale Prognose für die nächsten vierzig Jahre
Rezension von Jürgen Turek
27.03.2013 · Forschungsgruppe Zukunftsfragen