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Ungarn und die Europäische Union – eine schwierige Partnerschaft?

C·A·P-Kolloquium mit Prof. Andras Inotai

09.11.2012 · C·A·P



Seit Mai 2010 verfügt die Fraktionsgemeinschaft der konservativen Fidesz-Partei und der KDNP unter Ministerpräsident Viktor Orban über eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament. Die europäische Öffentlichkeit und Politik verfolgte mit Sorge die Entwicklungen des ungarischen Rechtsstaats und die nationalistischen Positionierungen der ungarischen Regierung seitdem.  In seinem Vortrag im Rahmen des C·A·P-Forschungskolloquiums beleuchtete Andras Inotai, Research Professor des Instituts für Weltwirtschaft an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest, einige Facetten der Beziehungen zwischen Ungarn und der EU.  Er ging auf die Krise und die Krisenbehandlung in der europäischen Integration und auf die integrationsbezogenen Tätigkeiten der gegenwärtigen ungarischen Regierung ein.


Prof. Andras Inotai und Prof. Werner Weidenfeld

Professor Inotai zog nach acht  Jahren der Vollmitgliedschaft Ungarns zur Europäischen Union eine gespaltene Bilanz.  Zum einen seien die Vorbereitungen Ungarns auf dem wirtschaftlichen Gebiet zu loben, allerdings sei die Vorbereitung der ungarischen Öffentlichkeit zu kritisieren. Es wurde nicht ausreichend vermittelt, welche Rechte und Pflichten mit dem Beitritt einhergingen. Zum anderen muss die Strategielosigkeit der ungarischen Regierung, den Nutzen der Vollmitgliedschaft im Vollen auszuschöpfen, kritisch bewertet werden. Die wirtschaftliche Integration in den EU-Binnenmarkt brachte eine dynamische Zunahme des Handels mit sich, so dass Ungarn 2011 sogar einen Handelsüberschuss verzeichnen konnte. Die im ersten Halbjahr 2011 von Ungarn übernommene Teilratspräsidentschaft war gut organisiert, allerdings überschattet von Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Orban, der einen Vergleich zwischen den Strukturen der Europäischen Union und des sowjetischen Systems zog und betonte, dass es auch ein Leben außerhalb der EU gäbe.

Mit Blick auf die Europäische Union erkannte Inotai ein Versäumnis nach der Erweiterung um die ostmitteleuropäischen Staaten 2004 bzw. 2007: Die geographische Ausdehnung der Europäischen Union sei nicht einhergegangen mit einer strategischen Neuausrichtung, die der Perspektive der Neumitglieder Rechnung trug.  Die geographischen Prioritäten der EU hätten sich nicht angepasst, kleinere Ansätze ausgenommen, wie beispielsweise die Donaustrategie. Als Gründe für die fehlende ausbalancierte Zukunftsstrategie nannte Inotai zum einen den Umstand, dass der Beitritt nicht auf gleichberechtigten Verhandlungen basierte, sondern als Akzeptanz der EU-Klubregeln durch die Neumitglieder von statten ging. Zum anderen gab es kaum erwähnenswerte regionale  Zusammenarbeit der Beitrittskandidaten, die den Wert der Kooperation höher schätze als den Wettbewerb um EU-Gelder und ausländische Investitionen.

Unzweifelhaft eröffne die Zweidrittelmehrheit für die Regierung Orban einen enormen Spielraum. In gewisser Weise könne man sagen, so Inotai,  dass Viktor Orban einen ungarischen „Freiheitskampf gegen den Rest der Welt führt“. Dabei verkenne er die Realitäten, die sich zum Beispiel durch den prozentuellen Wert des ungarischen BSP (0,16 Prozent) am weltweiten BSP festmachen ließen. Unbeachtet der europäischen Bindung des Landes, wendet sich Ungarn dem asiatischen Raum zu und sieht u.a. China und Aserbaidschan als wirtschaftlich gleichberechtigte Kooperationspartner an.  Die Europäische Union werde von der ungarischen Regierung ungeachtet der Tatsache, dass Ungarn in dem Zeitraum 2007-13 als zweitgrößter Nutznießer der EU-Fondshilfen zählt, als Feind mit kolonialer Einstellung bezeichnet. Bedauerlicherweise würde ein Teil der Bevölkerung diese Meinung teilen. Inotai charakterisierte die Reaktion der EU und seiner Institutionen als eine „Politik des Schweigens“ – sie schwiegen über die ungarische Politik, auch wenn diese die europäischen Werte und demokratischen Spielregeln verletze. Dabei wird die Glaubwürdigkeit der EU-Integration aufs Spiel gesetzt. Auf die Frage, ob 2014 ein Regierungswechsel möglich wäre, verwies Inotai auf die diskreditierte sozialdemokratische Opposition, allerdings auch auf neue politische Bewegungen. Für diese wäre es bis zu den Wahlen noch möglich, eine neue politische und moralische Erneuerung der Opposition zu schaffen. Es bleibt Ungarn zu wünschen, dass die von Orban betriebene Spaltung der Gesellschaft eine kurze Episode bleibt.


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