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Das Bundesverfassungsgericht im politischen System

Präsident des Bundesfinanzhofes, Prof. Rudolf Mellinghoff, zu Gast im C·A·P-Kolloquium

03.05.2012 · C·A·P



Die Vorwürfe einer Politisierung des Bundesverfassungsgerichtes, dem „richterlichen Aktivismus“, sind ähnlich alt, wie das Gericht selbst. So teilte der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer im Nachgang zum Rundfunk-Urteil (1961) im Bundestag mit: „Das Kabinett war sich darin einig, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts falsch ist.“ Derber fällt hingegen eine Äußerung aus, die abwechselnd Herbert Wehner und Horst Ehmke zugeschrieben wird: Man lasse sich doch von „diesen acht Arschlöchern in Karlsruhe nicht die Ostpolitik kaputt machen.“ Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff, ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts bevor er als Präsident an den Bundesfinanzhof zurückkehrte, führt das Spannungsverhältnis von Bundesverfassungsgericht und Politik auf die Stellung des Gerichts im Machtgefüge der Bundesrepublik Deutschland zurück.


Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff und Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Weidenfeld

Das Verhältnis von Recht und Politik ist weniger durch eine häufig vermutete Grenze charakterisiert, sondern vielmehr durch den fließenden Übergang. Für Mellinghoff sind sie „unterschiedliche Aggregatszustände“ derselben Materie: „Das Recht ist die Politik von gestern und die Politik von heute ist das Recht von morgen.“ Allerdings besteht ein grundsätzlicher Unterschied in der jeweiligen Funktionslogik beider Bereiche. Während Politik Macht durch Mehrheit unter Berücksichtigung subjektiver Interessen darstelle, beruhe die Rechtsprechung ausschließlich auf juristischen Argumenten. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts seien jedoch häufig politisch, weil sie sich mit Streitigkeiten der Verfassungsorgane oder von Bund und Ländern, sowie der Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns gegenüber den Bürgern auseinandersetzen. Damit werden staatliche Kompetenzausübung und politische Macht durch die Rechtsprechung beeinflusst.

Mellinghoff, der dem höchsten deutschen Gericht von 2001 bis 2011 angehörte, verweist aber auch auf die häufigen Fallgestaltungen, die eine Abwägung unterschiedlicher Rechtsgüter – etwa konfligierende Grundrechtspositionen – erforderlich machen. Als plakatives Beispiel dafür nannte er den Rechtstreit über die Veröffentlichung der „Paparazzi-Fotografien“ von Prinzessin Carolin von Monaco. Hierbei waren unter anderem die Persönlichkeitsrechte von Personen der Zeitgeschichte gegen die Presse- und Meinungsfreiheit abzuwägen.


Der Steuer- und Verfassungsrechtsexperte Mellinghoff berichtete aber auch davon, dass die Tätigkeit als Richter eine erhebliche persönliche Belastung sein kann. Dazu gehören insbesondere die schwerwiegenden Entscheidungen die einen direkte Machtausübung auf das Leben anderer Menschen darstellen, etwa wenn es um Begnadigungen oder das Recht auf Abtreibung ginge. Susanne Ulrich, Leiterin der Akademie Führung & Kompetenz, konnte diese Einschätzung bestätigen. In ihren Toleranz-Seminar macht sie immer wieder die Erfahrung, dass im Verlauf von Simulationen eine derartige Güterabwägung die Teilnehmer extrem fordere. Mellinghoff, der vor seiner Tätigkeit am Bundesverfassungsgericht und Bundesfinanzhof bereits als Richter bzw. Vorsitzender Richter am Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern war, spricht aber auch die hohe Arbeitsbelastung der Verfassungsrichter an. In den letzten Jahren, in denen er gleichzeitig zwei Kammern des Gerichts angehörte, habe er circa 2.000 Entscheidungen jährlich unterzeichnen müssen und nur ein kleiner Teil davon seien schwerwiegende verfassungsrechtliche Fragen gewesen. Vielfach ginge es auch eher um geringfügige Sachverhalte. Etwa darum, ob ein Häftling im Strafvollzug eigene, also private Handtücher benutzen dürfe, oder nicht. Oder um die Frage, ob ein Lehrer an einer Volkshochschule seine Schüler Duzen darf.

Die Klageflut, die täglich auf das Bundesverfassungsgericht hereinbricht, führt er auf drei Faktoren zurück. Zum einen seien die Deutschen im internationalen Vergleich relativ streitlustig und ließen viele Fragen von den Gerichten entscheiden. Zudem werde das Bundesverfassungsgericht zunehmend von der parlamentarischen Opposition als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ genutzt. Drittens führe aber auch die zunehmende Verrechtlichung der gesellschaftlichen Verhältnisse aufgrund der Quantität der Rechtsetzung, oftmals aber auch aufgrund der Qualität, zu einer höheren Anzahl von gerichtlichen Verfahren.

Eine starke Gerichtsbarkeit ist für einen materiellen Rechtsstaat trotzdem unerlässlich. Die nahezu einmalige Machtfülle des Bundesverfassungsgerichtes leitet Mellinghoff vor allem aus der jüngeren deutschen Geschichte ab. Er betont dabei aber noch einmal, dass das Verfassungsgericht ein ausschließlich richterliches Mandat und kein politisches habe. Eine strikte Trennung von Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit kann es aber dennoch nicht geben.