C·A·P Home > Aktuell > Events > 2012 > Afghanistan und Pakistan

Afghanistan: „Ein militärischer Sieg ist mit den gegebenen Mitteln nicht möglich“

Dr. Michael Koch zu Gast beim C·A·P-Forschungskolloquium

10.12.2012 · C·A·P



Am 27. November durfte das Plenum des C·A·P-Forschungskolloquiums den Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, Botschafter Dr. Michael Koch, zu einem Vortrag über die aktuelle Lage in Afghanistan begrüßen. Vor seiner Tätigkeit als Sonderbeauftragter der Bundesregierung war Dr. Koch unter anderem Leiter des Arbeitsstabes Zukunftsperspektiven des Auswärtigen Dienstes, Leiter des Ressorts Politik der Botschaft Neu-Delhi, Leiter des Sonderstabes Afghanistan im Auswärtigen Amt und zuletzt Botschafter in Pakistan. Aufgrund seiner Sozialisation in einer Diplomatenfamilie war für ihn schon früh der Gedanke des Dienstes am Lande von großer Bedeutung für sein berufliches Selbstverständnis.


Dr. Michael Koch und Prof. Dr. Werner Weidenfeld

In seinem sehr engagierten Vortrag umriss Dr. Koch die außenpolitische Strategie der Bundesregierung, die aktuelle Situation in Afghanistan sowie Zukunftsperspektiven bis zum Abzug der ISAF-Mission 2014 und über das andauernde deutsche Engagement über 2014 hinaus.

Zunächst umriss Dr. Koch die historischen Rahmenbedingungen der Intervention in Afghanistan. Kurzfristiges Ziel des Einsatzes war es, als Reaktion auf die Terroranschläge vom 9. September 2001, terroristische Tätigkeiten von afghanischem Boden aus zu unterbinden und die angestrebte Stabilität nachhaltig zu machen und zu verstetigen. In diesem Zusammenhang unterstrich Dr. Koch sein Credo von internationaler Politik in einer globalisierten Welt: Wir können auf dieser Welt keinen rechtsfreien Raum mehr dulden. Als minimale Anforderung des internationalen Einsatzes in Afghanistan nach den Anschlägen des  11. Septembers galt es, eine afghanische Staatlichkeit zu schaffen, die zum einen ein Grundmaß an staatlicher Funktionalität gewährleisten kann und zum anderen über  innere Legitimität gegenüber seinen Bürger verfügt. Diese Mission des state-building als Mittel zur Erreichung eines sicherheitspolitischen Ziels, aufbauend auf einem grundsätzlich als gegeben erachten Reformwunsch der afghanischen Bevölkerung wurde jedoch in der Öffentlichkeit vielfach als die militärische Absicherung einer entwicklungspolitischen Initiative verstanden. In beiden Varianten wird es nicht darum gehen, vor dem Abschluss von ISAF alle Sicherheitsherausforderungen abschließend zu lösen – vielmehr muss es darum gehen, handlungsfähige afghanische Sicherheitskräfte so auszubilden, dass diese erfolgreich diese Aufgabe von ISAF übernehmen können. 

Im Folgenden legte Dr. Koch einige aktuelle Statistiken und Erkenntnisse dar, die das oftmals sehr negative Bild des Einsatzes in der deutschen Presse relativierten. Im Gebiet des deutschen Regionalkommandos im Norden seien die sicherheitsrelevanten Zwischenfälle im Vergleich zu 2011 um 25 Prozent zurückgegangen. 75 Prozent  der Afghanen leben gemäß der inzwischen umgesetzten dritten (von insgesamt fünf) Phase  der sogenannten Transition der Sicherheitsverantwortung von ISAF auf die afghanischen Sicherheitskräfte in Gebieten unter afghanischer Verantwortung. Allerdings ist die Zahl der Opfer bei den afghanischen Sicherheitskräften auch deswegen deutlich gestiegen. Politisch ist ein sinkender Zuspruch für die Regierung Karzai zu attestieren. Dies resultiere laut Koch allerdings nicht aus Modernisierungswiderständen der Bevölkerung, sondern vielmehr eher aus Enttäuschung über die politischen Reformergebnisse ihrer Regierung.

Der Taliban repräsentierten demgegenüber weiter nur eine kleine Minderheit, die sich vor allem durch aus Modernisierungsfeindschaft, dem Wunsch nach einer islamistischen Wiederbelebung und pashtunischem Nationalismus motivierten; gleichzeitig spiegle sich in der Praxis der Taliban auch die allgemeine Bereitschaft zur Gewaltanwendung als Mittel der Konfliktlösung in ständig wechselnden Formationen und Führungsstrukturen völlig unabhängig von irgendwelchen ideologischen Kontexten.

Auch entwicklungspolitisch zeichnete Koch ein differenziertes Bild. Das BIP beläuft sich 2012 auf etwa 19 Mrd. US$ (2001: 4 Mrd. US$). Afghanistan verfüge über Verfassungsorgane, auch wenn Teile des Staates korruptionsanfällig seien. Millionen von Flüchtlingen seien nach Afghanistan zurückgekehrt; wesentliche Infrastrukturvorhaben erfolgreich zu Ende gebracht worden.

Deutschland als durchwegs herausragender Akteur in Afghanistan komme bei der Lösung dieser Herausforderungen eine zentrale Rolle zu, da es einer der wichtigsten wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Partner für das Land und in dieser Region historisch nicht vorbelastet ist. Zudem drückt schon die Einrichtung der Position des Sonderbeauftragten der Bundesregierung die besondere Entschlossenheit der Regierung aus, aktiv an nachhaltigen Lösungen für Afghanistan mitzuwirken. Die deutschen Streitkräfte genießen im Einsatzgebiet ein hohes Maß an Vertrauen.

Als Ausblick beschrieb Dr. Koch die Pläne der internationalen Gemeinschaft für ein Afghanistan nach 2014. Nach der geordneten Übergabe der Sicherheitsverantwortung an Afghanistan bis Mitte 2013 soll ab 2015 ein neues Post-ISAF Mandat, das die Ausbildung und Beratung der afghanischen Armee zum Ziel hat, vereinbart werden. Die EUPOL-Mission soll fortgeführt werden. Das entwicklungspolitische Engagement hingegen soll einstweilen „asynchron“, „auf gleicher Höhe“ wie bisher fortgesetzt werden (16 Mrd. $ bis 2016), also nicht im Gleichkang mit dem militärischen Engagement reduziert werden, sondern erst zeitversetzt später. Somit wird das internationale Engagement 2014 nicht beendet, aber nachdrücklich ziviler werden. Auf diplomatischer Ebene sieht Dr. Koch vor allem zwei grundsätzliche Entwicklungen für eine positive Entwicklung im Land: 1. Der Abschluss von starken bilateralen Abkommen (unter anderem auch bereits mit Deutschland) und 2. Die Förderung von multilateraler Einbindung und insbesondere regionaler Integration im Rahmen des sog. „Heart of Asia“-Prozesses. Bisher fehlen in Zentralasien dauerhafte regionale Kooperationsbemühungen als Garant für Stabilisierung und wirtschaftlicher Zusammenarbeit.

Wichtig sei es jedoch, dass sich die Geberstaaten  als Helfer zur Selbsthilfe begreifen und afghanische ownership respektiert werde. Dies gelte auch für eine besonders wichtige Aufgabe  – die politische Versöhnung, also der  nationale Dialog zur Einigung des Landes unter Einbeziehung der Insurgenz. Eine Talibanherrschaft wurde von Dr. Koch als unrealistisches Szenario betrachtet. Es gilt die Tatsache zu nutzen, dass sich die Weltgemeinschaft im Falle Afghanistan einig wie selten zuvor ist.

In der anschließenden Diskussion diskutierten die Teilnehmer die zahlreichen weiteren Aspekte des Konflikts. So etwa die besondere Stellung des Iran, die historische Verbundenheit von Deutschland und Afghanistan, die religiöse Dimension des innerafghanischen Konflikts, die grundlegende Veränderung von Konflikten im 21. Jahrhundert, die Haltung europäischer Länder sowie die Problemkomplexe Drogenhandel und Warlordismus. Dr. Koch schloss die angeregte Diskussion mit folgender Bemerkung: „Aus dem Afghanistaneinsatz können wir in positiver und negativer Hinsicht viel für die Konfliktstrukturen der Zukunft lernen. Eines ist jedoch sicher: Das deutsche Engagement ist auch ein Beispiel für beispielhafte transatlantische Kooperation auf höchstem Niveau.“