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Deutschland-Dialog: Ein Jahr große Koalition

Zwischen Kooperation und Positionierung im Parteienwettbewerb

06.11.2006 · Forschungsgruppe Deutschland & KAS



Der Ausgang der Bundestagswahl 2005 hat auch viele professionelle Politikbeobachter überrascht. Seither wird darüber diskutiert, wie groß die Kluft zwischen Meinungsführern und breiter Bevölkerung hinsichtlich der anstehenden Reformaufgaben tatsächlich ist. Die Parteien sehen sich in diesem Zusammenhang vor eine doppelte Herausforderung gestellt: Sie müssen nicht nur zukunftsfähige Politikkonzepte entwickeln, sondern ihre programmatischen Angebote auch überzeugend vermitteln. Die Positionierung von Union und SPD im Parteienwettbewerb wird noch dadurch erschwert, dass die beiden Volksparteien eine Regierungskoalition bilden.

Ein Jahr nach Amtsantritt der Großen Koalition stellt sich damit auch die Frage nach den Konsequenzen des Machtwechsels. Um diese zu diskutieren, luden das Centrum für angewandte Politikforschung (C·A·P) und die Konrad-Adenauer-Stiftung Experten aus Wissenschaft, Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Medien am 26. und 27. Oktober zum Deutschland-Dialog 2006 nach München ein. In vier Panels wurden Trends der Bundespolitik präsentiert. Darüber hinaus bot das Programm Raum für einen intensiven Meinungsaustausch abseits der Tagespolitik.


Dr. Mark Speich, CDU/CSU Bundestagsfraktion, Dr. Manuela Glaab, Leiterin der Forschungsgruppe Deutschland am C·A·P, Vito Cecere, Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

Prof. Dr. Manuel Fröhlich (Friedrich-Schiller-Universität Jena) bestätigte den Befund einer Kluft zwischen Eliten und Bevölkerung in Deutschland. Zwar werde der Eliten-Begriff inzwischen allgemein akzeptiert, doch stiegen auch die Erwartungen an das politische und sonstige Führungspersonal rasant an: Anstelle der Frage nach der Legitimität von Eliten sei in einer durch "Benchmarking" geprägten Zeit die Frage nach ihrer Effizienz getreten. Dadurch bestehe, so Fröhlich, die Gefahr einer Konzentration auf Darstellungspolitik bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Inhalte. Getrieben durch permanente Meinungsumfragen würden Politiker Effizienz und Performanz einseitig in den Vordergrund stellen, so dass die Entfremdung vom Wähler noch befördert würde. Unter den Negativfolgen dieser Distanz bildeten fehlerhafte Wahlprognosen nur die "Spitze des Eisbergs".

Dagegen verteidigte Hartmut Kistenfeger (FOCUS Magazin, München) die Medienberichterstattung im Bundestagswahlkampf 2005. Meinungsumfragen zur Parteipräferenz und Popularität von Politikern würden nach wie vor stark nachgefragt. Allerdings unterlagen die demoskopischen Befunde im vergangenen Herbst einer außergewöhnlichen Belastung, da die Unentschlossenheit unter den Wählern bis kurz vor dem Wahltermin zugenommen, die Mobilisierungskraft der Parteien dagegen abgenommen habe. Zudem seien die vor der Bundestagswahl zuletzt veröffentlichten Zahlen mehr als eine Woche alt gewesen. Erst im Nachhinein hatten die Meinungsforschungsinstitute erklärt, dass ab Mitte der Wahlwoche ein positiver Trend für die SPD aus den Daten ablesbar war.

Welche Bedeutung programmatischen Positionierungen angesichts dieser Tagesfixierung im Parteienwettbewerb überhaupt noch zukommt, stand im Mittelpunkt des zweiten Blocks der Veranstaltung. Prof. Dr. Dr. Karl-Rudolf Korte (Universität Duisburg-Essen) widmete sich zunächst der Frage nach der Relevanz von Grundsatzprogrammen für die Strategiefähigkeit der Volksparteien. Kortes Thesen fokussierten auf die Politikvermittlung. Programmdebatten könnten in die Partei hinein, aber auch nach außen in die Wählerschaft wirken. Vor allem könnten diese ein Sensor für die Reformfähigkeit der Bevölkerung sein. Um diese ist es nach Korte nicht so schlecht bestellt wie allgemein angenommen. Durch eine bildreiche Programmatik, in schlüssige "Masterframes" verpackt und durch passende Politikertypen transportiert, könnten gerade die Volksparteien Veränderungen durchsetzen.

Am Beispiel des soeben abgeschlossenen österreichischen Nationalratswahlkampfes, in dem er als Berater tätig war, verdeutlichte Prof. Dr. Günther Burkert-Dottolo (Politische Akademie Wien) die starke Rückläufigkeit der Bedeutung von Programmen in Wahlkämpfen. Während früher auch Themen und Konzepte ausschlaggebend gewesen seien, käme es heute nur noch auf Personen an, so Burkert-Dotollo. In Österreich findet diese Entwicklung ihren Ausdruck darin, dass die Volksparteien nicht mehr danach streben, neue Grundsatzprogramme zu verfassen, sondern ständig tagende, wissenschaftliche Gremien an einer laufenden inhaltlichen Erneuerung arbeiten lassen.


Prof. Dr. Günther Burkert-Dottolo

Dass trotz dieses scheinbaren Bedeutungsverlustes von Politikinhalten eben diese eine Chance zur Neupositionierung im Parteienwettbewerb bieten, erläuterte  Dr. Ulrich Eith (Universität Freiburg). Sein Impulsreferat bildete den Auftakt des Panels über "Wählermandate und Koalitionsoptionen". Anhand verschiedener Modelle des Reformdiskurses zeigte er auf, dass neue Mehrheiten gestalt- und organisierbar sind. Bewährt hätten sich dabei wert- und zielorientierte Begründungsmuster. Am Begriff der "Sozialen Marktwirtschaft" veranschaulichte Eith, dass beide Varianten der Zielbegründung – individualistisch wie kontextualistisch – sich vereinbaren lassen. Wenn die politische Führung dies konsequent verfolge, seien neue Koalitionsoptionen aufgrund  programmatischer Schnittmengen durchaus vermittelbar.

Von welchem Wählerbild diese Vermittlungsarbeit auszugehen hat, hinterfragte Dr. Viola Neu (Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin). Eine zunehmende Volatilität der Wählerpräferenzen sei nicht nur in Bezug auf die Sonntagsfrage, sondern auch bei der Zuordnung von Sachkompetenzen wie der Beurteilung einzelner Politiker festzustellen. Stabil sei dabei einzig ein grundsätzliches Misstrauen gegen Regierungswechsel, da die Wählerschaft der Opposition nur zu einem geringen Prozentsatz zutraut, die Regierungsgeschäfte besser ausführen zu können. Für eine zuverlässige Erfassung des Wählerwillens, insbesondere in Bezug auf Koalitionspräferenzen, ist Neu zufolge eine Weiteentwicklung des Erhebungsinstrumentariums erforderlich. Notwendig seien mehr qualitative Umfragen, um mögliche neue Cleavages (z.B. zwischen Ost und West oder zwischen Empfängern von Erwerbs- und Transfereinkommen) zu erforschen.

Der knappe Wahlausgang 2005 resultierte in einer großen Koalition, die politische Wettbewerber zu Bündnispartnern auf Zeit machte. Dr. Manuela Glaab (C·A·P München) veranschaulichte in ihrem Beitrag die Knappheit der Machtressourcen der Bundesregierung trotz ihrer übergroßen parlamentarischen Mehrheit und positiver Ansätze im Regierungsmanagement. Merkels Führungsstil des "stillen Regierens" sei schnell an Grenzen gestoßen. Der Koalitionsvertrag diene als Strategieersatz, weil aufgrund parteipolitischer Eigeninteressen Dissensmanagement statt Chancenmanagement betrieben werde. Allerdings steht nach Glaab derzeit keine Koalitionsalternative zur Verfügung, was in Kombination mit dem fehlenden Interesse der Regierungsparteien an Neuwahlen Stabilität garantiert. Die große Koalition befinde sich in einer Art Erfolgsfalle, da sie nur über eine funktionale Legitimation verfüge. Insofern seien die Regierungspartner zu effizienter Zusammenarbeit gezwungen, wenn sie nicht einen weiteren Vertrauensverlust riskieren wollten.


Diskussionen im Plenum

Zu einem ähnlichen Befund kam Vito Cecere (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Berlin) im Rückblick auf das vergangene Jahr. Zwar hätten Union wie SPD ein berechtigtes Interesse an einer Eigenprofilierung. Auch sei der praktische, quantitativ wie qualitativ hohe Koordinierungsbedarf der Regierungspolitik nicht zu unterschätzen. In der großen Koalition begegneten sich "Partner auf Augenhöhe", weswegen der Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin Grenzen gesetzt seien. Trotzdem sieht Cecere durch die Koalition erweiterte Handlungskorridore, zu deren Nutzung es allerdings "politischer Führung auf beiden Seiten" bedarf. Dem entsprechend sollten die Parteien das Machbare in die Tat umsetzen, ohne zu viel wahltaktische Rücksicht zu nehmen.

Dr. Mark Speich (Planungsgruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Berlin) argumentierte, Union und SPD würden 2009 primär für ihre Vorhaben und Politikkonzepte, nicht für ihre vergangenen Leistungen gewählt. In diesem Zusammenhang erläuterte er die aktuelle Profildebatte in der Union. Weder die Bundeskanzlerin noch die stark in die koalitionäre Entscheidungsfindung eingebundene Fraktion könnten hier ihr volles Gewicht einbringen. Umso bedeutender sei die derzeitige Grundsatzprogrammdiskussion. Diese könne auch die Grundlage liefern für ein Regierungsprogramm, das Positionen der Union für die Zeit nach 2009 unverfälscht formuliert. Die bisher erreichten Erfolge der großen Koalition hielt Speich für bedeutender als gemeinhin wahrgenommen.

Abschließend verwies Axel Wallrabenstein (Publicis Consultants Deutschland, Berlin) darauf, dass ein Mindestmaß an Inszenierung unabdingbar sei, um Aufmerksamkeit zu erreichen. Allerdings seien die Erfolge der aktuellen Bundesregierung – Wirtschaftswachstum, Arbeitsmarkt, Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit – nur schwer in Bilder zu fassen. Positive Akzente in Sachen Kommunikation seien durch Merkels kompetente Auftritte im Ausland, die Regierungsklausur in Genshagen sowie die Islamkonferenz gesetzt worden. Trotzdem sollte die Bundeskanzlerin ihre Stärken zum Tragen bringen; insbesondere aus ihren Eigenschaften als Frau, Ostdeutsche und Naturwissenschaftlerin könnten in der aktuellen politischen Lage nicht zu unterschätzende Vorteile erwachsen.

Impulsreferate, Statements und Diskussionen des Deutschland-Dialogs 2006 zeigten auf, dass Darstellungspolitik auch in der Mediendemokratie nicht zu Lasten von Inhalten gehen darf. Der distanzierte Bürger verlange in unsicheren Zeiten nach politischer Orientierung, welche ihm die Politik jedoch zunehmend vorenthalte. Um diese Kluft überbrücken zu können, bedarf es zuallererst einer Selbstverständigung der (Volks)Parteien selbst.


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