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Die Zukunft Europas

Werner Weidenfeld bezieht Stellung zur aktuellen Lage der Europapolitik

29.08.2005 · ifo Schnelldienst



Die Europäische Union steckt in der Krise. Die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden haben Europa in Aufruhr versetzt. Nach dem „Nein“ zur Verfassung in zwei Gründungsstaaten wächst die grundsätzliche Skepsis der Bürger gegenüber der EU. Das Vertrauen zu den europäischen Institutionen schwindet. Woran liegt das? Und was gilt es angesichts dieser neuen Ausgangslage zu tun?

Es gab Zeiten, da war Europa vom Wunder der Integration geradezu verzaubert. Nach Jahrhunderten leidvoller Erfahrung kriegerischer Gegnerschaften, nach imperialen Verwüstungen, nach nationalistischen Eruptionen hatten die Völker des Kontinents gleichsam den inneren Hebel komplett gewendet. Die Bildung einer europäischen Gemeinschaft wurde zur bewegenden Grundidee der Nachkriegszeit.

Zwei große Vitalquellen lieferten ungeahnte Kraftreserven für diese historische Revolution: die Hoffnung auf Sicherheit gegen die große Bedrohung aus dem Osten und die Erwartung wirtschaftlicher Wohlfahrt durch den Gemeinsamen Markt. Beide Vorstellungen ließen sich realisieren. Europa wurde zu einem Modell für Sicherheit und Prosperität mit weltweiter Ausstrahlung. Als sich in den frühen achtziger Jahren erste Ermüdungserscheinungen zeigten und man von „Eurosklerose“ sprach, da verhalf das strategische Denken eines Jacques Delors zu einem neuen Schub. In der Sprache der Langstreckenläufer würde man formulieren: Europa erhielt die zweite Luft.

Heute erscheinen solche Hinweise auf das verzauberte Europa wie ferne Signale einer längst untergegangenen Zeit. Versuche zur Modernisierung des europäischen Wirtschaftsraumes, Lissabon-Strategie genannt, erweisen sich als pathetische Garnierung von Seifenblasen. Der Stabilitätspakt um die gemeinsame Währung Euro wird inzwischen als Fessel empfunden. Budgetkonflikte, Agrarstreit, Bürokratie-Probleme, nationale Egoismen bestimmen das Bild. Kurzum: Die Dynamik früherer Zeiten ist dahin. Die alten Quellen europäischer Vitalität scheinen versiegt. Die Ziele der Gründerzeit sind erreicht: Die Bedrohung aus dem Osten ist überwunden, der Binnenmarkt ist nahezu vollendet. Die Erfolge sind konsumiert. Wozu neue Anstrengungen unternehmen, wozu neue Kräfte mobilisieren? Europa ist erschöpft.

Und dennoch reicht dieser Befund nicht aus, um das ganze Ausmaß von Frustration, Konfusion und Orientierungslosigkeit zu erklären, das heute die europäische Szene beherrscht. Es gibt einen anderen Schlüssel: Heute existieren drei verschiedene Konstrukte von Europa nebeneinander; keiner der drei Konfigurationen dominiert, so dass die aktuelle Verwirrung die logische Konsequenz ist:

  • Da ist das Europa des täglichen Pragmatismus. Wir haben uns an Freizügigkeit und europaweite Mobilität gewöhnt. Ohne Masterplan hat sich dieses Europa der Römischen Verträge seit den 50er Jahren weiterentwickelt. Hier wurde eine kleine Kompetenz ergänzt, dort wurde ein Entscheidungsprozess leicht korrigiert – alles ohne systematische Evidenz. Die Logik funktionaler Ergänzung bahnte den Weg und führte zur heutigen Intransparenz. Das hohe Niveau der Vergemeinschaftung ließ schließlich den Wunsch nach institutioneller Zuverlässigkeit übermächtig werden. Das Tor zur europäischen Verfassung öffnete sich. Als Ergebnis liegt nun ein Text zur Ratifizierung vor, der von bescheidenem sachlichen Ertrag, aber zugleich von großem Symbolwert ist. Man mag dies als Erfolg feiern – aber von vitaler Aufbruchsstimmung ist nichts zu spüren.
  • Da ist das zweite Europa: Ein Kontinent, dessen Horizont entgrenzt ist. Die zunächst kleinräumige Gemeinschaft der Römischen Verträge hatte sich – gleichsam wie Jahresringe der Bäume – mehrfachen Erweiterungen unterzogen. Die ersten Erweiterungsrunden, die die Zahl der Mitglieder von sechs auf 15 wachsen ließen, hatten den ursprünglichen westeuropäischen Kern der Einigung nicht in Frage gestellt. Dies geschah erst durch das Ende des Ost-West-Konflikts. Die Vision eines vereinigten, großen Europa wurde Wirklichkeit. Historisch versunken geglaubte Kulturräume tauchten wieder auf der europäischen Landkarte auf, die Spuren des Habsburgerreichs ebenso wie die des Zarenreichs und des osmanischen Imperiums. Die Orthodoxie, der Islam, der römische Katholizismus und der Protestantismus mussten in nunmehr freien Gesellschaften zu einer neuen Koexistenz finden.

    Dieser große kulturhistorische Wandlungsprozess, politisch organisiert im Europa der 25, hat eben erst begonnen, da vollziehen die Europäer bereits die nächste große Zäsur: Der Beschluss, die Verhandlungen mit der Türkei zur EU-Mitgliedschaft aufzunehmen, ist in seiner Tragweite vergleichbar mit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Nicht nur, dass mit der Türkei das künftig bevölkerungsreichste Mitglied aufgenommen wird, das heute zugleich das wirtschaftliche Armenhaus Europas bewohnt. Die substantielle Veränderung des machtpolitischen Gefüges, die durch den Türkei-Beitritt vollzogen wird, muss nüchtern wahrgenommen werden:

    - Die Netto-Zahler, zu denen Deutschland gehört, haben dann keine Sperrminorität mehr. Die Umschichtung des Haushaltes zugunsten der Empfänger-Staaten ist damit vorprogrammiert.

    - Die 15 „alten“ EU-Staaten, die das Gesicht der EU bis zum 1. Mai 2004 allein prägten, verlieren ihre Gestaltungsmehrheit. Das Ende des „Geistes von Messina“ (1955) und des „Geistes der Römischen Verträge“ (1957) ist damit definiert. Welcher neue Geist an deren Stelle tritt, ist offen.

    Mit dem Türkei-Beschluss ist Europa nun endgültig entgrenzt. Unsinn zu sagen, die Türkei gehört dazu, die Ukraine aber nicht; Unsinn zu sagen, die Türkei gehört dazu, Marokko aber nicht. Der Kern des Beschlusses zur Türkei bedeutet die Eröffnung eines großen Erweiterungsprozesses, dessen Ende heute rational nicht definiert werden kann. Die Ukraine mit ihrer jahrhundertelangen Einbindung in die polnische wie die österreichische Geschichte wird mittelfristig der EU beitreten. Gleiches gilt für die restlichen Balkanstaaten und die Maghreb-Länder. Und wer will dann Israel und Palästina die Tür vor der Nase zuschlagen? Schließlich werden Interessen und strategisches Kalkül die Gespräche mit Russland und den Staaten des Kaukasus aufnehmen lassen. Mit welchem Argument sollte es Armenien und Georgien verwehrt sein, Mitglied zu werden? Der mit der Ukraine angezeigte Zusammenbruch des post-sowjetischen Imperiums Moskaus wird weit in die Europäische Union hinein ausstrahlen.

    Je früher Europa diese Reichweite des eingeschlagenen Weges strategisch begreift, desto besser. Aktuell wird diese Realität jedoch politisch verdrängt. Es werden Nebelkerzen eines beruhigenden Pathos gezündet – als könne man realistisch davon ausgehen, die Türkei sei das letzte Land, das legitimerweise seinen Eintritt in die Union fordert.
  • Das dritte Europa ist die Vorstellung von Mission und Auftrag des Kontinents, die wir in unseren Köpfen haben. Europäische Identität war seit eh und je kompliziert und nur dünn entwickelt, überlagert von nationalen und regionalen Selbstverständnissen. Die europäische Selbsterfahrung hatte durchaus ein relevantes Profil erhalten – gezeichnet durch gemeinsames Leiden  wie durch eine gemeinsame Erfolgsgeschichte. Nun aber ist dieser Halt aus seiner Verankerung gerissen. Das pragmatische Europa hatte nicht einmal mehr die Kraft, seine kulturellen Wurzeln in seiner Verfassung zu definieren. Das entgrenzte Europa hat den räumlichen Rahmen entfernt, den ein Identitätsprozess benötigt. Zurück bleiben die hilflosen Versuche der europäischen Kulturkongresse, die sich immer wieder neu auf die Suche nach der Seele Europas machen, um dann lediglich Material für die Satire der Feuilletons zu liefern. Die strategische Unentschiedenheit der Politik hat die Verwirrung in die Köpfe der europäischen Bürger befördert. Das Ergebnis ist eine tiefe mentale Orientierungskrise.

    In solchen Situationen ist Rückzug angesagt: Die Europäer suchen neuen Halt in alten Traditionen: das nationale Bewusstsein, die regionale Heimat, die ethnische Behausung – sie alle bieten mentale Sicherheit, nur keinen europäischen Horizont. Das Entschwinden des europäischen Horizonts wird kompensiert durch den scheinbar sicheren Zugriff auf die kleine politische Scholle. Kein Versuch kann in Zeiten der Globalisierung jedoch wirklichkeitsfremder ausfallen.

Der Befund der drei Europas muss uns erschrecken: Für eine Revitalisierung des dahinwurstelnden Pragmatismus sind keine Quellen verfügbar. Für das entgrenzte Europa fehlt uns die strategische Vorstellungskraft. Für das verwirrte Europa in unseren Köpfen fehlt uns die ordnende Idee. So leidet unser Kontinent an dem klassischen Syndrom der Überforderung. Die Geschichte ist voller Szenarien des Untergangs, die aus Überforderung und Überdehnung großer politischer Räume entstanden. Wie soll uns auch die Konstruktion einer transparenten Gestalt Europas gelingen, wenn wir in der Wirklichkeit der Gegenwart den Überblick verloren haben?

Wir sollten die Dinge beim Namen nennen. Wir sollten die Anfänge komplett zu Ende denken. Wir sollten zu einer neuen Ordnung unserer Gedanken kommen. Dann hat das Europa, dessen Untergang uns so lebhaft vor Augen steht, vielleicht doch noch eine Chance. Kulturhistorisch betrachtet wäre es jede Mühe wert.

In einem ersten Schritt gilt es Europa aus der aktuellen Verfassungskrise heraus zu führen. Mit den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden dürfte einer der großen historischen Versuche, Europa eine zuverlässige Ordnung zu geben, gescheitert sein. Das „Nein“ zur Verfassung ist jedoch nicht das Ende der Geschichte. Ganz im Gegenteil: Es kann zum Weckruf für einen erschöpften Kontinent werden. Dies wäre keine neue Erfahrung in der Integrationsgeschichte, die in ihrer mehr als fünfzigjährigen Geschichte immer wieder Krisen erlebt und aus diesen neue Kraft geschöpft hat.

Gefragt sind nun Alternativen zur Europäischen Verfassung. Keine der Kontroversen in den Mitgliedstaaten hat sich am wirklichen Kern der Verfassung festgemacht. Der wesentliche Fortschritt, den die Verfassung im Blick auf die Handlungsfähigkeit, die Effektivität sowie die demokratische Legitimation Europas bringen sollte, wurde nirgends in Frage gestellt.

Die Verfassung aber war von Anfang an mit einem anderen schweren Webfehler behaftet: Der Text ist zu umfangreich, zu kompliziert, zu unverständlich. Deshalb konnte man als Gegner auch ungestraft alles Mögliche in diesen Text hineingeheimnissen. Zudem lud das Text-Monstrum geradezu dazu ein, innenpolitische Frustrationen anzudocken. Das „Nein“ war eine Absage an nationale Regierungen und das Resultat von unbegründeten mythologischen Ängsten. Eine Absage an das historische Projekt einer europäischen Friedensordnung wurde hier nicht formuliert.

Es bietet sich daher an, die Weiterentwicklung des politischen Systems der EU zu entdramatisieren: Aus dem provozierenden Großtitel der Verfassung sollte wieder die bescheidenen Variante eines Vertrages werden. Der Kernbestand an Verfassungsneuerungen sollte in die bestehenden Verträge übertragen werden. Hiezu müssten die zentralen Reformen der Verfassung identifiziert und in Gestalt eines Änderungsvertrages zum geltenden Primärrecht gebündelt werden.

Die Reform der geltenden Verträge würde folgende Kernbereiche betreffen: 

  1. die Reform des institutionellen Systems der EU,
  2. die Weiterentwicklung der Entscheidungs- und Abstimmungsverfahren,
  3. die Reform und Ergänzung der Instrumente differenzierter Integration sowie
  4. eine Reihe struktureller Bestimmungen.

1. Reform des Institutionensystems

Die zentralen institutionellen Reformen der Verfassung sollten in die geltenden Verträge inkorporiert werden. Dies betrifft vor allem die Einsetzung eines gewählten Präsidenten des Europäischen Rates, die Schaffung des Amtes eines Europäischen Außenministers sowie die Verkleinerung  der Kommission und die Stärkung ihres Präsidenten.
Die Personalisierung der europäischen Führungsarchitektur ermöglicht eine klarere Zurechenbarkeit von Verantwortung auf EU-Ebene und stärkt die Kontinuität, Sichtbarkeit und Kohärenz europäischer Politik.

2. Weiterentwicklung der Entscheidungs- und Abstimmungsverfahren

Will die EU handlungsfähig bleiben und ihre demokratische Legitimation ausbauen, muss sie die Entscheidungs- und Abstimmungsverfahren im Ministerrat und im Europäischen Parlament reformieren sowie die nationalen Parlamente stärker einbeziehen.

Vor allem die Einführung der „doppelten Mehrheit“ ist eine Zäsur in der Entwicklung der Europäischen Union. Die Zahl der Bürger und die Zahl der Staaten als Entscheidungsbasis bei Abstimmungen im Ministerrat spiegeln die beiden Legitimationsstränge der EU wider. Dieses Abstimmungsverfahren erschwert die Bildung mitgliedstaatlicher Blockadekoalitionen und fördert konstruktive Mehrheiten.
Die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat – von 137 auf 181 Fälle – ist von entscheidender Bedeutung für die Problemlösungskompetenz einer erweiterten EU und sollte auch bei einer Reform des Nizza-Vertrages berücksichtigt werden. Darüber hinaus sollten die Rechte der nationalen Parlamente ausgebaut, plebiszitäre Elemente (Bürgerbegehren) etabliert und die Haushaltbefugnisse sowie die Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsprozess  gestärkt werden.

3. Reform und Ergänzung der Instrumente differenzierter Integration

In der erweiterten EU werden die Interessen der Mitgliedstaaten immer heterogener. Strategien differenzierter Integration erlangen deshalb eine herausragende Bedeutung. Bereits in der Vergangenheit wurden in der Währungs-, Innen- und Sozialpolitik Blockaden oder der mangelnde politische Wille bestimmter Mitgliedstaaten mit den Mitteln der Differenzierung überwunden und der Integrationsprozess vorangebracht.
Bei einer Veränderung der geltenden Verträge sollten die in der Verfassung vorgenommenen Reformen der bereits bestehenden Flexibilitätsinstrumente (Verstärkte Zusammenarbeit) sowie die Einführung neuer Instrumente vor allem im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik übernommen werden.

Die Offene Methode der Koordinierung sollte – wie in der Verfassung – im reformierten Nizza-Vertrag verankert werden. Sie reduziert die Rolle der EU auf die Vorgabe von Zieldaten für die Mitgliedstaaten und die Kontrolle der Einhaltung der Vereinbarungen. Darin liegt ihr zentraler Vorteil: Die Mitgliedstaaten müssen nationale Aktionspläne umsetzen und stehen miteinander in einem transparenten Wettbewerb.

4. Strukturelle Bestimmungen

Abschließend sollte eine Reihe struktureller Bestimmungen der Europäischen Verfassung im Kontext einer Reform der geltenden Verträge übernommen werden. Hierzu gehören vor allem die rechtsverbindliche Verankerung der Charta der Grundrechte im Nizza-Vertrag, die Einführung der Kompetenzkategorien, die Übernahme der so genannten „Passerelle-Klauseln“ zur vereinfachten Weiterentwicklung der europäischen Verträge, die Reform des Verfahrens zur künftigen Revision des Primärrechts sowie die Übernahme der Solidaritätsklausel und die Einführung der gegenseitigen Beistandspflicht.

Niemand kann ein Interesse daran haben, dass die politischen und ökonomischen Potenziale des großen Europa nicht ausgeschöpft werden. In der neuen Bescheidenheit könnte daher die Lösung liegen: In einem Änderungsvertrag zum Vertrag von Nizza jene Schlüsselfragen zu klären, die ein monströser Verfassungstext eher verstellt und vernebelt. Auf diese Weise könnte für Europa das Scheitern eines Projekts erneut zum entscheidenden Aufbruch werden.


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