Deutsche Einheit in der Retrospektive
Befindlichkeiten in Ost und West
04.11.2009 · Ein Beitrag von Dr. Manuela Glaab
Tatsächlich glaubte Ende der 1980er Jahre nur noch eine kleine Minderheit der Deutschen daran, die Wiedervereinigung jemals selbst erleben zu können. Zwar hielt die große Mehrheit der Westdeutschen am grundgesetzlich verankerten Wiedervereinigungsgebot fest, doch war dieses in der politischen Rhetorik längst zu einem mehr oder minder abstrakten Programmsatz geronnen. Mit den Landsleuten im anderen Teil Deutschlands fühlte man sich verbunden, dennoch verblasste nicht nur in der jungen Generation allmählich das Zusammengehörigkeitsgefühl. Das Interesse am jeweils anderen deutschen Staat war darüber hinaus von einer deutlichen Asymmetrie geprägt: Während die DDR den Westdeutschen allenfalls als Negativfolie zu ihrer eigenen Lebenswirklichkeit diente, verbanden weite Teile der ostdeutschen Bevölkerung mit der Bundesrepublik die Vorstellung eines besseren Lebens.
Doch mit welchen Gefühlen begegneten die Deutschen 1989/90 der sich anbahnenden Einheit? Im Wendeherbst zeichnete die Demoskopie hierzu zunächst ein recht uneinheitliches und bisweilen wechselhaftes Bild. Im Fortgang der politischen Ereignisse schätzten die Bürger allerdings die Chancen, die Teilung tatsächlich zu überwinden, immer positiver ein. Schon im Dezember 1989 hielt immerhin jeder zweite Bundesbürger die Vereinigung für realisierbar. Und mit der Erwartung der Einheit wuchs auch die Zustimmung: Nach Umfrageergebnissen der Forschungsgruppe Wahlen lag der Anteil der Einheitsbefürworter im Westen ab dem Frühjahr 1990 bei über 80%. Im Osten hatten erste Umfragen unmittelbar nach dem Mauerfall noch ein etwas zurückhaltenderes Stimmungsbild ergeben. Doch nach 48% Zustimmung im November 1989 stieg die Befürwortung der Einheit bis zum Februar 1990 auf ebenfalls nahezu 80% an. Und in der Folgezeit kletterte die Zustimmung in Ostdeutschland sogar noch über die in Westdeutschland gemessenen Werte.
So klar man das Ziel der deutschen Einheit auch vor Augen hatte, Unsicherheiten bestanden in beiden Teilen des Landes hinsichtlich des richtigen Tempos und besten Weges zur Vereinigung: Jeder zweite Westdeutsche (52%) hatte im Juni 1990 das Gefühl, auf dem Weg zur Einheit gehe es "zu rasch" voran. Dabei dürften nicht zuletzt Befürchtungen eine Rolle gespielt haben, das im Westen als Modell der Vereinigung klar bevorzugte politische System der Bundesrepublik könnte im Zuge des Vereinigungsprozesses größere Veränderungen erfahren. Umso zufriedener zeigten sich die Westdeutschen im November 1990 denn auch darüber - knapp drei Viertel äußerten sich in Umfragen in diese Richtung -, dass sich letztlich die Staatsform der Bundesrepublik durchgesetzt hatte. Markant ist der parallele Anstieg der Demokratiezufriedenheit in dieser Phase, in dem sich vor allem aber auch die Freude über die bevorstehende Einheit niederschlug: Im Frühjahr 1990 erreichte die Systemzufriedenheit mit 85% das höchste in der "alten Bundesrepublik" jemals ermittelte Niveau.
Im Osten stellte sich die Lage anders dar: Etwa ein Drittel der Ostdeutschen hatte anfangs einen eigenständigen, "dritten Weg" der DDR bevorzugt. Im Dezember 1989 meldete dann das Meinungsforschungsinstitut Infas, dass sich 46% der DDR-Bürger ein "Mischsystem" wünschten. Nur 26% favorisierten die Einführung eines marktwirtschaftlichen Systems in der DDR, gegenüber 21%, die einen "demokratischen Sozialismus" verwirklicht sehen wollten. Wenig später, im März 1990, wurde allerdings der Sieg der "Allianz für Deutschland" bei der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR als nachdrückliches Votum für die deutsche Einheit und den raschen Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gewertet.
Bei aller Freude über den Fall der Mauer wurden auch schon früh Bedenken bezüglich der mit der Vereinigung verbundenen Schwierigkeiten laut. Ostdeutsche wie Westdeutsche schätzten zwar die langfristigen Perspektiven überwiegend positiv ein, erwarteten zunächst aber Probleme. Bei genauerem Hinsehen treten zudem bemerkenswerte Unterschiede zwischen Ost und West hervor: Im Westen richteten sich die Sorgen vor allem auf wirtschaftliche und soziale Belastungen. Die persönliche Opferbereitschaft der Bevölkerung erwies sich zunächst als eher begrenzt. Insbesondere galt dies im Vorfeld der Einheit für die Bereitschaft, Steuern oder andere Abgaben für den "Aufbau Ost" zu zahlen. So meinten laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach vom Februar 1990 zwei Drittel der Westdeutschen, sich eine "Ergänzungsabgabe" zur Ankurbelung der Wirtschaft in der DDR nicht leisten zu können. Erst als sich die Perspektive der Einheit konkretisierte, wuchs allmählich die Akzeptanz von Transferleistungen in die neuen Bundesländer.
Die ostdeutsche Bevölkerung war sich bei allem Optimismus durchaus darüber im Klaren, dass die Vereinigung einen tiefgreifenden Einschnitt bedeuten würde. Einer Infas-Umfrage zufolge meinten bereits im November 1989 fast alle Befragten, dass die Einheit "einige" (30%) bzw. sogar "viele" (69%) Veränderungen mit sich bringen würde. Dass diese durchaus auch mit gemischten Gefühlen gesehen wurden, illustriert bereits die in einer Emnid-Studie im Spätsommer 1990 von einem Großteil der Ostdeutschen (78%) geäußerte Sorge, die Bürger der neuen Länder könnten im vereinten Deutschland "auf längere Zeit 'Bürger zweiter Klasse' " bleiben. Diese Formulierung mag zum damaligen Zeitpunkt noch nicht jenes Maß an negativer Aufladung gehabt haben, das ihr später zugeschrieben wurde, ließ aber bereits erahnen, welche psychologischen Schwierigkeiten den Deutschen auf dem Weg zur "inneren" Einheit noch bevorstehen sollten.
Gegenstand alljährlich zu den Jahrestagen angestellter Reflektionen ist die Frage, ob diese Schwierigkeiten inzwischen überwunden sind und wie weit der Einigungsprozess insgesamt fortgeschritten ist. Die einen ziehen hierfür Bilanz anhand ökonomischer Strukturdaten. Die anderen beleuchten eher die Gefühlslage der Deutschen in Ost und West. In der Regel können aus beiden Betrachtungsweisen positive wie auch ernüchternde Befunde abgeleitet werden, je nach dem, ob als Messlatte stärker die zu beobachtenden Entwicklungsfortschritte oder die noch bestehenden Defizite herangezogen werden. Ungeachtet unterschiedlicher Bewertungen zum Stand des "Aufbaus Ost" und auch teilweise weiterhin erkennbarer Distanzgefühle zwischen Ost- und Westdeutschen kann aber festgehalten werden, dass die große Mehrheit der Bevölkerung die deutsche Einheit auch aus heutiger Sicht positiv bewertet.
Dies bestätigen auch jüngste repräsentative Erhebungen des Bankenverbandes, wonach neun von zehn Deutschen die Wiedervereinigung als richtige Entscheidung befürworten. Das Votum fällt in allen Parteianhängerschaften sowie in sämtlichen Bevölkerungsgruppen positiv aus. Bemerkenswert ist, dass sich die Zustimmung mit 87% in den alten und 93% in den neuen Bundesländern im Ausmaß nur graduell unterscheidet. Stärker als durch die Ost-West-Dimension wird die Haltung zur Wiedervereinigung hingegen von der persönlichen wirtschaftlichen Lage beeinflusst: Diejenigen, die ihre ökonomische Situation als gut einschätzen, sehen die Entscheidung für die Einheit deutlich positiver (92%) als jene, die ihre Wirtschaftslage als schlecht beurteilen (78%). Ein ähnliches Bild ergeben die Antworten auf die Frage, ob beim Gedanken an die Wiedervereinigung bei den Befragten eher die "Freude" (56%) oder angesichts der Folgeprobleme eher die "Sorge" (40%) überwiegt. Besonders ausgeprägt ist die Sorge hier ebenfalls wiederum unter jenen, die ihre eigene wirtschaftliche Lage als schwierig einschätzen oder um ihren Arbeitsplatz fürchten. Die Wahrnehmung von Ost- und Westdeutschen hingegen unterscheidet sich auch in dieser Frage kaum.
Das aktuelle Stimmungsbild scheint somit die so genannte Situationshypothese zu stützen, derzufolge die Beurteilung des Einigungsprozesses primär von den individuellen Lebensverhältnissen bestimmt wird. Ost-West-Differenzen bestehen zwar teilweise fort, markieren jedoch keineswegs eine dominante Trennlinie. Für eine positive Prognose des weiteren Zusammenwachsens von Ost und West wäre das keine schlechte Nachricht.
Dr. Manuela Glaab ist Leiterin der Forschungsgruppe Deutschland am Centrum für angewandte Politikforschung der Universität München. Sie lehrt als Akademische Oberrätin am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Universität München.
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