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Zehn Jahre Hugo Chávez

Mobilisierung statt Demokratisierung in Venezuela

C·A·P Visiting Fellow Thomas Kestler ist Politikwissenschaftler und Lateinamerikanist. Er hat an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt eine Dissertation über die politischen Parteien in Venezuela verfasst.

06.02.2009 · Position von Thomas Kestler



Im politischen Leben Venezuelas herrscht wieder einmal Ausnahmezustand, denn es geht um nicht weniger als um die nationale Unabhängigkeit und das Erbe Simón Bolívars – jedenfalls ist das die Sichtweise, die Präsident Hugo Chávez seinen Anhängern predigt. Am den 15. Februar 2009 soll nämlich in einem Referendum über eine Verfassungsänderung entschieden werden, die Chávez nach Ablauf seiner zweiten vollen (und damit laut Verfassung letzten) Amtszeit im Jahr 2012 eine Wiederwahl ermöglichen soll. Diese sei notwendig, um seine sogenannte bolivarische Revolution zu vollenden, die in einer Transformation der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse bestehen und zu einem nicht näher definierten Sozialismus des 21. Jahrhunderts hinführen soll. Allerdings besteht die einzige Transformation, die in den letzten zehn Jahren erreicht wurde, darin, dass Chávez eine dominierende Machtstellung erreicht hat, die er ganz offensichtlich nicht mehr preiszugeben gedenkt. Ansonsten gleicht das Venezuela von heute weitgehend dem Venezuela von gestern und viele der seit Jahrzehnten bestehenden Probleme haben sich während der Regierungszeit Chávez’ sogar verschärft.

Die Wirtschaft ist mehr denn je abhängig vom Öl, nachdem das ohnehin schwach entwickelte produzierende Gewerbe durch Preiskontrollen und politische Gängelung abgewürgt wurde. Inzwischen muss fast alles, was in Venezuela konsumiert wird, importiert werden, wobei Chávez es sich nicht nehmen lässt, die Ankunft von Hühnerfleisch im Hafen von La Guaira oder die Bestellung von Lebendvieh persönlich zu verkünden. Die soziale Misere wurde zwar durch breit angelegte, ölfinanzierte Sozialprogramme angegangen, mit sinkenden Ölpreisen dürfte das Elend aber schnell wieder zunehmen. In der Verwaltung bestehen die Übel der Korruption und der Ineffizienz fort, was sich besonders im Bereich der Justiz und der Sicherheitsorgane fatal auswirkt. In der Hauptstadt ereignen sich (laut offiziellen Zahlen) jährlich 130 Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner und damit etwa doppelt so viele wie vor zehn Jahren, als Caracas in der Rangliste der gewalttätigsten Städte Lateinamerikas bereits einen Spitzenplatz eingenommen hatte. Angesichts dieser Zahlen erhält der Hinweis Chávez’, seine "Revolution" sei bewaffnet, einen höchst ominösen Beiklang.

An die Macht gelangte Chávez im Dezember 1998, als er mit schrillem Populismus die Präsidentschaftswahlen gegen den Ökonomen und Unternehmer Henrique Salas Römer gewann, der von sämtlichen Vertretern des politischen Establishments unterstützt wurde. Ausschlaggebend für den Wahlerfolg des ehemaligen Oberstleutnants (Comandante), der im Februar 1992 bereits versucht hatte, auf gewaltsame Weise an die Macht zu kommen, war die seit Anfang der 1980er Jahre herrschende Wirtschaftskrise. Die Präsidenten Pérez (1989-1993) und Caldera (1994-1999) hatten mit Liberalisierungsprogrammen gegengesteuert und damit kurzfristig eine massive Verschlechterung der sozialen Lage in Kauf genommen. Chávez’ Parolen gegen die ausländischen Konzerne und die Privatisierungen wie auch seine weitreichenden Umverteilungsversprechen fielen deshalb auf fruchtbaren Boden.

Die Wahlen vom Dezember 1998 bedeuteten das Ende des zwischen 1958 und 1998 herrschenden korporativistischen Systems, in dem sich zwei straff organisierte, programmatisch aber kaum zu verortende Massenparteien, Acción Democrática (AD) und COPEI, an der Regierung abgewechselt hatten. Ein wesentliches Funktionsprinzip dieses Systems bestand in der Begrenzung politischer Konflikte. Heikle Themen wurden ausgeklammert und jenseits der aufwendig inszenierten, weitgehend inhaltsleeren Wahlkämpfe wurde auf jede Form der Agitation und der Mobilisierung verzichtet. Insbesondere die ökonomischen Gegensätze innerhalb der Gesellschaft wurden von den traditionellen Parteien bewusst ignoriert, um keine unkontrollierbaren Konflikte heraufzubeschwören.

Chávez warf diese Tabus über den Haufen und markierte sowohl inhaltlich wie auch in seinem Auftreten einen klaren Bruch gegenüber dem alten System, indem er gezielt die Mobilisierung der unteren Bevölkerungsschichten betrieb. Mit seinen aggressiven Parolen, einer volkstümlichen (um nicht zu sagen vulgären) Ausdrucksweise und dem Nimbus des Militärs, der im Jahr 1992 gegen die ungeliebte Regierung Pérez geputscht hatte, traf Chávez bei den marginalisierten Bewohnern der Barrios einen Nerv. Einen ebensolchen, allerdings einen empfindlichen, traf er bei den Mittel- und Oberschichten, die angesichts der Umfrageergebnisse gegen Ende des Jahres 1998 zunehmend in Hysterie verfielen.

Nach seinem klaren Wahlsieg schlug Chávez zunächst versöhnlichere Töne an und die aggressive Stimmung des Wahlkampfes wich einem verbreiteten Optimismus. Viele hofften, der neue Präsident würde sein starkes Mandat nutzen, um die Probleme des Landes energisch anzugehen und die Öffnung des politischen Systems zu fördern. Bereits wenig später nahm aber die politische Auseinandersetzung wieder radikalere Formen an. Wie angekündigt ließ Chávez mittels Referendum eine verfassungsgebende Versammlung wählen, die von seinen Anhängern dominiert wurde und die sich zum neuen Legislativorgan aufschwang. Der Kongress, in dem die Regierungspartei, der Movimiento Quinta República (MVR), über keine Mehrheit verfügte, wurde übergangen, behindert und schließlich aufgelöst.

Nachdem sich Chávez im Zuge des Verfassungsgebungsprozesses die Kontrolle über sämtliche Institutionen gesichert hatte ging er daran, nach und nach die traditionellen Akteure – Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Parteien – zu entmachten. Wie die Regierungen vor ihm setzte er die Ressourcen des Zentralstaats gezielt ein, um seine Machtbasis in Form einer mobilisierbaren Anhängerschaft auszubauen und seinen Kontrahenten das Wasser abzugraben. Die Mitglieder der traditionellen Parteien, die bis dahin nach einem strikten Proporz ihr Auskommen im öffentlichen Sektor gefunden hatten, wurden von Chavistas verdrängt, die nach dem Triumph ihres Caudillo einen Teil der Beute – den Staat – beanspruchten. Die einst schlagkräftigen Parteiorganisationen von AD und COPEI fielen rasch in sich zusammen, da ihre Mitglieder scharenweise zu den neuen Machthabern abwanderten, die nun den Zugang zu Posten und Pfründen kontrollierten.

Chávez förderte neben seinem Wahlvehikel, dem MVR, auch die Bildung kleiner lokaler Gruppen von Anhängern, der Círculos Bolivarianos, deren Aufgabe in der Verteidigung seiner "bolivarischen Revolution" bestand. Diese Maßnahme zahlte sich aus, als Chávez infolge wirtschaftlicher Probleme im Laufe des Jahres 2001 in Bedrängnis geriet und die Opposition sich im Februar 2002 zu einem Putschversuch hinreißen ließ, der nach wenigen Tagen unter dem Druck der Straße scheiterte. Im Dezember 2002 unternahm die Opposition einen weiteren vergeblichen Anlauf, Chávez  aus dem Amt zu entfernen, dieses Mal mit einem zweimonatigen Generalstreik. Beide Male spielte der staatliche Ölkonzern PdVSA, der von den Anhängern der Opposition kontrolliert wurde, eine Schlüsselrolle.

In den folgenden Jahren festigte Chávez seine Machtstellung. Den Widerstand bei PdVSA brach er durch Massenentlassungen und die Einsetzung einer neuen Führung. Gezielte Beförderungen innerhalb der oberen Offiziersränge (die in der Verfassung von 1999 dem Präsidenten übertragen worden waren) sorgten dafür, dass das Militär seine traditionelle Neutralität aufgab und sich auf die Seite der Regierung schlug. Als dann ab dem Jahr 2003 die Öleinnahmen exorbitant stiegen, verfügte er über die notwendigen Mittel, um endgültig alle übrigen Akteure zu marginalisieren. Mit der Einrichtung sozialer Programme, der sogenannten Misiones, sicherte er sich nicht nur die Unterstützung der verarmten Barrio-Bewohner, sondern er schuf auch Verteilungskanäle, die kaum irgendeiner Kontrolle unterlagen und nach Belieben für Patronagezwecke eingesetzt werden konnten.

Neben dem hemmungslosen Missbrauch staatlicher Ressourcen griff die Regierung zu juristischen Schikanen, um die Aktivitäten der Opposition einzuschränken. Hinzu kamen aber auch taktische Fehler auf Seiten der Opposition wie der Boykott der Parlamentswahlen im Jahr 2005 und kleinliche Profilierungsversuche, die ein abgestimmtes Vorgehen erschwerten und dazu beitrugen, dass Chávez sämtliche Referenden und Wahlgänge zwischen 1998 und 2006 für sich entscheiden konnte. Ein Abberufungsreferendum, das laut Verfassung nach Ablauf der Hälfte der Amtszeit eines jeden Amtsträgers möglich ist, ging im August 2004 deutlich zugunsten Chávez’ aus. Zuletzt wurde er im Dezember 2006 mit klarer Mehrheit im Amt bestätigt.

Der entscheidende Grund für diese Entwicklung war aber nicht die Schwäche der Opposition, sondern Chávez’ erfolgreiche Strategie, den Zustand der Mobilisierung, der Ende des Jahres 1998 erzeugt worden war, zu verstetigen. In einer Reihe sehr aufschlussreicher Interviews aus der Zeit vor seiner ersten Wahl bezeichnete Chávez die Mobilisierung der Massen als das Grundprinzip seiner "bolivarischen Revolution". Vor allem diesem Zweck dienten die zahlreichen Urnengänge während seiner Amtszeit (insgesamt zehn an der Zahl), die Chávez allesamt in Plebiszite über seine Person umfunktionierte. In den Zwischenzeiten sorgte er durch gezielte Provokationen dafür, dass sich das politische Klima nur ja nicht beruhigte. Die Schlagworte, Initiativen, Feindbilder und Verschwörungstheorien, die dabei zur Anwendung kamen, sind kaum noch zu überblicken. Stellte sich heraus, dass ein taktisches Manöver, etwa die Unterstützung der FARC-Guerilla in Kolumbien, nicht den gewünschten mobilisierenden Effekt hatte, vollzog Chávez nonchalant eine Kehrtwende und versuchte eine neue Taktik. So ist es ihm gelungen, seine Anhängerschaft permanent in Bewegung zu halten, die Opposition vor sich herzutreiben und, was das entscheidende ist, jede inhaltliche Debatte, etwa über die ausufernde Kriminalität, die Lebensmittelverknappung oder die Inflation, zu verhindern. Die Opposition tappte allzu lange in diese Falle und ließ sich, indem sie Chávez persönlich angriff, auf eine direkte Konfrontation ein, die der Machtstrategie des Caudillo perfekt entsprach.

Nachdem sich dieses Muster nun seit zehn Jahren wiederholt, muss die Hoffnung, mit Chávez könnte sich ein demokratischeres, inklusiveres politisches System etablieren, begraben werden. Die gezielte Polarisierung des politischen Prozesses führte dazu, dass die Bürger jeder Möglichkeit beraubt wurden, zu Sachfragen Stellung zu nehmen. Das politische Leben in Venezuela reduzierte sich auf die Frage "für oder gegen Chávez", womit sich die Entscheidungsalternativen bei allen Wahlen und Referenden auf Zustimmung oder Ablehnung beschränkten. Die Floskel von einer partizipativen Demokratie könnte kaum hohler klingen. Zwar ist die Einbeziehung der unteren Bevölkerungsschichten in den politischen Prozess eine positive Entwicklung. Allerdings erfolgte diese Einbeziehung nicht in Form eines Empowerment, sondern in Form einer Mobilisierung von oben, die den traditionellen Mustern des Klientelismus folgt: Wer seine Stelle im öffentlichen Sektor behalten will tut gut daran, für Chávez zu stimmen und bei Demonstrationen des Regierungslagers zu erscheinen – umso mehr, nachdem Listen mit den Namen derer, die im August 2004 gegen Chávez gestimmt hatten, im Internet aufgetaucht sind. Vor den letzten Regionalwahlen soll auch Bargeld verteilt worden sein, um das Wahlverhalten in einzelnen Bezirken zu beeinflussen. Unter diesen Umständen können die zahlreichen Urnengänge nicht als Ausdruck einer funktionierenden Demokratie und als Quelle von Legitimität betrachtet werden. Die wiederholte Bestätigung Chávez’ durch die Bürger, auf die seine Sympathisanten immer wieder verweisen, ist zu einem guten Teil das Ergebnis kruder Manipulationen. Mit sinkenden Ölpreisen wird sich das schmale legitimatorische Fundament des Caudillo schnell bemerkbar machen.

Trotzdem ist die besondere Leistung Chávez’ anzuerkennen, bei allem machtpolitischen Taktieren bis heute den Anschein der Authentizität bewahrt zu haben. Teodoro Petkoff, ein ehemaliger Guerillero und Herausgeber einer regierungskritischen Zeitung, verglich Chávez einmal mit einem kleinen Jungen am Steuer eines Bulldozers, der sich an seinem Allmachtsgefühl berauscht. Einen finsteren Diktator gibt er einfach nicht ab. Da Chávez sich offenbar tatsächlich für jeden seiner Einfälle begeistern kann, wirkt er glaubwürdig und genießt nach wie vor eine hohe Popularität. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass die Venezolaner der permanenten Agitation überdrüssig sind und endlich ihre alltäglichen Probleme gelöst sehen wollen. Dies scheint inzwischen auch die Opposition verstanden zu haben, die im Vorfeld der letzten Regionalwahlen Sachfragen, insbesondere das Problem der Kriminalität, in den Vordergrund stellte und die Provokationen des Präsidenten (der unter anderem mit einem Bürgerkrieg drohte) ins Leere laufen ließ. Auf den Erfolg oppositioneller Kandidaten in wichtigen Gliedstaaten reagierte Chávez auf die gewohnte Art: Er kündigte für Februar ein Referendum an, das seine unbegrenzte Wiederwahl ermöglichen soll, nachdem ein Jahr zuvor bereits eine ähnliche Vorlage gescheitert war. Damit erzeugte er einmal mehr einen Zustand der Konfrontation und der Mobilisierung, auf der seine gesamte Machtstrategie beruht. Sollte er wieder scheitern, dürfte es aber eng werden. Nicht nur müsste er sich den immer drängender werdenden Sachfragen stellen, er müsste auch schon bald mit ausufernden Rivalitäten um die Nachfolge im eigenen Lager rechnen. Für Venezuela würde sich damit aber die Chance eröffnen, einen konstruktiveren Kurs der Demokratisierung einzuschlagen und einen Ausweg aus der Sackgasse des Populismus zu finden, in die Chávez das Land seit zehn Jahren führt.


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