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Wenig konkrete Antworten – aber kein neuer Krisengipfel

Bilanz des Europäischen Rates am 23./24.03.2006

31.03.2006 · Almut Metz und Stine Waibel



Auf dem Frühjahrsgipfel 2005 hatten die Mitgliedstaaten ein Festhalten an ihren ehrgeizigen Zielen im Bereich Wachstum, Beschäftigung und ökologische Nachhaltigkeit vereinbart, obgleich die Halbzeitbilanz der Lissabon-Strategie damals keinen Anlass für Hochstimmung gegeben hatte (Halbzeit in Brüssel - Eine Bilanz des Frühjahrsgipfels zur Lissabon-Strategie am 22./23. März 2005. Vor einem Jahr hatte die EU-25 darüber hinaus einen neuen Governance-Zyklus für die Reformstrategie erarbeitet, dessen erste Ergebnisse auf dem Frühjahrsgipfel 2006 überprüft werden sollten.

Der Rat Allgemeine Angelegenheiten unter österreichischem Vorsitz hatte im Rahmen seiner Sitzung am 27. Februar 2006 die offizielle Agenda für den Frühjahrsgipfel beschlossen. Die Staats- und Regierungschefs der 25 Mitgliedstaaten sollten sich am 23./24. März 2006 insbesondere mit folgenden Themen beschäftigen:

  • Gemeinschaftliche Wirtschaftslage und Perspektiven
  • Bewertung der Revision der Lissabon-Strategie (im Herbst 2005 vorgelegte Nationale Reformprogramme (NRPs); Kooperation mit Sozialpartnern; Implementierungsphase)
  • Fortgesetzte Aktivitäten in den drei Dimensionen der Lissabon-Strategie (Wachstum; Beschäftigung und Soziales; nachhaltige Entwicklung)
  • Vereinbarung von Prioritäten in den Schlüsselbereichen (Investitionen in Wissen und Innovation; Befreiung des produktiven Potentials der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU); Förderung der Beschäftigung jüngerer Menschen; Erarbeitung einer gemeinsamen Energiestrategie).

Angesichts der jüngsten Entwicklungen auf den Energiemärkten – der Gaskrise im Januar 2006 und der von der französischen Regierung initiierten Fusion von Suez und Gas de France zu einem weitgehend unter staatlicher Kontrolle stehenden "Energieriesen" – stand das Thema Energiepolitik ganz oben auf der Agenda und bestimmte auch die Medienberichterstattung über den EU-Gipfel.

Die Verfassungsfrage, zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine der dringlichsten Baustellen der Europapolitik, wurde hingegen nur am Rande des Gipfels von den Außenministern aufgegriffen und soll erst zum Abschluss der österreichischen Präsidentschaft auf dem Juni-Gipfel 2006 auf die Agenda gesetzt werden. Ratspräsident Wolfgang Schüssel und Kommissionspräsident José Manuel Barroso hatten bereits beim Auftakttreffen der Ratspräsidentschaft mit der Kommission im Januar 2006 den Zusammenhang zwischen den beiden Großthemen der "österreichischen" Gipfel hervorgehoben: Die wirtschaftliche Performanz der EU, die Arbeitmarktsituation in den Mitgliedstaaten und die Bildungschancen seien Themen, an denen der Bürger den Erfolg der EU messe, und deren positive Entwicklung die Zustimmung zur europäischen Verfassung steigern könnte.

Ausgangslage, zentrale Ergebnisse und Bewertung

1. Lissabon-Strategie und Nationale Reformprogramme

Die Staats- und Regierungschefs hatten sich vor einem Jahr auf eine Reform der Lissabon-Strategie und ihrer Methodik geeinigt. Anknüpfend an integrierte Leitlinien, die auf der Basis jedes Frühjahrsgipfels erstellt werden, sollen demnach die Mitgliedsstaaten ein Nationales Reformprogramm entwickeln und die Kommission jährlich über die Umsetzung des Programms informieren. Auf jedem Frühjahrsgipfel können die integrierten Leitlinien gegebenenfalls an neue Entwicklungen angepasst werden.

Diesem Beschluss folgend hatten die Mitgliedstaaten im Herbst 2005 der Kommission die erste Runde der Nationalen Reformprogramme vorgelegt. Im Januar 2006 veröffentlichte die Kommission daraufhin ihren jährlichen Forschrittsbericht "Wachstum und Beschäftigung" (Kommissionsdokumente sowie Nationale Reformprogramme).

Der Fortschrittsbericht 2006 besteht aus drei Teilen:

  • einer Bewertung zum Erstellungsprozess der Reformprogramme und einer Auflistung von beispielhaften nationalen Initiativen, die dem Europäischen Rat Orientierung für seine neuen Zielvorgaben geben soll;
  • einer Analyse der 25 Nationalen Reformprogramme im Hinblick auf ihre Stärken und Schwächen (ebenfalls bewertet wird die Eurozone);
  • einer Analyse der makro- und mikroökonomischen sowie beschäftigungspolitischen Aspekte der NRP.

Die Kommission benennt darüber hinaus vier prioritäre Bereiche, in denen sie besonderes Engagement seitens der Mitgliedsstaaten erwartet: (1) Investitionen in Bildung, Forschung und Innovation, (2) Entlastung der KMU, (3) Beschäftigungsförderung und (4) Sicherstellung einer nachhaltigen Energieversorgung. Zu jedem dieser Bereiche enthält der Bericht konkrete Vorschläge, die den Staats- und Regierungschefs auf dem Frühjahrsgipfel zum Beschluss vorgelegt wurden und bis zum nächsten Frühjahrsgipfel im März 2007 umgesetzt werden sollen.

Für die kommenden Monate schlug die Kommission im Fortschrittsbericht an den Gipfel drei Schwerpunkte vor:

  • Die Implementierung und Überwachung der Nationalen Reformprogramme (hier sollen die Mitgliedstaaten im August 2006 Bericht erstatten).
  • Ein gezieltes Handeln auf Gemeinschaftsebene (Abschluss der Interinstitutionellen Vereinbarung zur Finanziellen Vorausschau, damit Investitionen für die Wachstums- und Beschäftigungsagenda ab Januar 2007 getätigt werden können; rasche Umsetzung der Lissabon-Maßnahmen, die auf dem Frühjahrsgipfel beschlossen werden).
  • Die Mobilisierung aller Akteure für die gemeinsame Agenda (Europäisches Parlament, dem eine Schlüsselposition bei der Schaffung von öffentlichem Bewusstsein zukomme; Rolle der Sozialpartner in der Umsetzungsphase).

Bereits im Vorfeld des Gipfels hatte die österreichische Präsidentschaft Wert darauf gelegt, die Sozialpartner in die Diskussion um die Lissabon-Strategie einzubeziehen. So waren zum informellen Treffen der Arbeits- und Sozialminister vom 19.-21. Januar 2006 in Villach unter anderem Vertreter der europäischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände eingeladen. Auf dem Europäischen Rat selbst kamen zu Beginn des Gipfels in der traditionellen Aussprache mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Josep Borrell Fontelles, erstmals auch die Präsidenten der europäischen Arbeitgeber- (UNICE) und Arbeitnehmerverbände (ETUC) zu Wort. "Ich halte es für eine Bereicherung der wirtschaftspolitischen Debatte, jene in unserer Überlegungen mit einzubeziehen, die letztlich für die Schaffung von Arbeitsplätzen und das Wirtschaftswachstum zuständig sind“, so Ratspräsident Schüssel in seiner Presseerklärung zum Gipfel.

Die Beschlüsse des Europäischen Rates zur Lissabon-Strategie, dokumentiert in den offiziellen Schlussfolgerungen des Vorsitzes, sind wenig überraschend ausgefallen. Die Staats- und Regierungschefs beschlossen folgende konkrete Zielvorgaben:

  • Im Zeitraum von 2005-2007 sollen innerhalb der EU sechs Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um die Arbeitslosigkeit bis 2007 um ein Prozent zu senken.
  • Der Anteil der Schulabbrecher soll um zehn Prozent verringert werden.
  • Arbeitslosen Schulabgängern soll bis 2007 innerhalb von sechs Monaten ein Job, eine Lehrstelle, eine Weiterbildung oder eine andere berufsvorbereitende Maßnahme angeboten werden (2010: vier statt sechs Monate).
  • Für KMU soll ein günstigeres Geschäftsumfeld geschaffen werden, der Regulierungsrahmen soll simplifiziert und transparenter gemachte werden.
  • Das "one-stop-shop"-Prinzip soll Unternehmertum fördern; bis Ende 2007 soll überall in der EU eine Unternehmensgründung innerhalb einer Woche möglich sein.
  • Bis zum Jahr 2010 sollen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf 3,0 Prozent des Bruttoinlandprodukts steigen und der Privatsektor verstärkt in derartige Investitionen einbezogen werden.

Kritiker halten diese Zielvereinbarungen für wenig sinnvoll, da die Realisierungschancen innerhalb des angestrebten Zeitraums gering seien. Tatsächlich ist ein zentrales Defizit der Lissabon-Strategie, dass diese sich mit dem ehrgeizigen Ziel, bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten, innovativsten und nachhaltigsten Wirtschaftsraum der Welt werden zu wollen, die Messlatte so hoch gelegt hat, dass die Strategie schnell an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Andererseits hat die Vergangenheit gezeigt, dass konkrete Zielvorgaben verbunden mit den entsprechenden (realistischen) Zeitvorgaben durchaus ein Garant für Erfolg sein können – verwiesen sei auf das Paradebeispiel des Binnenmarkt-Programms "Europa '92".

Da die Ziele Wachstum und Beschäftigung nicht auf Kosten sozialer Kohäsion verfolgt werden sollen (ein Schwerpunkt, der seit dem Frühjahrsgipfel 2005 an Bedeutung gegenüber den Wachstums- und Beschäftigungszielen verloren hat) werden die Mitgliedstaaten ersucht, bis September 2006 nationale Berichte zum sozialen Schutz und zur sozialen Inklusion für den Zeitraum 2006-2008 einzureichen. Weiterhin soll bis 2007 ein so genannter Globalisierungsfonds eingerichtet werden. Dieser soll Arbeitnehmern, die von Umstrukturierungsmaßnehmen betroffenen sind, helfen, möglichst bald wieder einen Platz auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Der Fonds steht damit im Kontext des in jüngerer Zeit in den Debatten an Prominenz gewonnenen "Flexicurity"-Ansatzes, der eine Balance zwischen Arbeitsflexibilität auf der einen und Beschäftigungssicherheit auf der anderen Seite herstellen soll. Einen Vorschlag zur konkreten Umsetzung des "Europäischen Fonds für die Anpassung an die Globalisierung" (EGF) mit einer Mittelausstattung von bis zu 500 Mio. Euro jährlich hatte die Kommission am 1. März 2006 vorgelegt. Dieser soll jedes Jahr bis zu 50.000 Arbeitskräfte EU-weit unterstützten. Rat, EP und Kommission sollen nun die entsprechenden Maßnahmen ergreifen, um den Fonds vorzugsweise bis Januar 2007 operationsfähig zu machen.

Weiterhin haben sich die Regierungschefs auf die Einrichtung eines Europäischen Technologieinstituts (EIT) verständigt. Das EIT soll die Kommunikationslücken zwischen Bildung, Forschung und Innovation schließen. Angestrebt ist die Form eines Netzwerkes: Das EIT soll auf der Kooperation bereits bestehender Institutionen aufbauen, um die Etablierung zusätzlicher bürokratischer Strukturen zu vermeiden. Universitäten, Firmen und Forschungsinstitute sollen Synergien gezielter nutzen und die Bereiche Bildung, Forschung und Innovation sinnvoll miteinander verbinden. Es ist geplant, das EIT aus Mitteln des EU-Haushalts sowie der Mitgliedstaaten und der Privatwirtschaft zu finanzieren. Schon im Juli 2006 soll die Kommission einen detaillierten Vorschlag zur praktischen Umsetzung des Projekts vorlegen.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der Europäische Rat es erneut versäumt hat, qualitative Unterschiede in der Performanz der Mitgliedstaaten im Kontext der Lissabon-Strategie zu thematisieren. Er hat sich lediglich damit begnügt, auf den Fortschrittsbericht der Kommission zu verweisen. Kritiker fordern seit langem, den Mechanismus des "naming, blaming, shaming" zu stärken, um den öffentlichen Druck auf die Mitgliedstaaten zu erhöhen (vgl. Almut Metz: Too Open for Its Own Good? Six Proposals for Taming Open Co-Ordination). Im Vorfeld des Gipfels wurde die fehlende Öffentlichkeit für die Ergebnisse der Reformmaßnahmen als ein zentrales Defizit der Lissabon-Strategie in den Mitgliedstaaten angeprangert (so etwa der Brüsseler Think Tank "Bruegel" in seinem Papier "Letzte Ausfahrt nach Lissabon".

Die beim Frühjahrsgipfel beschlossenen Wirtschaftsreformen gilt es nun in die Tat umzusetzen. Die Kommission kann das Handeln der nationalen Regierungen überwachen und diese ermahnen. Ob es zu einer Erfolg versprechenden Umsetzung der Lissabon-Strategie kommt, liegt jedoch weiterhin in erster Linie in der Macht der Mitgliedstaaten, die mit der nötigen Reformwilligkeit entsprechende Maßnahmen konsequent verfolgen müssen. Vor allem die alten Mitgliedstaaten haben hier im Vergleich zur den neuen "reformfreudigeren" Staaten Aufholarbeit zu leisten.

Deutlich wird in den Schlussfolgerungen, dass die Mitgliedstaaten angesichts der akuten Akzeptanzkrise der EU in der Bevölkerung versucht haben, "bürgernahe" Beschlüsse – wie etwa zum "one-stop-shop"-Prinzip – zu treffen. Mehr denn je haben die vergangenen Monate gezeigt, dass die Bürger die EU in erster Linie anhand ihres Erfolges im Bereich Wirtschaft und Soziales messen. Institutionelle Fragen – obgleich diese natürlich eng verknüpft sind mit der Frage der Handlungsfähigkeit der EU – sind hingegen in der Wahrnehmung der Bürger nebensächlich.

2. Dienstleistungsrichtlinie

Bereits im Vorfeld des Gipfels, beim Treffen der Wirtschaftsminister Mitte März 2006 in Brüssel, hatte sich abgezeichnet, dass die österreichische Präsidentschaft keine Einigung zur Dienstleistungsrichtlinie würde herbeiführen können. Die im Februar 2006 vom Europäischen Parlament vorgelegte überarbeitete Fassung der Richtlinie sah vor, das Herkunftslandsprinzip zu streichen: Unternehmen sollen weiterhin die Regeln des Ziellandes befolgen müssen, wenn dies aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich sei. Während sich die Kommission und einige Mitgliedsstaaten (darunter Deutschland und Österreich) einig sind, dass eine Verständigung über den freien EU-Binnenmarkt für Dienstleistungen auf Basis des parlamentarischen Kompromisses erfolgen müsse, sind andere Mitgliedstaaten, etwa Großbritannien und Polen, Befürworter einer liberalen Lösung entlang des ursprünglichen Entwurfs der Dienstleistungsrichtlinie.

Auf dem Frühjahrsgipfel, wie anfänglich von Österreich erhofft, gab es erneut keine Einigung über das umstrittene Gesetzesvorhaben. Im April 2006 soll die Kommission dem informellen Rat der Wirtschaftsminister in Graz ihren überarbeiteten Richtlinienentwurf vorlegen, der sich eng am Votum des Europäischen Parlamentes orientiert und eine Reihe von Dienstleistungen ausnimmt, die nicht von der Gesetzgebung erfasst werden sollen (darunter der Gesundheits- und staatlich geregelte Pflegebereich). Zuvor will Kommissionspräsident Barroso am 4. April 2006 im Europäischen Parlament persönlich um die Zustimmung der Abgeordneten werben.

3. Energiepolitik

Die Kommission hatte in der zweiten Märzwoche 2006 in einem Grünbuch Vorschläge für eine europäische Energiestrategie vorgelegt. Darin enthalten sind sechs vorrangige Bereiche, die dazu beitragen sollen, drei zentrale Ziele der Energiepolitik – nachhaltige Entwicklung, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit – abzusichern:

  • Vollendung des Energiebinnenmarktes;
  • Versorgungssicherheit;
  • nachhaltig ausgerichteter, effizienter und vielfältiger Energieträgermix;
  • Gegenmaßnahmen zur globalen Erderwärmung;
  • Einsatz energieeffizienter und kohlenstoffarmer Technologien;
  • gemeinsame Energieaußenpolitik.

Das Grünbuch der Kommission sollte auf dem Frühjahrsgipfel diskutiert werden. Auf die Agenda kam das Thema Energiepolitik durch jüngere Entwicklungen auf dem Energiemarkt, die den Europäern ihre Verwundbarkeit vor Augen geführt hatten: Der russisch-ukrainische Gas-Streit hatte Anfang Januar 2006 den Druck auf die EU-Mitgliedstaaten schlagartig erhöht. Die Drosselung von Gaslieferungen durch den staatlichen russischen Gasprom-Konzern an das Transitland Ukraine hatte in einigen EU-Staaten im Januar 2006 zu Engpässen geführt. Das Thema Energiepolitik erhielt weiteres politisches Sprengpotenzial, als die französische Regierung in einem Eilverfahren im Februar 2006 die Übernahme des Energiekonzerns Suez durch den staatlich kontrollierten Versorger Gaz de France einleitete, um einer Übernahme aus dem Ausland zuvor zu kommen. Der italienische Enel-Konzern hatte zuvor Interesse an Suez angemeldet. Diese Intervention der französischen Regierung torpedierte aus Sicht von Kritikern die Schaffung eines Energie-Binnenmarkts. Ähnlich wie Frankreich hatte auch die spanische Regierung versucht, die Übernahme des nationalen Versorgers Endesa durch einen ausländischen Investor – in diesem Fall Eon – zu verhindern. Das Thema "nationaler Protektionismus" drohte zwischenzeitlich zum Konfliktthema Nummer eins des Gipfels zu werden – eine italienische Initiative für einen Protestbrief an die österreichische Präsidentschaft verlief jedoch aufgrund mangelnder Unterstützung weiterer EU-Mitglieder im Sande.

Die Staats- und Regierungschefs haben auf dem Gipfel das Thema Energiepolitik – ganz explizit ist von "policy", nicht lediglich von "strategy" die Rede, auch wenn der Gemeinschaftsebene keine Kompetenzen in diesem Bereich zugestanden werden – zu einem zentralen Zukunftsprojekt gemacht. Man einigte sich auf eine "Energy Policy for Europe" (EPE), die eine bessere Kooperation unter den Mitgliedsstaaten im Energiesektor fördern soll. Deren zentralen Punkte sind: (1) Versorgungssicherheit, (2) Wettbewerbsfähigkeit und (3) ökologische Tragfähigkeit. Bei der Erfüllung dieser Zielvorgaben wird Wert auf das Subsidiaritätsprinzip gelegt. Die Wahl von Energiequellen und der Energieträgermix sollen als nationale Souveränitätsbereiche respektiert werden. Die Kommission wurde aufgefordert, bis zum nächsten Gipfeltreffen im Juni 2006 einen Bericht vorzulegen, auf dessen Basis weitere Entscheidungen getroffen werden sollen. Ab 2007 wird die Gemeinschaft jährlich eine "Strategic Energy Review" erstellen, die die erzielten Forschritte bewerten und zukünftige Maßnahmen formulieren soll.

Im Anhang der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zum Gipfeltreffen wird den Mitgliedstaaten anhand einer Liste von Handlungsalternativen nahe gelegt, wie sie eigene Potentiale ausnutzen und einen Beitrag zum Erreichen der Energieziele leisten können.

4. Institutionelle Fortentwicklung der EU

Die Zukunft des Verfassungsvertrages ist angesichts der gescheiterten Referenden und der Ratlosigkeit in den europäischen Hauptstädten derzeit ungewiss – und doch zeigt der Verfassungsprozess erste institutionelle Auswirkungen: Unabhängig vom In-Kraft-Treten der Verfassung wurde der luxemburgische Premier- und Finanzministerminister Jean-Claude Juncker im Januar 2005 für zwei Jahre zum ersten Präsidenten der mit dem Vertrag von Nizza noch informellen Eurogruppe gewählt. Zum ersten Mal taucht die Eurogruppe in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates nun mit einem Passus zur wirtschaftspolitischen Koordinierung auf, der auf Betreiben ihres Vorsitzenden aufgenommen wurde – damit kündigt sich ein weiterer Bedeutungszuwachs der Eurogruppe an, die jüngst auch vom belgischen Premier Guy Verhofstadt als Nukleus für die Weiterentwicklung der EU innerhalb eines differenzierten Europa ins Spiel gebracht wurde.

5. Weißrussland

Trotz einer außenpolitisch konfliktreichen Lage – erinnert sei an die Krise um das iranische Nuklearprogramm, die EU-Mission im Kongo, die neue palästinensische Hamas-Regierung, die Wahlen in Israel und den Karikaturenstreit – enthalten die Schlussfolgerungen zum Thema Außenbeziehungen lediglich einen Passus zu den Wahlen in Weißrussland. Die "Deklaration zu Weißrussland" erklärt das Land vor dem Hintergrund unfair und unfrei verlaufener Wahlen zur "traurigen Ausnahme" auf einem Kontinent "offener und demokratischer Staaten". Die Staats- und Regierungschefs kündigen restriktive Maßnahmen in Abstimmung mit ihren internationalen Partnern an. Die Mitgliedstaaten fordern Weißrussland dazu auf, alle unrechtmäßig verhafteten Personen frei zu lassen und keine weiteren unterdrückenden Maßnahmen gegen Oppositionelle zu unternehmen. Einen positiven Aspekt der Entwicklung im Land erblickt der Europäische Rat im Widerstand der demokratischen Opposition und der Zivilgesellschaft. Es wird insbesondere an die Nachbarstaaten appelliert, einen ähnlichen konsequenten Ansatz gegen Weißrussland zu verfolgen. Damit üben die Mitgliedstaaten zwischen den Zeilen auch Kritik an Russland, hatte der russische Präsident Wladimir Putin doch Alexander Lukaschenko unmittelbar nach dem umstrittenen Wahlsieg gratuliert (vgl. Andreas Heindl: Die Überwindung der Angst? Die Präsidentschaftswahlen in Belarus).

6. Kein Thema trotz "Phase des Nachdenkens": die Verfassungsfrage

"Ein Drahtseilakt" – so bezeichnete die Financial Times Deutschland die Herausforderungen, die auf Wolfgang Schüssel im Zuge der Übernahme der europäischen Ratspräsidentschaft zukommen würden. In Anbetracht einer EU-skeptischen Haltung der Österreicher müsse Schüssel einerseits Vorbereitungen für die österreichischen Parlamentswahlen Ende des Jahres 2006 treffen, und andererseits die Interessen Europas vertreten. Die jüngsten Eurobarometerumfragen vom Herbst 2005 belegen einen deutlichen Abwärtstrend in der Unterstützung des europäischen Projekts. Nur 32 Prozent der befragten Österreicher sehen einen Nutzen in der EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes. Im Sommer 2004 waren es noch 46 Prozent, im Frühjahr 2005 37 Prozent.

Schüssel trat den EU-Vorsitz darüber hinaus mitten in der Reflexionspause zur EU-Verfassung an – eine kritische Phase, denn die Verfassungskrise hat eine viel tiefere Akzeptanz- und Legitimationskrise der EU aufgedeckt, die sich wesentlich schwieriger beheben lassen wird als die Ratifizierungskrise (siehe dazu etwa den pragmatischen Ansatz der Verabschiedung eines "Vertrags zum Vertrag von Nizza", der die zentralen Innovationen der Verfassung in einem Änderungsvertrag zum Vertrag von Nizza bündelt).

Schüssel bekräftigte vor Antritt seines Amtes, den Dialog mit der Bevölkerung beleben und bei der Vermittlung Europas insbesondere auf gemeinsame Werte setzen zu wollen. Die Tagung "Sound of Europe", die Ende Januar 2006 in Salzburg stattfand und an der namhafte Vertreter aus Kultur, Wissenschaft und Politik teilnahmen, griff diesen Ansatz auf, blieb jedoch eine Versammlung von Eliten.

Der österreichischen Präsidentschaft ist es bisher nicht gelungen, weitere Akzente in der Verfassungs- und Identitätsfrage zu setzen. Fast gebetsmühlenartig verweist die Präsidentschaft auf den Juni-Gipfel 2006, auf dem eine Bilanz der Reflexionsphase im Vordergrund stehen soll. Beobachter gehen nicht davon aus, dass Schüssel und sein Team das Thema Verfassung inhaltlich aufgreifen werden, es wird lediglich eine Vereinbarung über das weitere Vorgehen erwartet. Kritik an der österreichischen Zurückhaltung kam bereits von finnischer Seite. Die Finnen sehen angesichts der ungelösten Verfassungsfrage der Übernahme des Staffelstabs im zweiten Halbjahr 2006 mit Besorgnis entgegen. Von Finnland sind wohl ebenso wenig Akzente in der Verfassungsfrage zu erwarten. Im Ergebnis wird es Aufgabe der deutschen Präsidentschaft sein, das Thema Verfassung – nach den Wahlen in  Frankreich und den Niederlanden – im ersten Halbjahr 2007 wieder auf die Tagesordnung zu setzen.

Nach dem Frühjahrsgipfel stehen der österreichischen Ratspräsidentschaft die größten Herausforderungen noch bevor. Neben der Aufarbeitung der Verfassungskrise zählen dazu auch die sich konkretisierenden Erweiterungspläne – der Beitritt von Rumänien und Bulgarien sowie in weiterer Ferne der Türkei, Kroatien und Mazedonien – und die Frage nach einer möglichen Beitrittsperspektive für die Balkanstaaten Serbien-Montenegro, Bosnien-Herzegowina und den Kosovo.

7. Links

Europäischer Rat (Brüssel), 23./24. März 2006, Schlussfolgerungen des Vorsitzes

Zeit zu handeln – Fortschrittsbericht 2006 über Wachstum und Beschäftigung der Europäischen Kommission, Januar 2006

Grünbuch "Energie" der Europäischen Kommission, März 2006

Offizielle Website des österreichischen EU-Vorsitzes

Aurore Wanlin: The Lisbon Scoreboard VI - Will Europe's Economy Rise Again?, Lissabon-Bewertung des Center for European Reform, März 2006

Last Exit to Lisbon – Papier des Brüsseler Think Tanks "Bruegel"

Aktivitäten und Schwerpunkte des Berliner Think Tanks "Ecologic - Institute for International and European Environmental Policy" im Bereich Energiepolitik

Sonderseiten des "EUobserver" zur neuen Energiepolitik für Europa

Almut Metz: Too Open for Ist Own Good? Six Proposals for Taming Open Co-Ordination, EU- Reform Spotlight 1/2006

Andreas Heindl: Die Überwindung der Angst? Die Präsidentschaftswahlen in Belarus, C·A·P-Position, März 2006

Bertelsmann Forschungsgruppe Politik: Ein Vertrag zur Reform des Vertrags von Nizza, Juli 2005


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