Machtkampf um Deutungshoheit?
Die sozio-ökonomischen Leitlinien der Vergangenheit sind erodiert
24.06.2005 · Von Werner Weidenfeld
So sehr die Zwischenzeit von radikalen Veränderungen geprägt ist, so sehr fehlt uns die ordnende Idee für die Gesellschaft von morgen. Das Zusammenwachsen der Deutschen zum Angstkollektiv, das sich, weit über gelegentliche Eruptionen von Pessimismus und Ratlosigkeit hinaus, in eine Art mentaler Dauerparalyse und permanenter Frustration niederschlägt ist schon beunruhigend genug. Tagtägliche Referenzen auf negative Befindlichkeiten wie Untätigkeit, Unwirksamkeit und Erfolglosigkeit machen das angespannte Klima nicht besser. Dieser Angstzustand kann sich aber negativ auf unser soziales Miteinander auswirken. Schon heute zeichnet sich der Verschleiß der sozialen Kohäsion ab: Immer mehr Konfliktlinien spannen sich wie ein Netz durch unsere Gesellschaft: Politik versus Kapital, Unternehmer versus Arbeitnehmer, Reich versus Arm, Alt versus Jung, Individualismus versus Korporativismus, um nur einige zu nennen. Und allen gemein ist die alte Frage nach Verteilung und Gerechtigkeit, die in einer globalisierten Gesellschaft neu gelöst werden muss.
Der Kompass, der unserer Gesellschaft den Weg durch die globalisierte Landschaft weisen soll, ist noch nicht justiert. Die Interessen und Handlungsziele der gesellschaftlichen Akteuren sind vielfältig, was zwar unseren pluralistischen und transnationalen Strukturen entspricht. Für die Zukunft unserer Gesellschaft ist aber das soziale Miteinander von entscheidender Bedeutung -- dementsprechend muss sich die Kompassnadel am Gemeinwohl ausrichten. Entscheidend im Ringen um das für das Gemeinwohl Zuträgliche ist ein balancierter Interessenausgleich gepaart mit nachhaltig strategischem Handeln der Politik, aber auch ein konzertiertes Miteinander aller gesellschaftlichen Akteure. Die komplexen Kräfte und Dynamiken der Globalisierung, insbesondere der Wirtschaft und der internationalen Finanzmärkte, dürfen nicht ungebremst ihrer genuinen Sachlogik folgen. Um soziale Kohäsion auch in Zukunft zu ermöglichen müssen strategische Steuerungselemente an der Schnittstelle von Wirtschaft, Politik und Kultur entwickelt werden, die das soziale Miteinander auch in Zukunft garantieren.
Inmitten dieser bewegten Zeiten fordern die Menschen zukunftsorientiertes Handeln. Deshalb wurde das Projekt Fore/sight von der Alfred Herrhausen Gesellschaft mit wissenschaftlicher Beratung des Centrums für angewandte Politikforschung und in Zusammenarbeit mit TRIAD Berlin Ende 2004 auf den Weg gebracht. Es möchte sich den zentralen Herausforderungen des sozialen Wandels stellen und erste Ansätze für die Zukunftssicherung unserer Gesellschaft erarbeiten. Der Name fore/sight soll zum Programm gemacht werden. Fore/sight bedeutet Voraussicht und Vorsorge. Wir möchten vorausschauen, damit unsere Gesellschaft heute die Vorsorge für morgen treffen kann. Dazu bedarf es zunächst einer detaillierten und umfassenden Bestandsaufnahme: Was sind die radikalen Veränderungen und neuen Aufgaben, vor denen unsere Gesellschaft steht? In einem zweiten Schritt gilt es, die Strategien und die Steuerungsinstrumente zu entwickeln, mit denen wir diesen Herausforderungen begegnen können. Wir dürfen die Zukunft nicht nur zur Kenntnis nehmen, wir müssen sie auch aktiv gestalten. Dieses ambitionierte Unterfangen findet in unserem Zukunftskongress in Weimar seinen Höhepunkt. Die Vorbereitung für unser Zusammentreffen wurde im Rahmen von drei Impulskonferenzen in München im November 2004 sowie Januar und März 2005 garantiert. Insgesamt 90 Meinungsmacher aus Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, Politik und Kultur widmeten sich einem facettenreichen Themenkatalog, der die relevanten gesellschaftlichen Zukunftsfragen aufwarf. Die wertvollen Beiträge der Konferenzteilnehmer fließen über die Aufarbeitung der Ergebnisse in Weimar ein. Als besonders erfolgreich hat sich dabei der interdisziplinäre Ansatz erwiesen. Er ermöglicht eine vielschichtige und umfassende Bestandsaufnahme und entspricht unserem Anspruch, gesamtgesellschaftliche Ansätze zu formulieren. Mit weitem Blick wollen wir in Weimar nun den notwendigen Scharfsinn und die Kreativität entfalten, um neue Anknüpfungspunkte, ethisch angeleitete Handlungsoptionen und erweiterte Verpflichtungen für die Gesellschaft von morgen zu entwickeln. Im Zentrum geht es uns dabei um künftige Orientierung und das soziale Miteinander in der Zukunftsgesellschaft.
Wer produziert Orientierung?
Globalisierung und technologische Innovationen erzeugen einerseits Hoffnungen auf neue Chancen, andererseits aber auch Orientierungslosigkeit. Dies wird deutlich durch eine Unentschiedenheit für sichere gesellschaftliche Dispositionen. In unserer Gesellschaft herrscht ein dialektisches Prinzip der Kompensation, eine Gleichzeitigkeit von gesellschaftlichen Gegensätzen, die für ein zersplittertes individuelles und kollektives Selbstbewusstsein steht. Gleichzeitig werden durch den sozialen Wandel nicht nur die sozio-ökonomischen Lebensgrundlagen neu konfiguriert, sondern auch die Software gesellschaftlicher Deutung und Steuerung entwertet. Darin liegt die Dramatik unsere Zwischenzeit: Es fehlt an Deutungsmustern und vertrauten Sinnanbietern, die moralische Kontinuität in Zeiten der Veränderungen ermöglichen. Das traditionelle Wissen und die bestehenden gesellschaftlichen Regelsysteme geben heute einfach keine ausreichenden Antworten mehr, wie Risiken und Konflikte anzugehen sind. Dies resultiert aus einem vierfachen Autoritätsverlust in modernen Gesellschaften:
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der Entmythologisierung des wissenschaftlich- technologischen Paradigmas;
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dem Versagen des politisch-bürokratischen Paradigmas;
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der Korruptionsanfälligkeit von Wirtschaftssystemen
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den Interpretationsschwächen herkömmlicher Sinnanbieter und Symbolanalytiker.
Noch in den 60er und 70er Jahren herrschte die Auffassung vor, dass mit Wissenschaft, Prognostik und Technologie alles machbar sei. Mit dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 ist das wissenschaftlich-technologische Paradigma der modernen Gesellschaft aber spätestens implodiert. Tschernobyl avancierte zum Symbol der Entmythologisierung einer von Wissenschaft und Technokratie beseelten Welt. Der 11. September hat den wissenschaftlichen Autoritätsverlust schließlich durch ein politisch-bürokratisches Versagen ergänzt. Die gesellschaftlichen und staatlichen Akteure haben die Risikoeinschätzung des Terrorismus nicht oder falsch wahrgenommen, so dass heute ein größeres Risikopotenzial in allen Bereichen bei gleichzeitigen Ohnmachts- und Angstgefühlen festzustellen ist. Darüber hinaus haben die Finanzskandale der jüngsten Zeit, die mit der atemberaubenden Bilanzfälschung von Enron im Jahre 2001 ihren Höhepunkt erreichten, den Ruf der Kapitalgesellschaften gehörig ramponiert und das Vertrauen in ein, dem Gemeinwohl zuträglichen Wirtschaftssystem zerstört. Das kriminelle Verhalten einiger weniger Manager trieb ganze Unternehmen in den Ruin, gefährdete die Existenz von Arbeitnehmern und schädigte Anteilseigner. Vor dem Hintergrund dieses vielschichtigen und massiven Autoritätsverlustes der modernen Gesellschaften versiegen die traditionellen Quellen gesellschaftlicher Vitalität: Parteien, Gewerkschaften und Kirchen bieten heute schlichtweg keine verlässlichen Lagebeurteilungen mehr. So waren die Parteien einst wichtige Foren für dynamische Reflexion, Wertediskussionen, Meinungsbildung und Nachwuchsförderung. Heute ist ihr ideeller Mehrwert geringer, sie stellen fast nur noch formale Wahlkampfbündnisse dar - ein Grund für immer mehr Bürger aus den Parteien auszutreten. Erschüttert ist auch die Stellung der Kirchen. Rund 300.000 Christen verlassen jährlich ihre Kirche, das Vertrauen der Menschen in die katholischen und protestantischen Institutionen schwindet mit dem graduellen Prozess der Entkirchlichung. Die Krise der Volkskirchen führt dabei jedoch keineswegs in die religionsfreie Gesellschaft. An die Stelle allgemeinverbindlicher Werte und gemeinsamer institutioneller Bindungen tritt ein moderner Eklektizismus und Synkretismus, der mit dem Rückzug des Einzelnen ins Private einhergeht.
Wenn einst bewährte soziale Regel- und normative Koordinatensysteme der Dramatik der Zeit nicht mehr gewachsen sind: Wer gibt uns in Zukunft Zuversicht, Vertrauen und Orientierung? Welche Normen und Institutionen verschaffen sozialen Regelsystemen ihre Legitimität und ermöglichen dem Einzelnen gemeinverträgliche Orientierung? Wie können die traditionellen Sinnanbieter verlorenes Vertrauen zurückgewinnen? Oder müssen wir uns auf die Suche nach neuen Wertproduzenten machen? Gewiss ist nur eines: In einer haltlosen, entgrenzten Welt braucht unsere Gesellschaft sinnstiftende Vitalquellen, die in Form von Orientierung die Stabilität des sozialen Miteinanders garantieren können.
Ist Gewinnmaximierung wichtiger als Standortpatriotismus?
Auch in der Wirtschaft haben wir derzeit große Probleme mit unserer Orientierung. Die strukturellen Folgen der Globalisierung haben die räumliche Gebundenheit der Wirtschaft aufgehoben. Immer mehr Kapital fließt durch den transnationalen Raum und wird dort investiert, wo Wertsteigerung am aussichtsreichsten ist. Nationale Märkte sind zu einem Weltmarkt zusammengewachsen, in dem sich globale Unternehmen einem harten Wettbewerb aussetzen müssen. Der globalen Marktdynamik folgend, richtet sich ihre Wertschöpfungslogik zunächst an den ökonomischen Imperativen aus, denn nur erfolgreiche Unternehmen können ihr Überleben sichern. Dieses Verhalten führt auch immer öfter dazu, dass sich deutsche Unternehmen zusätzliche Standbeine in Ländern mit Niedriglohnkosten aufbauen; mit der Folge, dass die Beziehung zum ursprünglichen Heimatstandort über Standortverlagerungen und der Entlassung von Arbeitskräften sukzessive aufweicht. Der Grad der internationalen Arbeitsteilung ist mittlerweile sogar soweit angestiegen, dass Waren im Fertigungsprozess mehrmals den Standort wechseln können, je nachdem wo die Produktionskosten am billigsten und adäquate technologische Vorrichtungen vorhanden sind. Die Praxis des Offshoring oder Outsourcing globaler Unternehmen ergibt sich auf den Sachzwängen des internationalen Wettbewerbs und folgt dem neoliberalen Duktus des freien Marktes.
Gleichzeitig befindet sich die deutsche Wirtschaft in einem Besorgnis erregenden Zustand. Der Befund muss erschrecken: Die Arbeitslosigkeit steigt stetig an, strukturelle Probleme schrecken Investoren ab und geringe Nachfragewerte verhindern einen nachhaltigen Aufschwung in der Konjunktur. Insgesamt ist der Standort Deutschland mit seinen niedrigen Wachstumsraten ins internationale Mittelmaß abgerutscht. Als Folge sehen sich viele Menschen von den negativen Folgen kapitalistischer Dynamik in ihrer Existenz bedroht, empfinden sie als ungerecht, unsozial und in ihren Auswüchsen schlichtweg ausbeuterisch. Im Vorwurf der Entsolidarisierung gegenüber den Unternehmen steckt auch das Verlangen nach gesteigertem Vaterlandsbewusstsein der Unternehmer - somit erhält der konservativ geprägte Begriff Patriotismus eine ökonomische Dimension. Für mehr Solidarität und weniger Eigeninteresse wird geworben, für Absicherung und gegen Unsicherheit. Die Angst um Besitz und Wohlstand, um Entfremdung und Konflikt treibt die Menschen um. Insbesondere Globalisierungskritiker reagieren mit Verve auf die negativen Konsequenzen von unendlichen Liberalisierungsprozessen. Denn anders als prophezeit führt die Entfesselung der Marktkräfte über Deregulierung nämlich keineswegs zum Wohlstand für alle. Im Gegenteil, die soziale Schere klafft immer weiter auseinander.
Aus dieser steigenden Ungleichheit heraus bildet sich fruchtbarer Nährboden für soziale Spannungen, die emotional aufgeladen in der Öffentlichkeit diskutiert werden: So werden derzeit die Millionenprofite globaler Unternehmen der Arbeitslosenstatistik gegenübergestellt, die Managergehälter in Relation mit dem Arbeitslosengeld II gesetzt. Droht etwa die Kultur des Korporativismus zu kippen? Dass eine intensive Debatte über die öffentliche Verantwortung von Unternehmen überfällig ist, steht außer Frage. Grund zur Besorgnis macht jedoch die polarisierende treiberische Angriffslust gegen die Unternehmer, denn sie erschwert ex ante eine ernsthafte Auseinandersetzung. Ernsthaft bedeutet tief gehend, d.h. angefangen von der Formulierung eines gemeinsamen Weltbildes basierend auf Ethik und Moral bis hin zu der praktischen Umsetzung einer umfassenden und nachhaltigen Wirtschaftspolitik, getragen von Politik und Wirtschaft.
Weil sich die Wirtschaftspolitik derzeit in situationsbezogenen punktuellen Interventionen erschöpft, ist Nachhaltigkeit und Orientierung nicht möglich. Beunruhigend ist vor allem eine gefährliche, aber bewusst politische Doppelstrategie: Während Regierungsvertreter in Davos und anderen internationalen Wirtschaftsforen für mehr Reformen und Deregulierung werben, bemühen sie zuhause protektionistisches und anti-kapitalistisches Gedankengut, um die Bürger zu beruhigen und von den Unternehmen patriotisches Handeln einzufordern. Dieser Widerspruch im wirtschaftspolitischen Handeln und Denken dokumentiert nicht nur das Fehlen einer konsistenten Konzeption. Er illustriert das fundamentale Orientierungsproblem der deutschen Gesellschaftspolitik im Spannungsfeld zwischen dem vertrauten Prinzip der sozialen Marktwirtschaft und dem vom intellektuellen Mainstream als Allheilmittel gepriesenen Prinzips der liberalen Marktwirtschaft angelsächsischer Tradition.
Für die Zeiten die vor uns liegen, müssen wir uns auf die Suche nach einer neuen ökonomischen Ordnung machen, die Deutschland im internationalen Wettbewerb nach vorne bringt, soziale Kohäsion sichert und kulturelle Spannungen eindämmt. Die Übernahme neoliberalen Denkens greift hier schlichtweg zu kurz. Eine Politik, die für ein Mehr an Regulierung und dichtere soziale Netze wirbt, wird den fliehenden Kräften der Globalisierung nicht trotzen können. Wir brauchen intelligente gesellschaftspolitische Perspektiven, die zum einen die Handlungszwänge der Unternehmen als Marktakteure akzeptieren und zum anderen auch das vertraute Sozialprinzip respektieren. Wir benötigen eine neue Form des korporativen Kapitalismus, der Effizienz und Solidarität balanciert, der Unternehmen zu gesellschaftlichem Engagement motiviert und gleichzeitig dem Markt Anerkennung verschafft. Wir werden hier nicht um ein neues Austarieren von Profit und Moral in unserer Gesellschaft umhinkommen.
Mehr Orientierung für Deutschland
In Weimar wollen wir gemeinsam dazu beitragen, ein Stück weit mehr Orientierung für die Zukunft unserer Gesellschaft zu schaffen. Mit der Erosion alter Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten müssen wir neu nachdenken, unsere Gedankenwelt neu ordnen und orientieren. Dafür müssen wir die Dinge beim Namen nennen, die Schwachstellen unserer Gesellschaft offen legen. Es wäre fatal, die sozialen, ökonomischen und kulturellen Schwächen unserer Gesellschaft zu übergehen, in der naiven Hoffnung, dass zum Schluss doch alles gut gehe. Wir sollten an der Justierung unseres sozialen Kompasses arbeiten, indem wir kritisch aber konstruktiv mit den Herausforderungen unserer Zeit umgehen und die Anfänge komplett zu Ende denken. Intellektuelle Kämpfe um strategische Interpretationsordnungen in Zeiten des Umbruchs könnten gefährlich werden, gar zu gewalttätigen Konflikten führen. Denkt man an den historischen Konflikt zwischen Kapitalismus und Marxismus-Leninismus, der ein Kind der industriepolitischen Umwälzungen im 19. und 20. Jahrhundert war, steht damit nichts anderes als die Existenzfähigkeit der Zukunftsgesellschaft auf dem Spiel. Dagegen müssen wir ansteuern und gleichzeitig die Zukunft unserer globalisierten Gesellschaft gestalten. Das ist die kulturelle Herausforderung der Zukunftsgesellschaft und Ziel des Fore/sight Projektes. In Weimar wollen wir erste Ansätze dazu diskutieren.
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