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Die ungewisse Zukunft des Europäischen Verfassungsvertrages

Im Zentrum der Aufmerksamkeit: der Bürger

29.10.2004 · Position von Bettina Thalmaier



Die Vertagung der Abstimmung des Europäischen Parlaments über die künftige Kommission am 27.10.2004 ist ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Europäischen Union. Das aktuelle Krisenmanagement hinsichtlich des weiteren Prozedere zur Aufstellung einer neuen Kommission sollte jedoch nicht ein Ereignis in den Hintergrund rücken, das weit mehr eine historische Wegmarke darstellt: die feierliche Unterzeichnung des Europäischen Verfassungsvertrages durch die Staats- und Regierungschefs am 29.10.2004 in Rom. Als Ort der Unterzeichnung wurde Rom gewählt, weil dort 1957 die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft besiegelt worden waren. Fast 50 Jahre danach will die EU mit dem Verfassungsvertrag zu neuen Ufern aufbrechen.

Nach einem gescheiterten Anlauf im Dezember 2003 konnten sich die Mitgliedstaaten erst am 18.06.2004 auf einen Text einigen. Wie so oft in der Geschichte der europäischen Integration war auch diesmal eine Einigung nur durch Kompromisse möglich. Der Verfassungsvertrag bleibt in mancher Hinsicht hinter dem Entwurf des Europäischen Konvents zurück, der von den Staats- und Regierungschefs zur Vorbereitung der Vertragsreform eingesetzt worden ist. Gleichwohl stellt er gegenüber dem derzeit noch geltenden Vertrag von Nizza eine wesentliche Verbesserung dar.

Durch den Verfassungsvertrag wird die EU transparenter, handlungsfähiger und demokratischer. Gleichwohl beinhaltet er nicht das Optimum an Regelungen. Weiterhin ist ein nicht unerheblicher Legitimationsbedarf der Union zu konstatieren. Dementsprechend hat auch die konzeptionelle Entwicklung der Union mit dem Verfassungsvertrag nicht ihren Abschluss gefunden. Die EU bleibt weiterhin ein politisches System im Werden, dessen Gestalt sich nicht in nationalstaatlich orientierte Modelle und Kategorien einordnen lässt. Auch unternimmt der Verfassungsvertrag nicht den Versuch, eine endgültige Finalität festzulegen, die sich an einem bestimmten Integrationskonzept orientiert.

Ratifikationsprozess

Die wohl höchste Hürde muss der Verfassungsvertrag erst noch nehmen. Wie jeder völkerrechtliche Vertrag bedarf auch dieser der Ratifikation durch die Mitgliedstaaten. Am 01.11.2006 soll der Vertrag in Kraft treten. Neben der Zustimmung der Parlamente wird in einer Vielzahl von Mitgliedstaaten ein nationales Referendum stattfinden. Bislang haben zehn Staaten ein Referendum angekündigt: Dänemark, Frankreich, Irland, Luxemburg, Niederlande, Polen, Portugal, Schweden, die Tschechische Republik und Großbritannien. Weitere Länder können noch hinzukommen. Kein Ratifikationsprozess in der Vergangenheit war ähnlich unkalkulierbar und riskant. Insbesondere in Großbritannien zeigen Umfragen derzeit ein klares „Nein" zur EU-Verfassung voraus. Die Erfahrungen in Dänemark (Maastricht) und Irland (Nizza) wie auch das zunehmende Gewicht der Europaskeptiker nach den Europawahlen im Juni 2004 lassen den Schluss zu, dass ein Scheitern einzelner Volksabstimmungen keineswegs ausgeschlossen ist.

Die wichtige Frage, was geschieht, wenn der Ratifikationsprozess in einem oder mehreren Mitgliedstaten scheitern sollte, hat weder der Konvent noch die Regierungskonferenz beantwortet. Im Falle eines Neins auch nur eines Landes wäre das Verfassungsprojekt gescheitert, da für das Inkrafttreten des Verfassungsvertrages alle Mitgliedstaaten zustimmen müssen. Rechtlich würde die Europäische Union zwar nicht ins Bodenlose fallen, da sie auf der derzeitigen vertraglichen Grundlage, dem Vertrag von Nizza, weiter bestehen würde. „Der europäische Traum wäre aber ausgeträumt", wie Luxemburgs Regierungschef Jean-Claude Juncker zu Recht prophezeit. Eine langfristige Eurosklerose könnte sich ausbreiten. Möglicherweise erst Jahre später könnte ein erneuter Versuch einer Reform des Nizza-Vertrages gestartet werden.

Im Fall einer Abstimmungsniederlage wird die Zukunft des Verfassungsvertrages und damit auch die Entwicklung der europäischen Integration freilich zunächst einmal maßgeblich davon abhängen, ob ein angesetztes Referendum „nur" in einem kleinen oder in einem großen Mitgliedsstaat, in nur einem Land oder sogar in mehreren Ländern, in einem Gründungsstaat der Europäischen Union oder in einem der neuen Mitgliedstaaten scheitern wird. So ginge von einem negativen Referendum in Frankreich ein ganz anderes Signal aus als bei einem „Nein" der Iren, die schon den Nizza-Vertrag in einem ersten Anlauf abgelehnt hatten. Vor diesem Hintergrund wird die Forderung erhoben, dass die Referenden in den Ländern, in denen die Abstimmung aller Voraussicht nach mit einem „Ja" enden wird, zuerst abgehalten werden. Auf diese Weise soll ein gewisser Druck auf die potentiellen „Nein-Sager" ausgeübt werden, auch mit „Ja" zu stimmen. Ob dies freilich gelingen wird, bleibt abzuwarten, da jeder Mitgliedstaat selbst über das Datum des Referendums entscheiden kann. Das Referendum in Großbritannien ist aber beispielsweise erst für den März 2006 geplant, während in Spanien, wo eine Mehrheit für den Verfassungsvertrag erwartet wird, bereits am 20.02.2005 abgestimmt werden soll.

Bei einem Scheitern des Verfassungsvertrages in mehreren Staaten, die sich keiner eindeutigen Gruppe zuordnen lassen, sind Nachverhandlungen im Rahmen einer neuen Regierungskonferenz denkbar. Bei der Ablehnung durch einen kleinen Staat ist vornehmlich an die Einräumung von Ausnahmeregelungen oder Sonderkonditionen für die betroffenen Staaten zu denken, um in einem zweiten Referendum zu einem „Ja" zu gelangen. Bei einem „Nein" in Großbritannien legt bereits heute mancher Kommentator den Briten gar den Austritt aus der Union nahe. Sollte der Verfassungsvertrag vorrangig in den Gründerstaaten der Union eine Zustimmung erhalten, nicht aber in anderen großen und mittleren Mitgliedstaaten, wird sich die erneute Diskussion um ein Kerneuropa nicht vermeiden lassen. Eine entsprechende Lösungsmöglichkeit wäre hier der Austritt der verfassungsbefürwortenden Mehrheit der Staaten aus dem Nizza-Vertrag und der Eintritt in eine neue Europäische Union nach Maßgabe des Verfassungsvertrages. Die restlichen Staaten würden dann auf der Basis des Vertrags von Nizza weiter agieren. Dieser Vorschlag würde nicht nur aus integrationspolitischer Sicht eine sehr fragwürdige Alternative darstellen, schafft er doch zwei parallele Unionen. Auch die praktische Umsetzung ist fraglich. Die zentralen Änderungen durch den Verfassungsvertrag betreffen die institutionelle Architektur der Europäischen Union, unter anderem auch die Schaffung neuer Ämter. In der einen Union gäbe es diese Positionen, in der anderen nicht. Dies zeigt, dass die in der Vergangenheit bereits angewandten Differenzierungsformen wie Opting-out Klauseln in einzelnen Politikfeldern in Fragen der Institutionenordnung gar nicht möglich wären. Die heutige Union würde auch institutionell in zwei Teile zerfallen.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit: der Bürger

Um eine Krise der europäischen Integration und ein „Nizza forever", aber auch andere Kleinstkompromisse entsprechend vorangegangener Verträge auszuschließen, muss die Ratifikation also in allen Mitgliedstaaten ein Erfolg werden. Ein weiteres Forcieren der europäischen Integration als Elitenprojekt wird angesichts der angesetzten Referenden in mindestens zehn Staaten nicht (mehr) genügen. Das letzte Wort gebührt dem Bürger, der damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Die Integration Europas war fast nie eine „Herzenssache" der Bürger. Sie wurde – erfolgreich – von den Eliten konzipiert und durchgesetzt – manchmal ohne und manchmal gegen den Willen der Bürger. Ein zentrales Ziel des mit der „Erklärung zur Zukunft der Union" angestoßenen Reformprozesses war es, dem Bürger das „Projekt Europa" näher zu bringen. Dies war jedoch bislang nur von mäßigem Erfolg gekrönt, wie aktuelle Beispiele zeigen. Trotz der erfolgten historischen Erweiterung zum 01.05.2004 und des bevorstehenden zweiten Anlaufs zur gemeinsamen „Verfassungsgebung" Mitte Juni 2004 ist bei den EU-Bürgern anlässlich der Europawahlen keine Euphorie aufgekommen, sondern vielmehr die Wahlbeteiligung auf einem absoluten Tiefsstand angelangt. Auch der Europäische Konvent unternahm zwar einige Anstrengungen, um eine öffentliche Debatte zu provozieren und die europäische Zivilgesellschaft miteinzubeziehen, dessen Arbeit ist der überwiegenden Mehrheit der EU-Bürger laut Umfragen aber unbekannt geblieben.

Die erforderliche Vermittlungs- und Wahrnehmungsleistung der europäischen Institutionen und nationalen Regierungen wird folglich enorm sein. In den nächsten beiden Jahren wird es vornehmlich darum gehen, den Bürgern Europas die Vorteile des Verfassungsvertrages im Vergleich zum derzeitigen Nizza-Vertrag näher zu bringen.

Referenden als Chance

Auch wenn die Gefahr des Scheiterns des Verfassungsprojekts durchaus besteht, sollten die anstehenden Referenden auch als Chance begriffen werden. Endlich könnte in Angriff genommen werden, was zwar spätestens seit dem Maasstrichter Vertrag auf der Tagesordnung steht, bislang aber stäflichst vernachlässigt worden ist: nämlich die Bürger von dem Projekt Europa zu überzeugen. Den Großteil der Vermittlungsleistung werden dabei die nationalen Regierungen zu erbringen haben. Auf sie wird es ankommen. Sie dürfen nicht – wie so oft in der Vergangenheit – die Abstimmung über einen europäischen Vertrag mit rein nationalen Auseinandersetzungen zu überlagern versuchen. Wird die Überzeugungsarbeit aber erfolgreich sein, dann wäre weit mehr gewonnen als nur eine positive Abstimmung über den Europäischen Verfassungsvertrag. Die Bürger könnten das europäische Einigungswerk als ihr Projekt empfinden.

Das angestrebte Unterfangen ist zweifellos äußerst schwierig. In diesem Zusammenhang wird regelmäßig das in der Tat nur mangelnde Wissen und Interesse der breiten Masse über bzw. an der Europapolitik beklagt. Der Mehrheit der Europa-Enthusiasten fehlt aber auch der Sinn für die Unverständlichkeit des eigenen Tuns, warum eigentlich also immer mehr Vertiefung und immer neue Erweiterungsrunden. Dies wird stets vorausgesetzt. Einer der Hauptfehler des Europa-Diskurses ist daher nicht, dass er volksfern und kompliziert ist, sondern dass ein Ausweichen vor dem Schwierigen und Fundamentalen stattfindet. Als der Economist nach der Vorlage des Konventsentwurfs im Sommer 2003 auf seinem Titelblatt einen Papierkorb abbildete, über dem die Schlagzeile stand: „Wo Europas neue Verfassung abgelegt gehört", konnte man zwar von Integrationsfreunden wochenlang die Empörung über diese Frechheit hören. Die Polemik wurde aber gar nicht als Herausforderung begriffen, die es aufzunehmen galt, sondern quasi als Majestätsbeleidigung. Mit so wenig Sportsgeist und intellektuellem Ehrgeiz wird es schwer sein, das komplizierte europäische Projekt den Bürgern zu vermitteln.

Der zentrale Grund für das fehlende europäische Bewusstsein der Bürger liegt aber woanders. Was fehlt, ist ein politisches Europa. Angesichts der oftmals sachfremden, rein parteipolitischen Auseinandersetzungen in den nationalen Arenen wird eine Einschränkung der Effizienz und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union befürchtet, sofern diese verstärkt politisiert wird. Dabei wird jedoch übersehen, dass ohne eine Politisierung der europäischen Politik die allseits vermisste demokratische Infrastruktur nicht entstehen wird. Weder würde die Entwicklung eines europäischen Parteiwesens noch das Entstehen eines europaweiten Kommunikationszusammenhangs inittiiert werden, wenn weiterhin keine grundlegende Auseinandersetzung über das Für und Wider der europäischen Integration und die „richtige" Politik stattfindet. Die Binarisierung von Politik ist ein grundlegendes Merkmal der Demokratie. Wird der Bearbeitung europäischer Themen gerade diese Konfliktsstruktur enthalten, wird europaweit kein breiter öffentlicher Meinungsbildungsprozess in Gang kommen und auch bei den bislang nur nationalen Medien kein ausgeprägtes Interesse an einer Mittlerrolle zwischen Bürgern und europäischen Institutionen entstehen. Die verstärkte Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit, die als europäisierte Teilöffentlichkeiten erst ansatzweise existiert, wird weiter auf sich warten lassen.


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