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NATO-Gipfel ohne Überraschungen

Die Bilanz von Istanbul

01.07.2004 · Thomas Bauer



"Um den gegenwärtig dringlichsten Herausforderungen für unsere Sicherheit gerecht zu werden müssen Europa und Nordamerika zusammenarbeiten". Mit diesen Worten hat NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer den besonderen Augenblick des NATO-Gipfels in Istanbul umschrieben, wenige Stunden nachdem die US-Zivilverwaltung im Irak die Macht an eine Übergangsregierung übertragen hat. Doch der Irak war es auch, der die Allianz im vergangenen Jahr in ihre größte Krise gestürzt hat, als man sich im Nordatlantikrat nicht auf eine gemeinsame Position einigen konnte. An Deutschland und Frankreich wäre damals fast die defensiv ausgerichtete Bereitstellung von AWACS-Aufklärungsmaschinen über der Türkei gescheitert. Die Erwartungen an den Gipfel waren deshalb sehr groß, gab es doch viel zu flicken in der transatlantischen Partnerschaft. Würde man den schwierigen Themen aus dem Weg gehen, um ein Scheitern zu vermeiden, oder konnte man sich auf substantielle Kooperation innerhalb der Allianz in Bezug auf die Herausforderungen für die internationale Sicherheit einigen?

Das Ergebnis des Istanbuler Treffens vom 28./29. Juni kann man irgendwo dazwischen ansiedeln. Zwar wurden viele wichtige Punkte angesprochen und einige Zusagen erteilt, doch substantiell ist das Gipfelergebnis nicht den gegenwärtigen Anforderungen an das Bündnis gerecht geworden. Folgende Beschlüsse wurden getroffen:

  • Aufbau von vier weiteren Wiederaufbauteams (PRT = Provincial Reconstruction Team) im Norden Afghanistans unter NATO-Kommando,

  • Bereitstellung zusätzlicher Truppen zur Sicherung der Wahlen in Afghanistan im September 2004,

  • Zusage zur Ausbildung von irakischen Sicherheitskräften und Soldaten auf Bitte des designierten Ministerpräsidenten Ijad Allawi,

  • Einrichtung einer ständigen "Terrorist Threat Intelligence Unit" beim NATO-Hauptquartier in Brüssel,

  • Vertiefung des NATO-Mittelmeerdialogs, und

  • Initialisierung einer "Istanbul Cooperation Initiative", die den interessierten Ländern der weitergefassten Nahost-Region praktische bilaterale Zusammenarbeit anbieten soll.

Die großen Überraschungen blieben aus. Die Entscheidung zur Übergabe der SFOR-Mission in Bosnien-Herzegowina an die EU Ende diesen Jahres war bereits im Vorfeld geregelt worden. Die Zusagen gegenüber Afghanistan und dem Irak bewegen sich auf dem Niveau des kleinstmöglichen gemeinsamen Nenners.

Entscheidungsfaktor Afghanistan

Seit dem 11. August 2003 obliegt der NATO die Führung der "International Security Force Afghanistan", deren Mandat bisher auf Kabul beschränkt blieb. Die Erweiterung des Einflussgebiets sollte durch den Aufbau von sogenannten "Provinicial Reconstruction Teams" (PRT) vorangetrieben werden. Doch bisher wurde von den insgesamt 16 PRT's im Land lediglich das von Deutschland geführte Wiederaufbauteam in Kunduz unter NATO-Kommando gestellt. Und dort sieht man sich in der problematischen Lage, dass man einerseits auf die Zusammenarbeit mit lokalen "warlords" angewiesen ist, andererseits aber kaum deren Verstrickung in den Mohnanbau vor Ort dulden kann.

Das besondere an der Situation in Afghanistan ist die Tatsache, dass dort zwei unterschiedliche Typen von Operationen zur selben Zeit vonstatten gehen. ISAF stellt zusammen mit dem PRT in Kunduz ein klassisches Modell für Friedenssicherung und nation-building dar. Gleichzeitig operieren Verbände der USA und weiterer Verbündeter unter dem Kommando der von den Amerikanern geführten "Operation Enduring Freedom" gegen die Überreste des Taliban Regimes im restlichen Land. Die Sicherheitslage wird immer undurchsichtiger, weswegen der afghanische Präsident Hamid Karzai bereits im Frühjahr für eine Verschiebung der ersten freien Parlamentswahlen von Juni auf September 2004 plädiert hatte.

Zwar kommt die Allianz der Bitte von Präsident Karsai nach einer stärkeren Präsenz der NATO im Land nach, doch hält sich das zusätzliche Engagement in Grenzen. Die Niederländer übernehmen ein PRT in Baghlan, die Deutschen errichten ihr zweites PRT in Feyzabad, und die Briten bauen ein PRT in Meymana auf und unterstellen ein weiteres, welches bisher unter "Operation Enduring Freedom" lief, dem NATO-Kommando. Für die bevorstehenden Wahlen im September werden zusätzliche Sicherheitskräfte zugesagt. Entscheidend ist jedoch, dass die NATO sich nicht für eine Ausweitung ihres Operationsgebiets in den westlichen oder südlichen Teil Afghanistans entschließen konnte. Lediglich vage Zusagen zur Prüfung der ISAF-Mandatserweiterung wurden gemacht. Die substantielle Sicherheitsleistung der NATO für eine nachhaltige Stabilisierung des Landes liegt damit weit hinter den realen Anforderungen vor Ort. Besonders wichtig hierfür wäre ein Klärung der Zusammenarbeit von ISAF und Operation Enduring Freedom, bzw. ein Plan für die Übernahme letzterer durch die NATO. Dadurch könnte der Weg für eine Gesamtstrategie für die Stabilisierung ganz Afghanistans geebnet werden.

Irak

Im Fall des Irak hatte bereits im Vorfeld von Istanbul die Anfrage der irakischen Übergangsregierung nach umfangreicher Unterstützung für ihre Sicherheitskräfte die Wogen geglättet. Die Frage nach einer grundsätzlichen Beteiligung der NATO am Einsatz im Irak, die von US-Präsident Bush beim jüngsten G-8 Treffen angeregt wurde, hätte ein Scheitern des Gipfels provoziert, da Deutschland, Frankreich und auch Kanada erklärt hatten, dass sie selbst bei einer neuen UN-Resolution keine Truppen bereit stellen würden. Die Nichtberücksichtigung des Themas Irak auf der Gipfel-Agenda hätte jedoch eine politische Katastrophe für die Allianz bedeutet, die einem Eingeständnis der eigene Irrelevanz gleichgekommen wäre.

Durch die Beschäftigung mit einer relativ bescheidenen Anfrage bezüglich der Ausbildung von irakischen Sicherheitskräften konnte beides vermieden werden. Die Zusage der 26 Staats- und Regierungschefs, sie würden der Bitte des designierten irakischen Ministerpräsidenten Ijad Allawis nachkommen und sich für die Ausbildung irakischer Soldaten einsetzen, war daher das Bestmögliche, was unter den gegeben Umständen für die USA, Europa und den Irak erreicht werden konnte. Wie umfangreich diese Hilfe ist, und wie sie umgesetzt werden soll ist nicht geklärt. Deutschland und Frankreich haben jedenfalls klar gestellt, dass das Training nur in ihren Ländern stattfinden könne, da sie einer Entsendung eigener uniformierter Ausbilder in den Irak nicht zustimmen würden.

Zusätzlich hat sich die NATO für die weitere Unterstützung Polens in seiner Position als Führungsmacht der multinationalen Division im Südzentral-Irak ausgesprochen. Polen übt dort seit dem 3. September 2003 die Kommandogewalt aus. Die NATO ist bei der Truppenkontingentierung, bei der Vorbereitung sowie dem Transport der Soldaten behilflich. Außerdem sorgt SHAPE für einen beständigen Austausch von Informationen und nachrichtendienstlichen Erkenntnissen.

Kampf gegen den Terror

Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus konnten sich die NATO-Staaten auf die Einrichtung einer neuen ständigen "Terrorist Threat Intelligence Unit" einigen, welches beim NATO Hauptquartier in Brüssel untergebracht werden soll. Ihre Aufgabe wird es sein jede Form von terroristischer Bedrohung zu analysieren und für einen besseren Informationsaustausch zwischen den NATO-Staaten zu sorgen. Außerdem soll die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zivilschutzes und der Austausch mit anderen Regionalorganisationen, allen voran der EU, vorangetrieben werden.

Die maritime Überwachungsoperation "Active Endeavour" im Mittelmeerraum wird weiter ausgebaut. Sie soll vor allem den Südosten Europas vor einem Überspringen der terroristischen Aktivitäten auf den europäischen Kontinent schützen. Die Anschläge diesen Jahres in Istanbul und Madrid haben jedoch gezeigt, dass die eigentliche terroristische Gefahr von Attentätern vor Ort ausgeht. Sie benötigen nicht die Lieferung von Material oder weiteren Kämpfern über das Mittelmeer. Die Überwachungsoperation ist deswegen eher als politisches Symbol gegenüber den USA zu sehen.

Kein großer Durchbruch

Insgesamt gesehen ist der große Wurf nicht gelungen. Die "Istanbul Cooperation Initiative" ist ebenso vage formuliert wie der "Enhanced Mediterranean Dialogue". Beide sind in ihrem Gelingen weniger von den politischen Zusagen der NATO selbst abhängig als vielmehr von der Bereitschaft der südlichen Mittelmeer-Anrainerstaaten und der Länder des Nahen und Mittleren Ostens sich auf einen gemeinsamen kooperativen und nachhaltigen Ansatz zur Stabilisierung und Konfliktprävention einigen zu können. Der Mittelmeerdialog der NATO ist in der Vergangenheit immer wieder wegen inner-arabischen Meinungsverschiedenheiten ins Stocken geraten. Außerdem kann die Allianz lediglich sicherheitsrelevante Leistungen anbieten, wie etwa Ausbildung von Grenzsicherungskräften oder Hilfestellung bei der Streitkräfteplanung. Der wirtschaftlich und finanziell interessantere Mehrwert für die Region in Bezug auf einer Kooperation mit dem Westen findet sich deswegen in den Körben des Barcelona-Prozesses der Europäischen Union.

Die transatlantische Sicherheitsgemeinschaft hat sich bei ihrem Gipfel keinen großen Gefallen getan. Die Zusagen sind entweder nicht weitreichend genug oder aber zu vage formuliert, als dass man von einem verantwortungsbewussten Beitrag der NATO für das globale System der kollektiven Sicherheit sprechen könnte. Dies soll die Leistung der vielen tausend NATO-Soldaten, die auf dem Balkan, in Afghanistan und in vielen anderen Regionen ihren Dienst leisten, nicht schmälern oder gering schätzen. Ihr Einsatz war noch nie so wichtig wie heute. Das eigentliche Problem der Allianz aber, welches im divergierenden strategischen Bewusstsein und der unterschiedlichen Bedrohungsperzeption in den USA und Europa begründet liegt, konnte nicht behoben werden.

Der transatlantische Dialog muss neu aufgebaut werden. Es geht dabei nicht um die, wie bei einer sicherheitspolitischen Tagung betitelten, Rekonstruktion des Westens, sondern vielmehr um eine grundsätzliche Neuformulierung der transatlantischen strategischen Partnerschaft. Der Gipfel von Istanbul hat versucht mit alten Mustern die umfangreichen Herausforderungen für die gegenwärtige globale Sicherheitslage zu meistern. Ohne einer deutlichen Leistungssteigerung kann der NATO dies nicht gelingen. Diese Leistungssteigerung ist dabei weniger bei den militärischen Fähigkeiten zu suchen als bei der strategischen Dialogfähigkeit, ansonsten wird man dem mahnenden Kooperationsaufruf des NATO-Generalsekretärs weder auf der amerikanischen noch der europäischen Seite des Atlantiks gerecht werden.


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