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Machterosion und Marginalisierung

Der Rücktritt Gerhard Schröders vom Parteivorsitz der SPD

09.02.2004 · Dr. Manuela Glaab



Kanzlerhegemonie ist ein wesentliches Merkmal des parlamentarischen Systems in der Bundesrepublik Deutschland. Die Machtposition des Kanzlers erwächst jedoch nicht automatisch aus seiner verfassungsmäßigen Stellung. Vielmehr bedarf sie der permanenten Einflusssicherung im komplexen politischen Entscheidungsgefüge. Traditionell wird dabei dem Parteivorsitz eine hervorgehobene Bedeutung als Machtressource des Bundeskanzlers beigemessen. Belege hierfür liefern der erste Bonner Bundeskanzler und Parteivorsitzende der CDU, Konrad Adenauer, sowie "Rekordkanzler" und Unionschef Helmut Kohl. Geradezu als klassisches Gegenbeispiel gilt die Kanzlerschaft Helmut Schmidts, dessen Machtposition innerhalb der eigenen Reihen durch zwei einflussreiche Gegenspieler eingeschränkt wurde: den charismatischen Parteivorsitzenden Willy Brandt einerseits und den Strategen Herbert Wehner im SPD-Fraktionsvorsitz andererseits.

Dennoch wäre es verfehlt anzunehmen, die Personalunion wirke zwangsläufig machtverstärkend, die Ämterteilung hingegen notwendigerweise machthemmend. So konnte Helmut Schmidt in der ersten Phase seiner Amtszeit durchaus davon profitieren, dass Brandt als Integrationsfigur es übernahm, die Kluft zwischen den auseinander strebenden SPD-Flügeln zu überbrücken. In der Fraktion sorgte zudem lange Zeit "Zuchtmeister" Wehner für Geschlossenheit. Der Kanzler hatte so Gelegenheit, sich weitgehend unbeschadet von parteiinternen Querelen in der Rolle des entschlossen handelnden Krisenmanagers zu profilieren. Gleichwohl ist richtig: Gegen Ende seiner Amtszeit, als sich Bundeskanzler und SPD auch politisch-programmatisch zunehmend voneinander entfernten, brachte gerade der fehlende Rückhalt seiner Partei - und ihres Vorsitzenden - Helmut Schmidt zu Fall; Wehners Position war zu diesem Zeitpunkt längst geschwächt. Die Rivalität zwischen Regierungschef und Parteivorsitzenden kann in bestimmten Phasen sogar durchaus medienwirksam inszeniert werden, und gleichzeitig parteiintern integrierend wirken. Das Beispiel Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine führte Chancen und Risiken dieses Arrangements deutlich vor Augen. Das Erfolgsrezept des Bundestagswahlkampf von 1998 - in dem der Parteivorsitzende Lafontaine den linken Parteiflügel und die traditionelle SPD-Klientel bediente, wohingegen Schröder als Kanzlerkandidat den Kurs der "neuen Mitte" propagierte - erwies sich jedoch nach Übernahme der Regierungsverantwortung nicht als tragfähig und verengte zusehends den Handlungskorridor des Bundeskanzlers.

Gerhard Schröder griff daher nach der Machtressource Parteivorsitz, als sein Rivale Lafontaine im März 1999 seine Ämter in Partei und Kabinett niederlegte. Die Machtkonstellation in Partei und Regierung veränderte sich nachhaltig. Der Bundeskanzler erreichte damit - und dem gleichzeitig vorgenommenen Umbau des Kanzleramtes zu einer effektiven Regierungszentrale - eine Machtzentralisierung, die nicht nur ein geschlosseneres Erscheinungsbild, sondern auch eine Kurskorrektur der Regierungspolitik ermöglichte.

Die Distanz zur eigenen Parteibasis konnte Schröder mit der Übernahme des SPD-Vorsitzes jedoch allenfalls vordergründig überwinden. Wenn nun aus den Reihen der SPD darauf verwiesen wird, dass der designierte Parteivorsitzende Müntefering "unsere Sprache" spricht und es an der Zeit sei, die "Seele der Partei" zu besänftigen, dann verweist dies auf tiefer gehende Entfremdungen. Die Reformpolitik der von Schröder geführten Bundesregierung geriet zusehends in offenen Gegensatz zu den Erwartungen und Überzeugungen weiter Teile der eigenen Anhängerschaft. Ein neues politisches Leitbild - wie es das Konzept der "neuen Mitte" anfänglich versprochen hatte - wurde vom Kanzler und Parteivorsitzenden nicht konsequent propagiert. Und so wurde zugleich die Chance vergeben, innerhalb der Sozialdemokratie mittelfristig einen Prozess der Selbstverständigung im Sinne eines Reformkonsenses in Gang zu setzen.

Die Führungskrise der SPD lässt sich deuten als Gegenreaktion auf manifeste Marginalisierungstendenzen. Dabei geht es nicht allein um die dramatischen Mitgliederverluste (die Mitgliederzahl ist seit 1990 von 950.000 auf nur noch 650.000 geschrumpft) und das historische Stimmungstief (nur noch 24 Prozent der Bundesbürger würden nach jüngsten Umfragen SPD wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre). Vielmehr kommen hier die spezifischen Risiken des Regierungsstils von Gerhard Schröder zum Tragen, der den parteiinternen Kommunikationsprozess zumindest in zweierlei Hinsicht vernachlässigt hat:

  • Darstellungspolitik: Der "Medienkanzler" lebt von der Inszenierung als "Chefsachen-Politiker", der jenseits schwerfälliger Entscheidungsprozeduren und langwieriger Programmdebatten Probleme anpackt. Personalisierung, quasi-plebiszitäre "Going Public"-Strategien, Demoskopiefixierung kennzeichnen schlagwortartig die medienadressierte Politikvermittlung. Parteitage erscheinen als bloßes Medienereignis, wo andernorts ausgehandelte Positionen nur noch abgesegnet werden und dem Personenkult gehuldigt wird. Die Parteibasis wird wie die breite Öffentlichkeit zum Publikum.

  • Entscheidungspolitik: Die Informalisierung der Politik, das "Stille Regieren" (K.-R. Korte) jenseits der institutionalisierten, parteipolitisch strukturierten Entscheidungsprozeduren kann zu einer effizienteren Politiksteuerung beitragen, zugleich vernachlässigt diese Form der Willensbildung jedoch die parteiinterne Legitimationsbasis. Ein moderierender Politikstil wie ihn der Kanzler vielfach praktiziert, bedarf einer relativen Offenheit in politischen Sachfragen, die sich nur schwer mit der programmatischen Verpflichtung eines Parteivorsitzenden verträgt. Die "Agenda 2010", ausgehandelt durch eine vom Kanzler einberufene Expertenrunde, steht als Chiffre für soziale Einschnitte, die der eigenen Anhängerschaft nur schwer zu vermitteln sind. Sie markiert die Abkehr von Traditionslinien der Sozialdemokratie, ohne dass diese am neuen Kurs partizipieren konnte.

Weil Parteien soziale Gebilde sind, und keine hierarchisch steuerbaren Apparate, ist die intensive Pflege parteiinterner Kommunikationsnetzwerke jedoch unerlässlich. Andernfalls mangelt es an Feed-back-Mechanismen, die sowohl eine wichtige Frühwarnfunktion erfüllen, als auch zur Interessenaggregation und Politikkonzeptualisierung beitragen - zumal in der traditionell konfliktreichen Programmpartei SPD. Machterosion ist früher oder später die Folge.

Im Marathon-Wahljahr 2004 muss es angesichts des historischen Stimmungstiefs der SPD für Schröder nun kurzfristig darum gehen, seinen Handlungskorridor zu erweitern. Sein Rücktritt stellt einen Befreiungsschlag ohne Präzedenzfall dar, einen Einsatz mit hohem Risiko. Denn in Zeiten fluktuierender Wählermärkte wird die Regierung primär an ihren Erfolgen - und das heißt konkret: dem wirtschaftlichen Aufschwung - gemessen. Müntefering rückt in eine absolute Schlüsselposition bei der Absicherung der Regierungsfähigkeit im eigenen Lager. Wenn es nicht gelingt, mithilfe des neuen Parteivorsitzenden und Fraktionschefs die parteipolitische Basis zu stabilisieren, dann steht die Regierung Schröder auf höchst instabilem Fundament.


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