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Europa erschöpft: 2005 gerät die EU in die Defensive

Jahresausblick des C·A·P

28.12.2004 · Bertelsmann Forschungsgruppe Politik



Die Europapolitik wird im kommenden Jahr eher defensive Züge aufweisen. Nach Auffassung des Münchner Centrums für angewandte Politikforschung (C·A·P) unter der Leitung von Professor Werner Weidenfeld werden Finanzkonflikte und Besitzstandswahrung die Tagesordnung der EU dominieren. In ihrem jährlichen Ausblick auf die Schwerpunkte und Entwicklungslinien europäischer Politik betonen die Münchner Europaforscher die Risikofaktoren, die sich aus Verfassungsprozess und Erweiterungspolitik ergeben.

"Die beiden großen Integrationsideen der letzten 20 Jahre, der Binnenmarkt und die Erweiterung der EU zur Gemeinschaft der europäischen Demokratien, haben ihr Steuerungspotential erschöpft," resümieren die EU-Experten des C·A·P. Die Errichtung des Gemeinsamen Marktes, die Gründungsidee der EWG, sei mit dem Binnenmarkt und der Währungsunion erreicht worden. Deren Vollendung stoße auf zunehmende Schwierigkeiten, ablesbar an den Verhandlungen zum Stabilitätspakt der Währungsunion oder an den offenen Fragen des Binnenmarktes, etwa im Bereich der gegenseitigen Anerkennung von Berufsabschlüssen, im Besteuerungsgefälle, bei der Unternehmensverfassung oder den Finanzdienstleistungen. "Mit der heute vorherrschenden Mentalität der Regierungen wäre Jacques Delors mit seinem Maßnahmenpaket zum Binnenmarkt kläglich gescheitert," heißt es im Jahresausblick des C·A·P. 2005 werde ein Jahr des "Durchwurstelns" werden, in dem Verteilungskonflikte den Ton der Europapolitik angäben. In der mittelfristigen Finanzplanung der EU sieht das C·A·P den größten Sprengsatz der Europapolitik. Im bestehenden System sei kein fairer Interessenausgleich zwischen Nettozahlern und Empfängerstaaten im Süden und Osten der EU möglich. Zahlreiche Mitgliedstaaten verweigerten sich jedoch nachdrücklich einer Reform.

In der Defensive sehen die Europaforscher des Münchner Centrums für angewandte Politikforschung (C·A·P) die EU auch in der Ratifikation des 2004 verabschiedeten Vertrags über eine Verfassung für Europa. Aus Sicht des C·A·P ist die Verfassung Teil der nötigen Konsolidierung der erweiterten EU, reiche aber zur Sicherung der Regierbarkeit einer EU-25 allein noch nicht aus. Weitergehende Reformen sind notwendig, etwa die Abschaffung von Vetomöglichkeiten im Ministerrat. Der Reigen der nationalen Referenden, der im Februar 2005 in Spanien beginne, biete jedoch reichlich Anlass, das Unbehagen der Bürger an Europa gegen die nötige Weiterentwicklung der EU zu instrumentalisieren. Selbst nicht völlig überzeugten Regierungen falle es schwer, eine skeptische Öffentlichkeit von der Annahme eines Zwischenschritts zu überzeugen. Schon 2005 sei es daher geboten, über Alternativen für den Fall nachzudenken, dass die Ratifikation der Verfassung entweder in mehreren oder großen Mitgliedstaaten oder aber in einem oder zwei kleineren Mitgliedstaaten scheitere. Die Europapolitik müsse Wege finden, den inneren Zusammenhalt der Europäer zu stärken. Dies falle gerade den europäischen Institutionen schwer: "Die Europäische Kommission, beispielsweise, versteht sich viel besser auf technische Lösungen und politische Kompromisse als auf Fragen der Identität und der politischen Kultur."

Die zweite große Idee der Europapolitik, deren Elan sich verbraucht habe, ist aus Sicht der Münchner EU-Experten die Erweiterung der EU zur Gemeinschaft der europäischen Demokratien. Nach den friedlichen Revolutionen des Jahres 1989 habe erstmals die Möglichkeit bestanden, die EU zu dem zentralen Handlungsrahmen für alle Demokratien Europas werden zu lassen. Die Mentalität dieser Politik entsprach, so die Einschätzung der Münchener Europaforscher, jedoch eher einer "kleineuropäischen Lösung." Sie sei eher in der Vorstellung betrieben worden, den westeuropäischen wirtschaftlichen und demographischen Kern durch eine Reihe kleinerer und kleiner Staaten zu erweitern. Voraussetzung dieser Politik sei gewesen, dass alle neuen Mitglieder in Frieden, Demokratie und Marktwirtschaft lebten und leben wollten und bereit waren, sich in das Institutionen- und Machtgefüge der EU einzugliedern. Die polnische Europapolitik hat die Grenzen dieses Konzepts in ihrem Beharren auf einem herausgehobenen Status neben den großen Mitgliedstaaten während der Regierungskonferenz zur EU-Verfassung aufgezeigt.

Mit seiner Entscheidung zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei hat der Europäische Rat aus Sicht der Europaforscher des C·A·P im Dezember diesen Jahres den Rahmen dieser "kleineuropäischen" Erweiterung verlassen. Die jenseits der kommenden Aufnahme Rumäniens, Bulgariens und Kroatiens liegenden Schritte seien Teil der Agenda einer "großeuropäischen EU" – jenseits der 28 Mitglieder wachse die EU in eine geostrategische Dimension, deren Folgefragen die Reformkonsequenzen der bisherigen Osterweiterung wie eine milde Vorübung erscheinen ließen. Mit den Staaten des "Westbalkans" stünden erstmals Kandidaten an, die derzeit noch durch europäische Soldaten im Frieden gehalten werden müssten. Die Münchner Europaforscher verweisen darauf, dass weder der Zusammenhalt Bosnien-Herzegowinas noch die Klärung des Status des Kosovo durch die Politik in der Region geleistet werden könne, und dass sowohl in Serbien als auch in Albanien bisher keine konsequente EU-Orientierung zu erkennen sei.

Einen Qualitätssprung eigener Art erfordere zudem die Aufnahme der Türkei. "Bisher hat es die EU nie vermocht, sich bereits vor einer Erweiterung auf die Lage danach einzustellen," schreiben die Münchener Europaforscher. So werde auch der Konstellationswandel durch den Beitritt Ankaras erst danach zu Veränderungen im Entscheidungssystem führen. Schon heute sei eine Neubestimmung des politischen Zentrums der EU überfällig. Die Formel "Deutschland, Frankreich und deren Freunde" reiche schon jetzt nicht mehr aus, um die Europäische Union sicher führen zu können. Umso wichtiger erscheint deshalb den Europaforschern des C·A·P, die Türkei selbst besser auf ihre EU-Mitgliedschaft vorzubereiten: "Die EU wird scheitern, wenn es nicht gelingt, diesen großen Randstaat Europas, den einzigen, dessen Bevölkerung dynamisch wächst, so durchgreifend zu modernisieren, dass der EU-Beitritt zur Konsequenz eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels wird und nicht primär zu einer Frage nationalen Stolzes und politischen Prestiges." Mit einer erfolgreichen Integration wäre die Perspektive einer "großeuropäischen EU" nicht abgeschlossen, sondern erst eröffnet. Aus Sicht der Europaforscher des C·A·P bildet der aktuelle Umbruch in der Ukraine das nächste Thema: "Einer Ukraine mit klarer Europa-Orientierung kann sich die EU, die mit der Türkei verhandelt, nicht verschließen." Ebenso wird sich die Beitrittsfrage nach Einschätzung des C·A·P für Moldova, Georgien und gegebenenfalls Armenien stellen. Für wahrscheinlich halten die Europaforscher des C·A·P darüber hinaus, dass auch Weißrussland nach einem Systemwechsel den Weg nach Westen wählen würde.

Allein den Binnenmarkt in dieser Ausdehnung zu erhalten und den Interessenausgleich über Strukturen und Prozesse der EU zu gewährleisten, würde nach Auffassung der Münchner EU-Experten eine gewaltige Aufgabe sein. Weiter reichende Integrationsschritte für alle hält das C·A·P für unwahrscheinlich – auf lange Zeit werde weder eine Währungsunion für alle noch eine gemeinsame Verteidigung und wohl auch nicht die gleiche Integrationsdichte im Bereich der inneren Sicherheit zu erreichen sein. Mit dem Jahr 2005 beginne daher die Umsetzung eines neuen Grundkonzepts der Europapolitik, der "Strategie der differenzierten Integration."


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