Demokratiedefizit und Legitimation der EU
Die Rahmenbedingungen der 6. Wahl des Europäischen Parlaments im Juni 2004.
04.04.2004 · Andreas Kießling
Im Falle der EU sind spezifische Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Die besondere Problematik ergibt sich daraus, dass es sich bei ihr nicht um einen Staat im klassischen Sinne handelt, sondern um eine supranationale Organisation. Das hat unter anderem zur Folge, dass sich die europäische Integration immer aus zwei Strängen legitimiert hat: als Union der Staaten und als Union der Völker Europas. Deshalb ist die Frage nach der Legitimation der EU zwar nicht ausschließlich anhand der Merkmale der Europawahlen und der Stellung des Europäischen Parlaments (EP) zu beurteilen. Dennoch bilden sie einen wichtigen Zugang, um die Kritik am Demokratiedefizit der EU differenziert zu beantworten.
Erste Direktwahl 1979 - Anlass und Folgen
Wieso kam man Mitte der 70er Jahre auf die Idee, das EP direkt zu wählen? Bis dahin war die "Gemeinsame Versammlung" der Europäischen Gemeinschaften gekennzeichnet durch das sog. Doppelmandat: Nationale Abgeordnete waren gleichzeitig Mitglieder des EP. Das führte dazu, dass nicht gerade die Creme de la creme nach Brüssel bzw. Straßburg entsandt wurde - denn es mussten ja Abgeordnete sein, auf die man im nationalen Parlament weitgehend verzichten konnte. Der berühmte Spruch: "Hast Du einen Opa, schick ihn nach Europa" hatte darin seine Wurzeln.
Der systematische Grund für die erste Direktwahl 1979 liegt in der 1970 beschlossenen Umstellung der Finanzierung der EG durch Mitgliedsbeiträge auf Eigenmittel. Dadurch dass die EG nun über eigene Einnahmen verfügte, wurde ihr Haushalt durch kein direkt gewähltes parlamentarisches Gremium mehr kontrolliert - hatten doch bis dahin die nationalen Parlamente wenigstens die jeweiligen Mitgliedsbeiträge kontrollieren können. Dieser Einschnitt zwang förmlich, die immer wieder von den EP-Abgeordneten geforderte Direktwahl. Außerdem - viel banaler - waren die 70er Jahre, trotz einiger Reforminitiativen, eher eine Phase der integrationspolitischen Stagnation, so dass die Ankündigung der Direktwahl des EP eine gewisse Kompensation darstellte, die den nationalen Regierungen wenig Kosten zu verursachen schien.
Allerdings konnte man sich nicht auf ein einheitliches europäisches Wahlsystem einigen, so dass bis heute nach jeweiligem nationalen Recht gewählt wird. Vor allem Großbritannien war bis 1999 der größte Abweichler, da dort - wie bei Unterhauswahlen üblich - mit relativen Mehrheitswahlrecht gewählt wurde. Tony Blair stellte dies aber für die Wahl 1999 um, so dass sich die Problematik insoweit entschärft hat.
Ungelöst bleibt im Gegensatz dazu das Problem, dass es weder europäische Listen gibt noch die europäischen Parteien selber kandidieren. Demokratietheoretisch schwierig ist das deshalb, weil es damit nicht zur Herausbildung echter transnationaler intermediärer Organisationen kam, die eine Verbindungswelle zwischen Bevölkerung und EU darstellen könnten.
Trends des Wählerverhaltens bei Europawahlen
Entsprechend haben sich die Europawahlen nie als echte europäische Wahlen etablieren können. Vielmehr hatten sie immer den Charakter von "nationale Denkzettelwahlen", eines Stimmungstests für die jeweilig amtierende nationale Regierung. Den Parteien schien diese Instrumentalisierung die einzige Chance, ausreichend Wähler zu mobilisieren. Nichts spricht dafür, dass sich das in naher Zukunft ändert wird. Zu unklar sind die Entscheidungsalternativen, die sich auf europäischer Ebene stellen. Zwar geht natürlich die Zusammensetzung des EP aus den Wahlen hervor, doch haben sie eben keinen Einfluss auf die Bestellung der Exekutivgewalt in der EU. Die Kommission wird unabhängig davon zusammengesetzt. Aus dem EP geht nicht - wie es die Bürger im nationalstaatlichen Kontext gewohnt sind - eine europäische Regierung hervor, dem Wahlakt fehlt also die Dramatisierung der Entscheidung über die Besetzung eines exekutiven Spitzenamtes. Folglich stimmten auch die Bürger hauptsächlich aus nationalen Motiven ab: Im Mai 1999 antworteten bei einer in acht EU-Staaten durchgeführten Umfrage 44 Prozent, dass sie in der Europawahl hauptsächlich die Gelegenheit sahen, ihre Meinung zu den Problemen im eigenen Land zu äußern, lediglich 34 Prozent gaben ihre Stimme vorrangig aus europapolitischen Erwägungen ab.
Ein weiteres Kennzeichen der Europawahlen bleibt auch, dass sie als "Nebenwahlen", als mehr oder minder unbedeutende Wahlen wahrgenommen werden. Zweierlei Konsequenzen ergeben sich daraus: Zum einen ist eine extrem hohe Volatilität des Wählerverhaltens zu beobachten, zum anderen eine rapide Abnahme der Wahlbeteiligung. Die Enthaltungsquote ist bei Europawahlen am größten. Das Schlusslicht bildete 1999 Großbritannien mit 24 Prozent und auch in Deutschland gingen nur 45 Prozent an die Urne. Europaweit gelang es nur knapp die Hälfte aller Wahlberechtigten zu mobilisieren.
Dieser dramatische Einbruch der Wahlbeteiligung im Jahr 1999 sollte ein Menetekel darstellen: Die EU droht ihre Bürger zu verlieren. Die Akzeptanz der EU in der Bevölkerung ist aber wiederum eine wesentliche Voraussetzung für ein integrationsfreundliches Agieren der Regierungen der Mitgliedsstaaten. Für die Zukunft des Integrationsprozesses kommt es deshalb entscheidend darauf an, Handlungsoptionen für eine Stärkung der Europawahlen zu entwickeln. Nicht zuletzt rückt aber auch die Frage in den Mittelpunkt des Interesses, welche Folgen der Beitritt der zehn neuen Mitgliedsstaaten haben wird, die am 13. Juni 2004 zum ersten Mal ihre Vertreter im EP wählen werden.
Strukturelles Demokratiedefizit der EU?
Die Defizite der Europawahlen und des Europäischen Parlaments werden gerne als wichtiger Indikator für ein generelles Demokratiedefizit der EU angesehen. Dies ist sozusagen der breitere Kontext, vor dessen Hintergrund die Debatte spielt. Dabei ist es durchaus umstritten, ob bzw. inwieweit die EU ein Demokratiedefizit hat.
Für die "Demokratiethese" spricht:
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die Mitgliedsstaaten sind die "Herren der Verträge", Änderungen setzen die Einstimmigkeit der demokratisch legitimierten nationalen Regierungen und einen Ratifikationsprozess in den Mitgliedsstaaten voraus, an dem das nationale Parlament oder auch das ganze Volk beteiligt ist.
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die Kompetenzen des EP Im Entscheidungsprozess und bei der Bestellung bzw. Abberufung der Kommission sind stetig erweitert worden und sie halten mit der Erweiterung des Kompetenzbereichs der EU mit
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die EU besitzt zwei Legitimitätsstränge: als Union der Völker und Union der Staaten
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auch einzelne Institutionen der EU sind demokratisch legitimiert: Rat durch nationale Regierungen, Kommission durch einvernehmliche Bestellung durch die nationalen Regierungen und durch die Bestätigung durch das EP
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Unionsbürgerschaft gewährleistet Kommunalwahlrecht und Wahlrecht zum EP auch in anderen Mitgliedsstaaten
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Einbeziehung von Interessenverbänden und Experten v.a. in Initiativ- und Vorbereitungsphase europäischer Entscheidungen
Dagegen hält die These vom "strukturellen Demokratiedefizit" folgende Argumente:
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Kein für parlamentarische Demokratien typischer Dualismus zwischen Regierung und Opposition
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EU-Bürger entscheiden weder mittelbar noch unmittelbar über Besetzung des Präsidenten der EU-Kommission
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Keine Europäisierung der Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse
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Beschränkungen des EP: keine volle Budgethoheit, determiniert nicht die Wahl der Kommission, keine echte zweite Kammer, Frage des Prinzips "one man, one vote"
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Intransparente Aushandlungsprozesse und Zuständigkeiten, Verwischung von Verantwortung
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Insgesamt: Große Kluft zwischen Regierenden und Regierten, vor allem wegen Auseinanderklaffen von umfangreicher wirtschaftlicher und rechtlicher Integration einerseits und mangelnder politischer Integration andererseits.
Handlungsoptionen
Ein politisches System kann nicht auf die Dauer ohne eine gewisse "Input-Legitimität" auskommen. Deshalb ist die Frage zentral, wie man dem Defizit der EU hier abhelfen kann. Augenscheinlich reicht eine schlichte Aufwertung des EP nicht aus: Das Parlament hat im Laufe der letzten 25 Jahren immer mehr an Kompetenzen gewonnen und ist mittlerweile ein zentraler Akteur im europäischen Entscheidungsprozess - nur: Parallel zur Verbesserung seiner Stellung hat die Wahlbeteiligung abgenommen. Der Zusammenhang "Stärkung des EP = Verbesserung der Partizipation" gilt also offenbar nicht.
Dennoch muss er erste Ansatzpunkt sein, das EP als echte, gleichberechtigte zweite legislative Kammer neben dem Ministerrat zu etablieren. Die europäische Verfassung wird einen wichtigen Schritt in diese Richtung vollziehen. Zweitens gilt es, die schon fast mythische Intransparenz der europäischen Entscheidungsprozesse klarer zu gestalten. Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten müssen klar zugeordnet werden können.
Vor allem muss es aber um den Aufbau intermediärer Organisationen und Verfahren gehen. Stärkung der europäischen Parteien, Wahl eines Teils der Abgeordneten über europäische Listen, Herstellung eines echten Zusammenhangs zwischen der Zusammensetzung des EP und der Kommission, verbesserte Partizipationschancen der Bürger - diese Punkte werden dafür immer wieder diskutiert. Doch entzieht sich die Frage nach der Demokratisierung der EU und der Europäisierung der Europawahlen einfachen Antworten. Denn letztlich haben alle diese Reformvorschläge Vor- und Nachteile. Würde etwa der Kommissionspräsident von der Mehrheit des EP gewählt, zögen plötzlich Muster der nationalen Politik noch deutlicher in die EU ein, die auf mitgliedsstaatlicher Ebene gerade zur Politikverdrossenheit führen.
Alles in allem bedarf es deshalb weiterhin eines Diskurses über die Finalität der EU. Was sind die Leitbilder, an denen sich die europäische Integration orientieren soll? Die "Methode Monnet", das pragmatische Durchwurschteln, ist spätestens seit dem Vertrag von Maastricht 1993 an seine Grenzen gestoßen und die europäische Verfassung wird das Problem auch nur teilweise beseitigen können. Immer noch steht der EU ihre Vollendung noch bevor.
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