Die CSU als bundespolitische Partei
Bilanz des Parteitages 2004
22.11.2004 · Position von Andreas Kießling
Mit dieser Zielrichtung sollte eine kontinuierliche Entwicklung seit 1998 weiter voran getrieben werden. Denn insgesamt ist seit der Beendigung der Doppelspitze Waigel/Stoiber vor sechs Jahren eine Neuakzentuierung des Selbstverständnisses der Partei zu beobachten gewesen. Von Stoiber eingeleitet wurden die Gewichte der klassischen CSU-Selbstbeschreibung als "bayerische Partei mit bundespolitischen Anspruch" verlagert. Zwar bleibt die tiefe Verankerung in Bayern weiterhin Dreh- und Angelpunkt der Parteirationalität, doch ist die CSU heute mehr als bundespolitische Partei zu beschreiben, die mit ihrem Wahlgebiet gleichsam eine Symbiose eingegangen ist.
Mindestens bis zur bayerischen Landtagswahl 2003 wirkte dies als Erfolgsrezept. Im Verhältnis zu der durch die Wahlniederlage 1998 und die Parteispendenaffäre geschwächten CDU erlangte die kleinere bayerische Schwester ein Übergewicht, das in der Kanzlerkandidatur Stoibers 2002 gipfelte. Mit der scharfen Mobilisierung gegen die rot-grüne Bundesregierung schnitt die CSU so gut ab wie seit den 70er Jahren nicht mehr. Ihre Wahlergebnisse der 90er Jahre konnte sie seit der Europawahl 1999 um gut 10 Prozent steigern. Doch dann schien das Gesundheitsprämien-Modell der CDU eine der Grundfesten der CSU-Wahlsiege ernsthaft zu gefährden: ihre Ausrichtung als "Partei der kleinen Leute" und als "Partei der sozialen Balance". In der Tat war diese Sorge nicht unbegründet. Denn das Erreichen der Zweidrittel-Mehrheit im Landtag des Freistaates beruhte insbesondere auf einer Marginalisierung der SPD durch die CSU in den noch verbliebenen sozialdemokratischen "Hochburgen". So verzeichneten die Christ-Sozialen unter den Arbeitern ein Plus von 16 Prozentpunkten gegenüber 1998 und kamen in dieser Bevölkerungsschicht auf 62 Prozent der Stimmen. Insofern war die Auseinandersetzung mit der CDU um die Gesundheitspolitik weit mehr als nur eine Konkurrenz zwischen Stoiber und Merkel um die Führungsfrage in der Union, sondern die CSU-Spitze sah mit der Kopfpauschale die Basis ihrer Existenz bedroht: die absolute Mehrheit in Bayern.
In dieser Konstellation stand die CSU-Führung vor einem Entscheidungsdilemma: Auf der einen Seite galt es, sich gegen die CDU-Politik zu stellen, auf der anderen Seite durfte Stoiber die große Schwester auch nicht verprellen. Denn eine erneute Kanzlerkandidatur 2006 kann nur gelingen, wenn der CSU-Chef über den entsprechenden Rückhalt bei der CDU verfügt. Auch wenn dieses Ziel angesichts der machtpolitischen Lage in der Union momentan nur schwer zu erreichen sein dürfte, so kann Stoiber es doch nicht vorzeitig aufgeben. Das oben beschriebene Selbstverständnis der CSU beruht auf der politischen Gleichberechtigung mit der CDU. Dies wiederum hat zur Folge, dass das "Amt" des Kanzlerkandidaten der Union das gleichsam die Essenz der "politischen Parität" darstellt in Oppositionszeiten jedenfalls potentiell auch aus den Reihen der CSU besetzt werden können muss.
Aus dieser Sicht war das Erreichen einer Einigung mit der CDU oberste Priorität. Aber: Stoiber musste schon sein gesamtes persönliches politisches Kapital auf dem CSU-Parteitag einsetzen, um den Delegierten den mühsam errungenen Gesundheitskompromiss gegen die Meinung von Seehofer schmackhaft zu machen für den bayerischen Ministerpräsident eine ganz neue Erfahrung. Auf Parteilinie gebracht werden musste ja nicht nur wie in den Medien meist diskutiert der sozialpolitische Flügel, sondern auch die jungen Reformer in der CSU, denen der Kompromiss nicht weit genug geht und die eher mit der ursprünglichen CDU-Linie konform gingen. Allein der Sprachduktus des Leitantrags zeigt die Brüche auf: Während die Teile zur Wertedebatte oder zur Wirtschaftspolitik in gewohnt souveräner, selbstbewusster CSU-Art verfasst sind, liest sich der gesundheitspolitische Abschnitt wie ein trockener, überkomplexer Vermerk aus der Abstimmungsmaschinerie einer Ministerialbürokratie. Trotz der klaren Zustimmung der Delegierten zur Gesundheitspolitik, war die Atmosphäre dementsprechend nicht gerade euphorisch zumal die Sparpolitik in Bayern auch keine Begeisterung auszulösen vermag.
So geht der CSU-Parteitag 2004 mit einer durchaus ambivalenten Bilanz in die Geschichte der Partei ein. Einerseits wurden zwar die Grundlagen für ein geschlosseneres Auftreten der Union insgesamt gelegt, andererseits sind die Probleme bei Weitem nicht gelöst. Nicht nur, dass mit Seehofers Rücktritt als stellvertretender Unionsfraktionschef die Personifizierung des sozialen Gewissens der CSU zunächst einmal abgetreten ist, auch die Motivation der mittleren Parteifunktionäre und der einfachen Mitglieder wieder auf das Niveau von 2002 zu bringen, wird eine große Herausforderung sein. Zwei eng miteinander verwobene Voraussetzungen sind dabei zu erfüllen. Zum einen muss die CSU zusammen mit der CDU wieder die Auseinandersetzung mit der Bundesregierung in den Vordergrund stellen. Zum anderen müssen alle politischen Schritte nun vom beschlossenen Leitbild der "solidarischen Leistungsgesellschaft" konsequent abgeleitet werden. Dieses stringent in konkrete politische Forderungen zu übersetzen, ist gleichzeitig die zweite zentrale Aufgabe. Denn nur mit einer konzeptionell durchdachten Oppositionspolitik wird es CDU und CSU gelingen können, Rot-Grün 2006 abzulösen.
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