Belarussische Wahlen im Schatten Lukaschenkas
Analysen zur Wahl in Weißrussland, zusammengestellt von Iris Kempe, Andreas Heindl und Olena Syromyatnikova.
19.10.2004 · Bertelsmann Forschungsgruppe Politik

"Beeindruckende" 86,2 Prozent Wähler so die belarussischen Behördenangaben stimmten am 17. Oktober dem Referendum der Verlängerung der Amtszeit Aleksander Lukaschenkas zu. Dies würde einer Zustimmung von 77,3 Prozent aller Wahlberechtigten entsprechen. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen wurde kein einziger Kandidat der Opposition gewählt. Die OSCE Wahlbeobachtung spricht von umfangreichen Verletzungen demokratischer Standards. Lediglich die russischen Wahlbeobachter unter dem Dach der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bewerten die Wahlen als "frei, rechtmäßig und transparent". Laut einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstitut "Gallup" unterstützten lediglich 48,3 Prozent der Wähler die Verlängerung von Lukaschenkas Amtzeit.
Mit dem demokratischen Anschein eines Referendums ist es Lukaschenka gelungen, seine autokratische Macht zu sichern. Das autokratische Regime konsolidiert sich in direkter Nachbarschaft zur Europäischen Union und stellt schon wegen der geographischen Nähe sowohl eine Bedrohung als auch eine Herausforderung für den Westen dar.
Der Hintergrund der Parlamentswahlen
Um die 110 Sitzplätze im Parlament bewarben sich 692 Kandidaten, von denen 159 Vertreter dem oppositionellen Spektrum zuzurechnen sind. Sie bildeten zwei informelle Wahlblocks: die Koalition "Plus Fünf" und das "Abkommen der demokratischen zentristischen Koalitionen". Die Koalition "Plus Fünf" verabschiedete eine Wahlkampfplattform "Fünf Schritte zum besseren Leben". Die zentristische Koalition proklamierte europäische Werte und tritt für eine etappenweise Integration in die europäische Institutionen ein. Die Orientierung nach Europa dient gleichzeitig als Wegweiser für künftige Reformalternativen. Darüber hinaus entwickelten weißrussische Expertengruppen konzeptionelle Ansätze, wie sich zunächst über die Intensivierung der technischen Hilfe und dann im Rahmen von Demokratie und Marktwirtschaft ein Wandel erreichen lässt, der mittelfristig auch eine Assoziierung mit der EU nicht ausschließt. Für die Intensivierung europäischer Perspektiven fehlt es Vertretern der Opposition aber immer wieder an Kontakten zu westlichen Akteuren. Die Politik der Selbstisolation des Regimes wird auf diese Weise zu einer von Lukaschenko intendierten Isolation von Reformalternativen.
Zur Aufrechterhaltung seiner Macht hat Lukaschenka den demokratischen Kräften den Kampf angesagt. Dabei verletzt er fundamentale demokratische Grundsätze, wie etwa die Standards der OSZE vom Kopenhagener Gipfel 1990, die Praktischen Leitlinien der OSZE für demokratische Wahlen vom November 2002 oder aber auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Europäische Menschenrechtskonvention. Bereits bei den Kommunalwahlen 1998, den Parlamentswahlen 2000 und den Präsidentschaftswahlen 2001 dokumentierten internationale und einheimische Wahlbeobachter, dass die Wahlen mit den demokratischen Standards der OSZE nicht zu vereinbaren waren. Schon 1997 ließ Präsident Lukaschenka mit Hilfe eines "Referendums" über eine Verfassungsänderung abstimmen, die seine autokratische Herrschaft konstituierte. Es gibt in Belarus so gut wie keinen Bereich in Staat und Gesellschaft, wo das Regime nicht gegen demokratische Grundrechte verstößt. Die Medien sind vom Staat kontrolliert, oppositionelle Journalisten und Politiker werden verhaftet oder verschwinden sogar. Als sich das politische Klima im Vorfeld der Parlamentswahlen zuzuspitzen drohte, reagierte das Regime mit zusätzlichen Restriktionen. Im Juli 2004 hatte das Regime mit der Schließung der Europäischen Humanistischen Universität ein weiteres Fenster nach Westen geschlossen.
Die Opposition leistet unter extrem schwierigen Bedingungen beeindruckenden Einsatz, um demokratische Alternativen und Reformwege für das Land aufzuzeigen. Gleichzeitig hat der oppositionelle Diskurs aber eine begrenzte Reichweite. Insbesondere die einfache Bevölkerung auf dem Land sind die Aktivitäten der Opposition nicht zugänglich. Olesj Normalverbraucher vertraut lieber einem Leben von Gleichheit in Armut und Unfreiheit als einer mit Unsicherheiten verbundenen Transformation in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft.
Westen versus Belarus
Das Referendum und die Präsidentschaftswahlen 2006 zusammen mit der erwarteten Wahlfälschung der Parlamentswahlen vom 17. Oktober werden für weitere Spannungen in den Beziehungen Belarus-Westen sorgen. Der Westen plädiert für die Einhaltung demokratischer Standards und unterstützt die Zusammenarbeit jenseits des Regimes. So verabschiedete der amerikanische Senat am 6. Oktober 2004 den "Belarus Democracy Act". Dieses Dokument verbindet die Unterstützung von Maßnahmen zur Demokratieförderung in Belarus mit gleichzeitigen Sanktionen gegen das Regime. Kritische Äußerungen kommen ebenfalls aus dem Deutschen Bundestag und der Europäischen Union.
Jenseits demokratischer Appelle und der Unterstützung einzelner Maßnahmen im Bereich von Demokratie und Good Governance fehlt dem Westen aber eine Strategie, die über die Sanktionen gegen das Regime hinausgehen und auf eine Zusammenarbeit mit Belarus zielen, so dass eine Anbindung an die Institutionen und Standards der Europäischen Union denkbar wird. Für die mittel- bis langfristige Entwicklung des Landes gilt es bereits jetzt zu erörtern, wie die Transformation Belarus' jenseits der autokratischen Herrschaft von Präsident Lukaschenka zu gestalten ist.
Beide Fragen, die europäische Anbindung Belarus' sowie die Transformation des Landes sind Bestandteil der Strategienentwicklung am C·A·P. So ist Belarus Teil der Risikoberichterstattung zum Thema "Großes Europa Nachbarschaft".
Analysen und Strategien
Der Stand der belarussischen Transformation wird in der Länderstudie des Bertelsmann Transformation Index evaluiert:
Bertelsmann Stiftung: Bertelsmann Transformation Index Ländergutachten Belarus.
Zur Anbindung Belarus' an Europa hat das C·A·P eine Strategie des "Multi-Layered Europe" entwickelt:
Kempe, Iris, Wim van Meurs: Prospects and Risks Beyond EU Enlargement, C·A·P-Working Paper, November 2002.
Weitere Analysen aus der Risikoberichterstattung und strategische Ansätze des C·A·P:
Haiduk, Kiryl: Assessing the Political and Economic Situation in Belarus: An Awkward Partner Beyond the Enlarged European Union? In: Kempe, Iris (Hg.): Prospects and Risks Beyond EU Enlargement. Eastern Europe: Challenges of a Pan-European Policy. S. 107-132.
Kempe, Iris: Weißrussland und Europa. Chancen und Grenzen der Zusammanarbeit in direkter Nachbarschaft. In: Ost-West Europäische Perspektiven, Jg. 5, 2/2004, S. 95-105.
Dokumente internationaler Akteure:
OSZE/ODIHR: Election Observation Mission to Belarus
OSZE/ODIHR: Interim report 2, 16-29 September 2004
OSZE/ODIHR: Pressemitteilung: Belarus removes visa obstacles for election observers
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