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Europas historische Chance

Wider den unpolitischen Pessimismus

20.12.2003 · Werner Weidenfeld



Wie ein dichter Teppich haben sich Enttäuschung und Frustration über Europa gelegt. Das Scheitern des Brüsseler Gipfels hat die hochfliegenden Hoffnungen auf eine Verfassung erst einmal platzen lassen. Ein riesiger, jahrelanger politischer Kraftaufwand ist ohne greifbares Ergebnis geblieben. Alle, die sowieso schon an Europa zweifelten, fühlen sich bestätigt - so auch alle, die unpolitisch naiv nur aus dem Augenblick und ohne historischen Zusammenhang urteilen.

Es gilt auch in bedrängten Zeiten einen kühlen Kopf zu behalten. Denn historisch gesehen bietet die gegenwärtige Lage große Chancen.

Optimismus ist angesagt - wider die vordergründige Evidenz der Krise. Europa muss immer in Alternativen denken. Insofern verfügen wir gegenwärtig über mehrere Optionen erfolgversprechender Art:

1. Ein Blick in die Geschichte der Europäischen Integration zeigt, dass Momente des verfassungspolitischen Scheiterns jeweils der Aufbruch in eine neue Ära waren.

  • Als 1954 die erste europäische Verfassung, die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG), zusammen mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in der Französischen Nationalversammlung scheiterte, gab Bundeskanzler Konrad Adenauer noch am gleichen Abend den Auftrag, nun tatkräftig die Alternativen anzugehen. Daraus entstanden dann die Römischen Verträge von EWG und EURATOM.

  • Als 1962 die Regierungsverhandlungen um die Fouchet-Pläne scheiterten, mit denen eine Politische Union Europas gegründet werden sollte, da ergriffen Staatspräsident de Gaulle und Bundeskanzler Adenauer die Initiative zu einer Zweier-Union zwischen Deutschland und Frankreich. Sogar eine gemeinsame Staatsbürgerschaft wurde geplant. Schließlich mündeten diese Verhandlungen 1963 in den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Die Nachfolger von Adenauer und de Gaulle missverstanden den Vertrag als bloßen bilateralen Verständigungsakt. Die viel weitergehende Perspektive einer Politischen Union geriet darüber in Vergessenheit.

  • Als sich mit der ersten Direktwahl 1979 das Europäische Parlament selbst als verfassungsgebende Versammlung definierte, erarbeitete es unter der Federführung des Italieners Altiero Spinelli über Jahre eine ausgefeilte europäische Verfassung. Es verabschiedete den Text, der dann irgendwie in den Debatten der nationalen Parlamente hängen blieb - aber den Auslöser für die Einheitliche Europäische Akte bildete, mit der das große historische Werk des Gemeinsamen Binnenmarktes organisiert wurde.

Von ähnlicher historischer Bedeutung kann der gescheiterte Brüsseler Gipfel werden. Er wird als Startpunkt für eine differenzierte Gestaltung des Kontinents anzusehen sein. In der großen Europäischen Union der 25 und mehr Mitgliedstaaten, wird man nicht auf den letzten Bremser warten wollen. Es werden sich Teil-Räume bilden, die weiter voranschreiten. Wirtschaft und Währung, Außen- und Sicherheitspolitik, Innen- und Justizpolitik bilden große politische Aufgaben, wo staatsähnliche Leistungen erwartet werden, die 25 und mehr Mitgliedstaaten nicht alle zum gleichen Zeitpunkt und mit gleicher Intensität erbringen können. Nun - nach dem Scheitern des Brüsseler Gipfels - ist Zeit und Raum gegeben, diese große Perspektive einer strategischen Umgestaltung Europas systematisch anzugehen. Es lohnt sich - ob mit oder ohne Verfassung.

2. Gleichzeitig wird die Europapolitik die Möglichkeiten sensibel ausloten, doch noch die vom Konvent vorgelegte Verfassung zu verabschieden. Schließlich fehlten in Brüssel nur wenige Zentimeter zum Ziel.

Im Kern hing es an einer einzigen Regierung, die im heimischen Parlament über keine Mehrheit verfügt und es sich daher aus innenpolitischer Schwäche nicht erlauben konnte, flexible Verhandlungsfähigkeit zu zeigen. Kommt noch hinzu, dass die polnische Regierung über keine wirkliche Erfahrung mit solchen Reformgipfeln verfügt. Die polnische Delegation war entsprechend völlig erstaunt, als das Ende des Gipfels verkündet wurde, wo sie doch jetzt eigentlich in die ernsthaften Verhandlungen einzusteigen gedachte. Diese merkwürdige Kombination von Unerfahrenheit und Schwäche einer einzigen Regierung von 25 - die Spanier hatten ja in letzter Stunde erfahrungsgesättigt Einlenken signalisiert - bedeutete das Scheitern des Gipfels. Wer hindert die Europäer in den nächsten Monaten daran, diese Schwelle zu nehmen? Polen wird sehr schnell spüren, was es bedeutet, allein den historischen Kurs Europas aufhalten zu wollen. Von der Finanzplanung bis zur Strukturpolitik wird der polnischen Regierung ein eisiger europäischer Wind ins Gesicht wehen - und naturgemäß die Verhandlungsbereitschaft wachsen lassen.

Und für die Überbesorgten sei der Hinweis gestattet: Auch nach Brüssel steht Europa weder vor einem anarchistischen Chaos noch vor einem katastrophalen Abgrund: Der Vertrag von Nizza gilt - und mit ihm jene Regelungen die unseren heutigen mehr oder weniger zufrieden stellenden Status quo begründen. Das Scheitern von Brüssel bedeutet also kein europäisches Nirwana. Ganz im Gegenteil: Nach Brüssel wird das europäische strategische Denken erzwungenermaßen endlich eine Renaissance erfahren. Man wird die Alternativen sehen zu den ausgefahrenen Gleisen, auf denen der Wildwuchs europäischer Intransparenz entstand. Wenn dieses strategische Denken jetzt zu greifen beginnt, dann kann der Gipfel zum Ausgangspunkt für eine große, neue Architektur Europas werden. So eng sind Krise und Chance in Geschichte und Politk miteinander verwoben.


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