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Ein tragfähiges Fundament für die Zukunft?

Präambel, Definition und Ziele der EU im Verfassungsentwurf

01.07.2003 · Almut Metz



Ergebnisse:

  • Mit der Präambel und dem Titel I im Teil I (Definition und Ziele der Union) hat der Konvent das Fundament für den Verfassungsentwurf gelegt.

  • Der Europäischen Union wird eine eigene Rechtspersönlichkeit verliehen.

Bewertung:

  • Die Verleihung einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit an die Europäische Union durch Art. I-6 des Verfassungsentwurfs ist eines der wichtigsten Ergebnisse des Konvents.

  • Auf dem Weg zu einer politischen Identität der Europäischen Union wurden Fortschritte gemacht, jedoch wird der Titel I im Teil I des Entwurfs seiner herausragenden Stellung sprachlich, inhaltlich und konzeptionell nicht ganz gerecht.

Schlüsseldokumente:

  • Präambel und Teil I/Titel I des Vertrags über eine Verfassung für Europa (CONV 850/03)

  • Aussprache über die Änderungsvorschläge zu den Artikeln 1 bis 7 des Verfassungsentwurfs (CONV 674/03)

  • Zusammenfassende Darstellung der Reaktionen auf den Entwurf der Artikel der überarbeiteten Fassung von Teil I (CONV 779/03)

Der Europäischen Union (EU) fehlt es bis heute an einer klaren politischen Identität. Für die Bürgerinnen und Bürger bleibt die EU ein bürokratischer Moloch namens "Brüssel". Ohne ein gemeinsames Fundament von Zielen und Werten ist der Integrationsprozess jedoch langfristig nicht mehr tragfähig. Die Herausforderungen der kommenden Jahre - demografischer Wandel, Krisenregionen in direkter Nachbarschaft zur erweiterten Union, Wohlstandsgefälle zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten, interne Verteilungskämpfe und der stetig wachsende Einwanderungsdruck - können nur dann erfolgreich bewältigt werden, wenn die Europäer sich einig sind, in welcher Union sie künftig leben möchten.

Auf diese grundlegende Frage muss der Europäische Verfassungsentwurf (EVE) eine Antwort anbieten. Dieser Anspruch dient im Folgenden als Schablone der Analyse von Präambel und Titel I (Art. I-1 bis Art. I-6 EVE), den der Konvent am 18. Juli 2003 vorgelegt hat (CONV 850/03). Dabei werden zunächst die zentralen Fragestellungen benannt, Verlauf und Ergebnisse der Konventsarbeiten dargelegt und abschließend weitergehender Überarbeitungsbedarf aufgezeigt.

Gegenstand und Funktion von Präambel und Titel I EVE

Präambel und Titel I des Verfassungsentwurfs sind - dies lässt sich auch von ihrer herausragenden Stellung im Text ableiten - für den Gesamttext von grundlegender Bedeutung. Mit diesem Vertragsteil werden die bisherigen Bestimmungen aus den Verträgen zu Zielen und Werten der EU - insbesondere aus den beiden Präambeln von EGV und EUV sowie aus Art. 2 EGV und Art. 1 und 2 EUV - gebündelt und in eine einheitliche Form gebracht. Gleichzeitig bietet diese Neuordnung aber auch Anlass, die Ziele der Union zu überdenken und zu prüfen, ob sie angesichts veränderter Rahmenbedingungen und Fortschritten in bestimmten Politikbereichen noch Bestand haben oder Ergänzungsbedarf besteht. Diese Überprüfung ist im Rahmen der Konventsverhandlungen in unterschiedlichen Gremien (Präsidium, Plenum, Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen) erfolgt.

In der Debatte um die Präambel ging es dabei vor allem um zwei Problemkreise, die zum einen die grundsätzliche Frage nach der Notwendigkeit der Präambel, zum anderen die Frage nach einem religiösen Bezug in der Präambel betreffen:

  • Ist eine Präambel notwendig, vor allem dann, wenn die Grundrechtscharta direkt in den Verfassungsvertrag aufgenommen wird? Oder sollte nicht vielmehr die Präambel der Charta als Präambel für den gesamten Verfassungstext verwendet werden?

  • Soll die Präambel einen expliziten Hinweis auf das religiöse Erbe Europas oder gar einen direkten Gottesbezug enthalten?

Hinsichtlich der Werte und Zielvorgaben der Union (Titel I) wurden von den Konventsmitgliedern insbesondere folgende Fragen in den Gremien thematisiert:

  • In welcher Weise soll der EU als Union der Völker bzw. Bürger und Staaten Rechnung getragen werden? In welcher Form soll das Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten verankert werden? (Art. I-1 EVE und Art. I-5 EVE)

  • Welche Werte sollen aufgenommen werden? Welche Grundwerte für den sozialen Bereich sollen unter Berücksichtigung der bereits in der EU-Grundrechtscharta genannten Grundrechte aufgeführt werden? Soll auch an dieser Stelle eine Bezugnahme auf Glaubensaspekte erfolgen? (Art. I-2 EVE)

  • Wie soll der Zielkatalog ausgestaltet sein? (Art. I-3 EVE)

  • An welcher Stelle sollen die Grundfreiheiten des Binnenmarktes und das Diskriminierungsverbot verortet werden? (Art. I-4 EVE)

  • Soll die Union eine eigene Rechtspersönlichkeit bekommen? (Art. I-6 EVE)

Herangehensweise und Ergebnisse

Präambel

Mit der Präambel, die dem Verfassungsentwurf vorangestellt ist, bringen die Mitgliedstaaten ihre Beweggründe für eine Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Union (EU) sowie die allgemeinen Ziele zum Ausdruck. Einer Präambel kommt vor allem politische Bedeutung zu, sie ist aber bei der Auslegung des gesamten Verfassungstextes zu berücksichtigen, da sich in ihr das grundlegende "Staatsverständnis", die politische Vision, manifestiert.

Die grundsätzliche Frage nach der Notwendigkeit der Präambel wurde unter anderem von der Arbeitsgruppe II (Charta) diskutiert. Im Abschlussbericht der Arbeitsgruppe vom 22. Oktober 2002 (CONV 354/02) heißt es dazu: "Sollten also die Charta-Artikel direkt in den Verfassungsvertrag aufgenommen werden, so sollte die Präambel der Charta als Präambel des Verfassungsvertrags verwendet werden." Für den Fall, dass die Charta als eigener Teil in den Verfassungsvertrag einbezogen oder in Form eines Protokolls angehängt wird, schlägt die Arbeitsgruppe vor, den Text der Präambel mit der Charta verbunden zu lassen und eine zusätzliche Vertragspräambel zu formulieren, die sich an der Präambel der Charta orientieren könnte.

Der Konvent entschied sich vor dem Hintergrund der Debatte um die Einbeziehung der Charta für die Option einer zusätzlichen Vertragspräambel. Bereits der Vorentwurf des Vertragstextes vom 28. Oktober 2002 (CONV 369/02) enthält den Hinweis auf eine Präambel, allerdings ohne konkrete Vorschläge zu ihrer inhaltlichen Ausgestaltung. Ein erster Entwurf der Präambel wurde vom Präsidium des Europäischen Konvents erarbeitet und dem Konvent am 28. Mai 2003 vorgelegt (CONV 722/03).

Die Reaktionen der Konventsmitglieder auf diese Präambel wurden in einem zusammenfassenden Dokument am 4. Juni 2003 veröffentlicht (CONV 779/03). Daraus geht hervor, dass die Mehrheit der Änderungsvorschläge Bezug auf Absatz 2 der Präambel nimmt, in dem es um die "kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas" geht. So sprach sich Joachim Würmeling, stellvertretendes Konventsmitglied aus dem Europäischen Parlament, in einem von 25 weiteren Konventsmitgliedern (u.a. die deutschen Mitglieder Elmar Brok, Erwin Teufel und Peter Altmaier) unterzeichneten Beitrag dafür aus, in die Präambel nicht nur den Begriff des "geistig-religiösen Erbes", sondern auch einen direkten Gottesbezug aufzunehmen, allerdings ohne die Überzeugungen anderer Konventsmitglieder zu verletzen (CONV 480/03). Demgegenüber standen Konventsmitglieder, die sich für eine kürzere und allgemeinere Formulierung aussprachen, etwa in Form eines Hinweises auf das "kulturelle Erbe Europas von der Antike bis zur Aufklärung" oder die "kulturellen und geistigen Überlieferungen".

Diese Debatte erinnert stark an die Diskussion am Ende der Beratungen des Konvents zur Charta der Grundrechte. Damals hatte sich vor allem das deutsche Konventsmitglied Ingo Friedrich für einen ausdrücklichen Hinweis auf das Christentum und die Verantwortung vor Gott in der Präambel der Grundrechtscharta eingesetzt. Frankreichs Premierminister Lionel Jospin hatte daraufhin persönlich bei Konventspräsident Roman Herzog interveniert und darauf hingewiesen, dass Frankreich als laizistischer Staat einen Hinweis auf das religiöse Erbe der Union nicht akzeptieren könne. In der Präambel der Grundrechtscharta fand man eine Lösung in unterschiedlichen Übersetzungsvarianten. Ist in der deutschen Version die Formulierung "geistig-religiöses Erbe" enthalten, so lautet es in der französischen Fassung schlicht "patrimoine spirituel et moral" und in der englischen Version "spiritual and moral heritage".

Die Präambel des Verfassungsentwurfs geht noch weiter als die Präambel der Grundrechtscharta. Zwar konnten sich die Unterstützer eines expliziten Gottesbezugs nicht durchsetzen, jedoch ist hier im Gegensatz zur Grundrechtscharta der Verweis auf das religiöse Erbe in allen Übersetzungen enthalten. Die deutsche Fassung spricht von "kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas", in der französischen Fassung heißt es "héritages culturels, religieux et humanistes de l'Europe", und der englische Text nennt das "cultural, religious and humanist inheritance of Europe" (Hervorhebungen der Verf.). Einen direkten Gottesbezug gibt es in der Präambel jedoch nicht. Neben Mitgliedstaaten wie Polen hat auch die CSU Deutschland in einem Parteitagsbeschluss vom 18./19. Juli 2003 diesen Verweis explizit eingefordert und die Bundesregierung aufgefordert, dies in der Regierungskonferenz durchzusetzen.

Ansonsten ist die Schlussfassung der Präambel gegenüber dem Entwurf vom 28. Mai 2003 lediglich in einigen wenigen Passagen modifiziert worden. So wurde die Übersetzung des der Präambel vorangestellten Zitats des griechischen Geschichtsschreibers Thukydides überarbeitet. Absatz eins der Präambel spricht nun von der "Geltung der Vernunft", in der ersten Fassung hieß es noch "Vorrang der Vernunft". Schließlich hat sich der Konvent selbst ein Lob ausgesprochen, denn gegenüber der nüchternen Formulierung des Entwurfs ("In Anerkennung dessen, dass die Mitglieder des Europäischen Konvents diese Verfassung im Namen der Bürgerinnen und Bürger der Staaten Europas ausgearbeitet haben"), heißt es nun: "In dankender Anerkennung der Leistung der Mitglieder des Europäischen Konvents (...)".

Definition und Ziele der Union

Der Vorentwurf der Verfassung vom 28. Oktober 2003 (CONV 369/02) enthält in vier Artikeln eine erste Auflistung der Definition und Ziele der Union. Noch recht unstrukturiert und unvollständig, ist diesem Vorentwurf wenig Beachtung zuteil geworden. Müller-Graff weist darauf hin, dass dem Entwurf wegen seiner "profilbildenden Funktion für das Grundverständnis von Gemeinschaft/Union" wesentlich größere Aufmerksamkeit hätte zuteil werden müssen (Peter-Christian Müller-Graff in: integration 26, 2/2003, S. 111). Mit der Ausgestaltung der Kopfartikel haben sich in der Folgezeit verschiedene Arbeitsgruppen beschäftigt, da sie inhaltlich eine Vielzahl von Bestimmungen und Politikbereichen betreffen. Die am 28. Oktober 2002 neu gegründete Arbeitsgruppe XI "Soziales Europa" hat sich dabei insbesondere mit den sozialen Zielen der Union befasst.

In den auf den Vorentwurf folgenden Entwurf der Artikel I-1 bis I-16 des Verfassungsvertrags vom 6. Februar 2003 (CONV 528/03) gingen dann die Abschlussberichte der Arbeitsgruppen I (Subsidiarität), II (Charta), III (Rechtspersönlichkeit), V (Ergänzende Zuständigkeiten) VI (Ordnungspolitik) und VII (Außenpolitisches Handeln) sowie die Empfehlungen ein, die sich während der Plenartagungen herauskristallisiert haben. Das Plenum hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt insbesondere während seiner Tagungen am 24./25. Juni 2002 (Einbeziehung der Zivilgesellschaft, - hier ging es vor allem um das "europäische Sozialmodell"), am 3./4. Oktober 2002 (Aussprache über den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe III) und am 28. Oktober 2002 (Vorentwurf des Vertrags, Aussprache über den Abschlussbericht der AG II) den Fragestellungen des ersten Teils des Verfassungsvertrags gewidmet. Die Arbeitsgruppe XI (Soziales Europa) tagte noch bis zum 27. Januar 2003 und legte ihren Abschlussbericht (CONV 516/1/03) erst am 4. Februar vor, so dass er in den Entwurf vom 6. Februar 2003 zunächst nicht einging.

Dieser Entwurf behält in Titel I (Definition und Ziele der Union) noch die Anzahl der Artikel des Vorentwurfs bei und beschränkt sich damit auf "Gründung", "Werte", "Ziele" und "Rechtspersönlichkeit". Die Konventsmitglieder reagierten auf den Entwurf vom 6. Februar 2003 mit einer Vielzahl von Änderungsanträgen, die Gegenstand der Plenartagung am 27./28. Februar 2003 waren. Eine zusätzliche Plenartagung wurde für den 26. März 2003 angesetzt. Auf der Tagesordnung stand eine Aussprache zu den Artikeln I-1 bis I-7 EVE (CONV 674/03). Die Änderungsvorschläge gingen in den überarbeiteten Text der Verfassung vom 28. Mai 2003 ein, in dem die Artikel von Teil 1 (und damit auch Titel I) nicht nur modifiziert, sondern darüber hinaus durchlaufend neu nummeriert wurden. Mit diesem Vertragsentwurf wurde zum ersten Mal Titel I mit den sieben Artikeln, wie sie in der abschließenden Fassung vom 18. Juli 2003 enthalten sind, aufgeführt. Die "Grundfreiheiten und Nichtdiskriminierung" sowie die "Beziehungen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten" traten als eigenständige Vertragsartikel hinzu - das Diskriminierungsverbot war ursprünglich Titel II zugeordnet. Bis zur Schlussfassung vom 18. Juli 2003 wurde Titel I danach nur noch geringfügig modifiziert.

Konfliktlinien und Konsensbereiche

Wo lagen nun die Konfliktlinien im Konvent im Hinblick auf Definition und Ziele der Union? Wie oben bereits aufgeführt, wurde die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten auch im Konvent heftig diskutiert. Es wurde zwar regelmäßig darauf verwiesen, dass durch den Verfassungsvertrag keine neuen Zuständigkeiten an die Gemeinschaft fallen. Dennoch legte die Mehrheit im Konvent großen Wert darauf, dass das Wesen der Union in Art. I-1.1 EVE als Union der Bürgerinnen und Bürger Europas verankert, gleichzeitig aber deutlich werden soll, dass die Union ihre Kompetenzen ausschließlich durch die Mitgliedstaaten erhält.

Im Endprodukt tauchen dann die Mitgliedstaaten in Art. I-1.1 EVE nicht weniger als vier Mal explizit auf. Ergänzt wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Union und Mitgliedstaaten noch durch den im Entwurf vom 28. Mai 2003 an dieser Stelle eingeführten Art. I-5. Dieser verpflichtet die Union einerseits zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten unter Wahrung der grundlegenden Staatsfunktionen (territoriale Unversehrtheit, öffentliche Ordnung und innere Sicherheit). Andererseits werden die Union und die Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet. Hervorzuheben ist, dass der Begriff "Völker" aus Art. I-1 EVE in der Schlussfassung durch den Begriff "Bürgerinnen und Bürger", der durch den Vertrag von Maastricht offiziellen Charakter bekommen hat, ersetzt wurde. Allerdings wird er im folgenden nicht durchgängig verwendet, sondern es taucht beispielsweise in Art. I-3.1 EVE auch wieder der Begriff "Völker" auf.

Im Zusammenhang mit Art. I-1.1 EVE wurde darüber hinaus von den Konventsmitgliedern mehrfach erwogen, die Formulierung der Union als "immer engere Union der Völker Europas" (seit den Römischen Verträgen vom 1. Januar 1958 im Vertragstext enthalten) beizubehalten, um den Prozesscharakter der Integration deutlich zu machen. Diese Auffassung konnte sich jedoch letztlich nicht durchsetzen. Erfolgreich waren die Änderungsanträge bezüglich der Formulierung "in föderaler Weise". Diese wurde wegen ihrer unterschiedlichen Bedeutung in den einzelnen Mitgliedstaaten schon mit dem überarbeiteten Entwurf vom 28. Mai 2003 getilgt und letztlich durch die auch rechtlich genauere Formulierung "in gemeinschaftlicher Weise" ersetzt. Zentral ist auch die Entscheidung, den Namen "Europäische Union" beizubehalten, um die Öffentlichkeit nach dem Vertrag von Maastricht nicht erneut mit einer neuen Bezeichnung zu konfrontieren. Giscards Vorschlag eines "Vereinten Europa" wurde damit eine Absage erteilt.

Intensiv diskutiert wurde auch der Umfang des Wertekanons in Art. I-2 EVE sowie die mögliche Aufnahme eines religiösen Bezugs. Im Verlauf der Konventsarbeiten wurde der Kanon des ersten Entwurfs um die Prinzipien der Gleichheit, des Pluralismus und der allgemeinen Nichtdiskriminierung (gegenüber dem speziellen Diskriminierungsverbot aufgrund der Staatsangehörigkeit aus Art. I-5 EVE) erweitert. Eine Neuerung gegenüber dem bisherigen Werte-Artikel der EU (Art. 6.1 EUV) stellt die explizite Nennung der Achtung der Menschenwürde und des Ziels einer "friedlichen Gesellschaft" dar. Mit diesen Begriffen wird die gesellschaftliche Dimension des Einigungswerks besonders deutlich. Die Befürworter der Verankerung eines religiösen Bezugs im Wertekanon konnten sich ebenso wenig durchsetzen wie die Mitglieder der Arbeitsgruppe XI (Soziales Europa), die den Begriff "soziale Gerechtigkeit" und explizit die Gleichstellung von Männern und Frauen in den Wertekatalog aufnehmen wollten.

Erwartungsgemäß gab es hinsichtlich der zu formulierenden Ziele der Union in Art. I-3 EVE großer Diskussionsbedarf. Vor allem betraf dies Art. I-3.2 (der Fassung vom 6. Februar 2003, in der Schlussfassung ist dies Art. I-3.3 EVE, da die Bestimmungen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vorgezogen wurden). Zahlreiche Konventsmitglieder bemängelten, dass dieser Absatz zu "schwammig" formuliert sei und setzten sich für konzeptionelle Genauigkeit und größere Prägnanz ein. Dies sei vor allem deshalb notwendig, weil der Gerichtshof diese Zielformulierungen bei seiner Rechtsprechung heranziehen werde. In der Tat enthält Art. I-3.2 in dieser Fassung eine Mischung von allgemeinen (ausgewogenes Wirtschaftswachstum, Wettbewerbsfähigkeit...) und speziellen Zielen (technischer Fortschritt einschließlich der Weltraumforschung), die in dieser Form nicht schlüssig ist.

In der Debatte um konkrete Zielbestimmungen ging es vor allem um die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen. Die Arbeitsgruppe XI (Soziales Europa) hatte in ihrem Abschlussbericht festgestellt, dass in der Union soziale Ziele wirtschaftlichen Zielen gleichrangig seien - der Gründungsgedanke und die Entwicklung zeige dies deutlich. Die Verfassung müsse nicht nur den Begriff der "sozialen Marktwirtschaft" verankern, sondern darüber hinaus auch einige ihrer Merkmale - "Qualität der Arbeit", "hohes Maß an Gesundheitsschutz", "effiziente und hochwertige Sozialdienste und Leistungen der Daseinsvorsorge", "lebenslanges Lernen" - benennen. Mit den meisten dieser Detailvorschläge konnte sich die Arbeitsgruppe nicht durchsetzen, der Oberbegriff der sozialen Marktwirtschaft fand jedoch Eingang in die Schlussfassung. Andere Konventsmitglieder forderten, einen Bezug auf das "europäische Sozialmodell" aufzunehmen, waren aber damit ebenso wenig erfolgreich.

In den Entwurf aufgenommen wurde hingegen das "Prinzip der nachhaltigen Entwicklung" in Anlehnung an die Göteborger EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung, und zwar in Art. I-3.3 und Art.I-3.4 EVE. Nicht durchsetzen konnten sich die Befürworter einer stärkeren Verankerung der Politik der Nichtdiskriminierung an dieser Stelle des Vertrags. Im Verlauf der Diskussion wurde auch eine prägnantere Formulierung von Art. I-3.4 EVE (Beziehungen der Union zur übrigen Welt) erreicht. Hervorgehoben werden kann dabei auch die Aufnahme der "Weiterentwicklung des Völkerrechts" sowie der explizite Verweis auf die Charta der Vereinten Nationen, der in der Februar-Fassung noch nicht enthalten war.

Die herausragende Bedeutung der Grundfreiheiten des Binnenmarkts als gegenwärtige Kernbereiche des Gemeinschaftsrechts hebt der in der Mai-Fassung neu in Titel I aufgenommene Art. I-4 hervor, der auch das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit enthält.

Breiter Konsens bestand im Konvent hinsichtlich der Verleihung einer einzigen Rechtspersönlichkeit an die Union, die an die Stelle der bestehenden Rechtspersönlichkeiten (Gemeinschaft und EURATOM) tritt und in Art. I-6 EVE vom 18. Juli 2003 verankert wurde (vgl. auch den Synthesebericht über die Plenartagung am 3./4. Oktober 2002, CONV 331/02). Als Konsequenz der Verleihung der Rechtspersönlichkeit wird die Union zum Völkerrechtssubjekt. Damit stehen ihr künftig die Instrumente des internationalen Handelns zur Verfügung: Sie kann zum Beispiel internationalen Organisationen oder Übereinkommen beitreten, völkerrechtliche Verträge abschließen oder als Beschwerdeführerin vor einem internationalen Gericht auftreten. Auf diese Weise wird das Auftreten der EU gegenüber Drittstaaten und internationalen Organisationen verbessert, eine größere Rechtssicherheit für die Vertragspartner erreicht und die Herausbildung einer europäischen Identität auf internationaler Ebene Vorschub gefördert.

Ein tragfähiges Fundament für die Union?

Sind die Ergebnisse des Konvents nun ausreichend, um ein tragfähiges Fundament für die Europäische Union zu bilden? Stiftet die Verfassung mit ihrer Präambel, ihren Werten und Zielvorgaben tatsächlich die Identität für die Bürgerinnen und Bürger, die der Integrationsprozess angesichts der Herausforderungen der kommenden Jahre so dringend benötigt? Ein abschließender Blick auf Präambel und Titel I zeigt, dass zwar Fortschritte gemacht wurden, aber weiterhin Nachbesserungsbedarf besteht.

Eine Präambel, die einer Verfassung vorangestellt ist, dient in erster Linie dazu, ein "Staatsverständnis" zum Ausdruck zu bringen. Damit bildet sie das Fundament für die sich anschließende Verfassung und kann als maßgeblicher Bezugspunkt von der Gerichtsbarkeit herangezogen werden. Vor diesem Hintergrund erwartet man, dass dies der Ort ist, an dem die Mitgliedstaaten ihre Beweggründe für eine Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Union zum Ausdruck bringen und Grundsätze sowie Leitbilder der Union klar und präzise formuliert werden. Dies erfolgt jedoch nur in Ansätzen. Vergleicht man die Präambel des Verfassungsentwurfs mit derjenigen der Grundrechtscharta, so bleibt die Präambel des Verfassungsentwurfs hinsichtlich der Ziele, aber auch hinsichtlich des Kontextes ihrer Entstehung hinter der Präambel der Grundrechtscharta zurück.

Die Präambel der Charta nennt nämlich nicht nur die der Union zugrunde liegenden Grundsätze, sondern gibt darüber hinaus Aufschluss über die Frage, aus welcher Motivation heraus und in welchem Verfahren die Grundrechtscharta entstanden ist. Der Präambel fehlt dieser Hinweis auf den Anlass bzw. den Kontext für eine Neuordnung der Verträge und ihre Zusammenfassung in einem Verfassungsvertrag. Es wird weder auf den Post-Nizza-Prozess im Allgemeinen, noch auf einzelne Elemente wie die Erklärungen von Nizza oder Laeken Bezug genommen. Der Konvent selbst wird zwar am Ende kurz als Urheber der Verfassung genannt, die dahinter stehende Idee eines umfassenden gesellschaftlichen Informations- und Konsultationsprozesses im Rahmen der Konventsarbeiten und des Post-Nizza-Prozesses bleibt aber unerwähnt.

Schließlich ist es im Hinblick auf Kohärenz und Verständlichkeit einer Verfassung wenig sinnvoll, wenn diese gleich zwei Präambeln enthält, denn zusätzlich zur Präambel der Verfassung enthält der Vertrag auch in Teil II die Charta der Grundrechte inklusive deren Präambel. Dies wird im Hinblick auf die Frage, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, bei Europarechtlern für reichlich Diskussionsstoff sorgen. Identität stiftend werden die Präambeln vermutlich kaum wirken, da den Bürgerinnen und Bürgern nach wie vor ein verbindlicher Bezugspunkt fehlt.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es der Präambel an einer politischen Vision sowie am Kontext ihrer Entstehung mangelt. Mit Blick auf die Idee, den Bürgern "ihre Union" mittels einer Verfassung näher zu bringen, ist das Ergebnis nicht optimal. Angesichts der zu bewältigenden Herausforderungen der kommenden Jahre darf die Union dieses Ziel aber nicht aus den Augen verlieren.

Art. I-1 EVE (Gründung der Union) gibt ebenfalls Anlass zu Kritik. So tauchen zwar die "Bürgerinnen und Bürger" Europas an zentraler Stelle auf, gleichzeitig werden aber die Mitgliedstaaten im selben (zwei Sätze langen) Absatz nicht weniger als vier Mal genannt. Diese Formulierungen sind sprachlich schlicht unelegant. Man stellt sich die Frage, ob der doppelte Legitimationsstrang, aus der die Union sich speist, nicht auch auf andere Weise hätte "wasserdicht" formuliert werden können und gewinnt den Eindruck, dass die Konventsmitglieder selbst unsicher sind, welche Wirkung der Verfassungsvertrag entwickeln wird. Eine Absicherung nach allen Seiten erschien ihnen offenbar notwendig. Unverständlich ist darüber hinaus, warum der Konvent den Begriff der "Bürger" nicht konsequent weiterverfolgt, sondern an anderer Stelle doch wieder von "Völkern" spricht.

Hinsichtlich der Grundwerte der Union sind die prägnante Auflistung und die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Komponente des Integrationswerks zu begrüßen. Mit Blick auf den Zielkatalog ist jedoch fraglich, welche Funktion dieser in Zukunft einnehmen wird, wenn sich zeigt, dass nicht alle Vorgaben durchsetzbar sein werden. In einigen Mitgliedstaaten zwar üblich, ist zumindest im deutschen Verfassungsrecht umstritten, ob lediglich angestrebte positive Entwicklungen Eingang in einen Verfassungstext finden dürfen. Die "Vollbeschäftigung" etwa ist derzeit nicht in Sicht. Fraglich ist auch, ob die EU tatsächlich in allen Zielen, die sie formuliert, die Kompetenzen zur Umsetzung besitzt. Dies gilt insbesondere für die Wahrung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt in der Union (Art. I-1.3 EVE). Mit Artikel I-3.5 EVE gesteht der Vertrag dieses Dilemma selbst ein.

Positiv zu bewerten ist das Bekenntnis zur Weiterentwicklung des Völkerrechts, der Bezug auf die Charta der Vereinten Nationen sowie die Aufnahme der vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts an prominenter Stelle des Vertragsentwurfs. Zu begrüßen ist im Hinblick auf Titel I vor allem auch die Verleihung einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit an die Union. Dies kann als einer der größten Fortschritte der gesamten Konventsvorschläge gewertet werden, da somit zumindest die Identität der EU als internationaler Akteur in ihrer Außenwirkung verdeutlicht und gestärkt wird.

Der erste Teil des Verfassungsentwurfs sollte ein tragfähiges Fundament für die Europäische Union sein - mit einer Präambel, die Bezugspunkt für die Bürgerinnen und Bürger ist und politische Identität stiftet, einem Wertekatalog, zu dem sich alle Mitgliedstaaten bekennen, mit Zielvorgaben, die gleichermaßen visionär und umsetzbar sind und einer eigenen Rechtspersönlichkeit für die Union. Die Bilanz des Konventsentwurfs zu diesen Anforderungen fällt jedoch gemischt aus. Zwar sind wichtige Fortschritte erzielt worden, die Klärung der politischen Identität der Europäischen Union bleibt für die Bürger aber nach wie vor zu vage.


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