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Selbstorganisiertes Forschungsprojekt an der Universität München

Methoden der Bürgerbeteiligung

Von Candy Rietig, Fabian Eckl, Lenya E. Meislahn & Wolfgang Fänderl

08.01.2007 · Akademie Führung & Kompetenz



Was passiert, wenn Studierende ihre Forschung selbst in die Hand nehmen? Das vergangende Sommersemester 2006 trägt mit einer PDF-Veröffentlichung bereits Früchte: die Studierenden des Wintersemesters 2006/2007 konnten aus Erfolgen wie Fehlern ihrer Vorgänger lernen und hatten Mitte Dezember ihre eigene Blockveranstaltung organisiert. Mehr dazu auch auf der eigens erstellten Webseite: www.buergerbeteiligung.de.vu.

WAS? WER? WIE?

Der Titel der Übung "Methoden der Bürgerbeteiligung" ist Programm. Die 35 Studierenden des Sommersemesters 2006 am Politischen Lehrstuhl der Ludwig-Maximilian-Universität München leisteten nicht nur inhaltliche sondern auch organisatorische Vorbereitungsarbeit und luden zu der zentralen Blockveranstaltung acht Experten aus Beratung, Moderation, Wissenschaft und Kommunalpolitik ein, um zu erforschen, wie Bürger besser beteiligt werden können.

Dabei wurden im "Selbstversuch" innovative Großgruppenmethoden eingesetzt: "Appreciative Inquiry" (Wertschätzende Erkundung mit Hilfe von Interviews), "Open Space Technology" (Konferenzform zu selbstgewählten Themen in offener Atmosphäre) und die selbstentwickelte "Open-Space-Schreibwerkstatt" (Absprache der weiteren Verschriftlichung der Ergebnisse mit Themen-Vernissage zum Abschluss).

Studierende des Geschwister-Scholl-Instituts organisierten eine Open Space-Veranstaltung

"Wie, Herr Fänderl kommt nicht?" war der wohl meistgehörte Satz am Donnerstag Abend im Feierwerk. Der Dozent, Wolfgang Fänderl, ist Vernetzungsberater, Forscher an der Akademie Führung & Kompetenz und Lehrbeauftragter des Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft (GSI). Gemeinsam mit den Studierenden hatte er mehrere Monate lang diese Tagung vorbereitet - und nun würde er nicht dabei sein?

Es war der letzte Kick zur Selbstorganisation und erst jetzt waren die gut vorbereiteten Studierenden in der Lage in die Rolle der Gastgebenden zu treten. Dieses Vorgehen war alles andere als üblich. 'Methoden der Bürgerbeteiligung' wollte auch didaktisch einen passenden Weg zur Selbstorganisation und Mitverantwortung aufzeigen und dieses Vorgehen war eines der Unterstützungsmomente.

Open Space als Grundidee

Anfang der Achtziger Jahre hatte Harrison Owen, als Organisator einer Tagung in den USA die ernüchternde Erfahrung gemacht, dass die Teilnehmer trotz bester Vorbereitung und kompetenter Referenten nur die Kaffeepausen mit Bestnoten bewerteten. Nur bei den Pausen kam es zum Austausch über Themen, die persönlich interessierten und Kontakte entstehen ließen. Ließe sich daraus etwas für Veranstaltungskonzepte lernen?

So entstand der Methodenansatz der immerwährenden Kaffeepause, die Open Space Technology. Nach einer kurzen Einführung in das gemeinsame Überthema und den Veranstaltungsrahmen wird die gut vorbereitete Konferenz in die Selbstorganisation der Beteiligten übergeben. Sie schlagen je nach Anliegen ihre Einzelthemen vor, und sorgen für den Austausch in kleineren oder größeren Gruppen. Dabei muss ein Initiator nicht schon alles wissen, sondern kann zu einem Thema einladen, das ihn interessiert.

Außerdem wird mit dem üblichen Gruppenzwang gebrochen. Wenn bei der Beteiligung in einer Arbeitsgruppe das Gefühl entsteht, weder etwas beitragen, noch etwas lernen zu können, muss man weitergehen! Als "Gesetz der zwei Füße" ist diese Anweisung das einzige MUSS des Konferenzmodells. Beteiligte tragen - bildlich gesprochen als "Hummeln" - die Erkenntnisse aus der einen Gruppe in andere Gesprächskreise hinein. Wer sich nicht entscheiden kann und erst mal am "pausenlosen Pausenbuffet" einen Kaffee trinkt, ist ebenso willkommen und wird als "Schmetterling" bezeichnet. Mit dieser positiven Grundeinstellung ergeben sich nämlich auch dort Gespräche, die dem Gesamtthema und der Gruppe ungewollt gut tun können.

Open Space Prinzipien für eine Lehrveranstaltung?

Für die Arbeit an einem Thema oder einer Problemlösungen hat sich das Konzept des Open Space auch in Deutschland an einigen Stellen des öffentlichen Lebens durchgesetzt. Wieso sollte es also nicht auch an der Universität funktionieren? Im Januar begann eine Initiativgruppe aus Studierenden des GSI zusammen mit dem Lehrbeauftragten die Pilotveranstaltung vorzubereiten. Ziel war es, die Rahmenbedingungen für das so eben ansatzweise beschriebene Open-Space-Konzept schrittweise aufzubauen. Ungewohnt war die koordinierte, kontinuierliche Verteilung von Verantwortung und der Aufbau von Kompetenzen zur Durchführung so eines Beteiligungsprozesses.

Das Maß an Eigenleistungen der Studierenden (insb. der Koordinatoren des Initiativkreises) ging deutlich über das Engagement einer normalen Übung hinaus. Der Erfahrungsgewinn, die Eigenmotivation und die Reflexion der inhaltlichen wie organisatorischen und methodischen Interessen im Gegenzug war dafür beachtlich. Sie floß in Form von Berichten über die eigens installierte Webplattform www.buergerbeteiligung.de.vu direkt in Publikationen und Folgeveranstaltungen ein.

Vorbereitung der Übung

Ende April 2006 war es nach drei Treffen der 8 Initiatorinnen und Initiatoren soweit. Die erste Einführungsveranstaltung mit insgesamt 35 Beteiligten, organisiert und koordiniert vom studentischen Initiativkreis, fand im größten Raum des Geschwister-Scholl-Instituts statt. Wenn man die Aussagen der Reflektionsrunde nach diesen ersten zwei Stunden zugrunde legt, war trotz Informationsblättern und Webartikeln den meisten noch nicht klar, was auf sie zukommen würde. Aber die Neugier war bei allen geweckt.

Bei der zweiten Einführungsveranstaltung wurden eigene Anliegen zum Gesamtthema ausgestauscht, die auch während der späteren Tagung diskutiert und entsprechend vorbereitet werden konnten. Als Grundlage für eine spätere Hausarbeit war damit auch die Perspektive für die späteren Leistungsnachweise gegeben. Auch diese Form der Lehrveranstaltung, stellte gewisse formale Anforderungen, auf die geachtet werden musste.

Die Themen, welche von den Studierenden nach Eigeninteresse ausgewählt wurden, beschäftigten sich mit innerparteilicher Demokratie, mit den Hürden von aktiver zu passiver Mitgliedschaft bis hin zu Patenschaftsmodellen für Kinder aus sozial schwachen Familien. Außerdem hatten alle Beteiligte über die Themengruppe hinaus noch mindestens einen organisatorisch-methodischen Aufgabenbereich zu bewältigen.

Vorgaben kamen hierzu aus dem Projektverfahren "Gemeinsinn-Werkstatt", das innovative Methodenansätze zur Förderung freiwilligen Engagements bereitstellt. Neben der Moderation der einzelnen Veranstaltungstage wurde z.B. eine Gruppe fürs Catering gebildet, andere wollten sich um die Kommunikation und PR kümmern. Dokumentation, Materialbeschaffung, Finanzen - alles das wurde von den Studierenden in Aufgabengruppen organisiert und im Initiativkreis koordiniert.

Der Tagungsablauf

Am 22. Juni 2006 kam dann der große Augenblick: der dreitägige Workshop in den Räumlichkeiten des Feierwerks (Zentrum für Jugendkulturarbeit) wurde eröffnet. Den Kreis der Beteiligten vervollständigten die von den Studierenden eingeladenen acht Gäste aus Beratung, Moderation, Wissenschaft und Politik, die allesamt ein hohes Maß an Erfahrung im bürgerschaftlichen Engagement mitbrachten.

Der erste Abend widmete sich dem Kennenlernen der Studierenden und Gäste. Hier wurde die Methode des "Appreciative Inquiry" (Wertschätzende Erkundung) angewendet, nachdem sich die Beteiligten auf einem "Erfahrungsbarometer" ihrem Engagement im sozialen, politischen und methodischen Bereich entsprechend zugeordnet hatten. Bei den "Wertschätzenden Interviews" in Dreiergruppen, tauschten sich die Beteiligten über ihre positiven Erfahrungen in Sachen Bürgerbeteiligung aus, ergründeten die Ursachen und entwickelten Tipps und Hinweise für das anschließende Plenum. Die Plenumsrunde wurde auch genutzt, um eigene Erwartungen an die nächsten Tage auszudrücken.

Nach dem Kennenlernen am ersten Abend ging es dann Freitag früh darum, die Themen zu entwickeln, die in vier Runden über den Tag verteilt zur Diskussion angeboten wurden. Die Füße konnten also benutzt werden, die Hummeln und Schmetterlinge ausfliegen. In den folgenden Stunden wurde geredet, viel geredet - meist an der frischen Luft und im Sonnenschein. Jede Anliegengruppe hielt die Ergebnisse fest, um sie anschließend ins interne Wiki - eine partizipative Internetplattform - zu stellen.

Die Abschlussrunde brachte es dann an den Tag: Viele waren überrascht, wie produktiv die einzelnen Gruppen gewesen waren, wie die immerwährende Kaffeepause die Gedanken beflügelt hatte, zumindest der Rahmen aber dazu beitrug, sich wirklich richtig einzubringen und nicht nur stumm zuzuhören und sich seinen Teil zu denken - wie es an der Uni eher die Regel ist.

Nachdem der Lehrbeauftragte erst am Ende des zweiten Tages wieder auftauchte, war seine Abwesenheit gut ausgeglichen, ja beinahe vergessen worden. Fast alle fanden den Zustand positiv, denn die völlige Eigenverantwortlichkeit hatte noch mehr aus allen herausgeholt und die Motivation sich einzubringen gesteigert. Es zeigte sich, dass es bei genügend Eigenmotivation und klaren Rahmenbedingungen auch klappt eine Lehrveranstaltung durchzuziehen, wenn kein Dozent da ist.

Der dritte Tag war der "Schreibwerkstatt" vorbehalten, in der die zuvor diskutierten Themen vertieft werden konnten, ihre Verschriftlichung vorbereitet wurde, damit die Ergebnisse festgehalten werden konnten - vor allem in Hinblick auf die Hausarbeiten. Hier wurden vom Lehrbeauftragten die notwendigen Voraussetzungen aufgezeigt und in Interessengruppen und Einzelabsprachen an den Gliederungen der Hausarbeiten gearbeitet.

Die nachhaltige Nachbereitung

Nach dem gemeinsamen Aufräumen kam ein weiteres Prinzip des Open Space zum Tragen: "Vorbei ist vorbei und nicht vorbei ist nicht vorbei!" Für die meisten fing die inhaltliche Arbeit jetzt eigentlich erst an.

Die Evaluation und die Veröffentlichungen (bzw. Hausarbeiten) wurden einzeln und in Teams erledigt. Am 19.10. flossen die Ergebnisse der Evaluationsfragebögen und qualitativen Interviews in Form von Thesen in ein Follow-up der beteiligten Studierenden ein. Neben einer Reihe von Artikeln auf dem gemeinsamen Webportal wurde ein Teil der Hausarbeiten ausführlich in einer PDF-Publikation zusammengestellt, vom Dozenten kommentiert und sind jetzt als Download öffentlich verfügbar gemacht.

Die neue Ausschreibung der gleichen Übung, nur mit optimiertem Rahmenaufbau im Wintersemester 06/07, hat sich erfolgreich entwickelt und auch hier wurde Mitte Dezember eine Blockveranstaltung durchgeführt. Die Ergebnisse sind über www.buergerbeteiligung.de.vu einzusehen.

Die Erfahrungen des Sommersemesters stehen durch die interne Ergebnissicherung auf der Webplattform allen neuen Studierenden zur Verfügung. Erfahrungen werden auf Anfrage der 'Neuen' persönlich oder telefonisch weitergegeben. Ein Qualifizierungsmodell das peer-to-peer funktioniert und damit besonders effektiv verläuft: Transfer des Wissens an die Interessierten und Festigung des Wissens bei den Wissensträgern.

Für die dritte modellhafte Durchführung im Sommersemester 2007 wird eine Mentorengruppe aus bereits beteiligten Studierenden installiert werden, die sich um den Transfer der Ergebnisse und die Moderation der Vorbereitungstreffen kümmern wird. Schon jetzt lässt sich absehen, dass damit ein Veranstaltungsformat angestoßen wurde, das sich auch mit anderen Themenfoki im universitären Bereich etablieren kann.

Autoren

Candy Rietig, Fabian Eckl und und Lenya E. Meislahn (studentische Kommunikationsbeauftragte des Initiativkreises an der Uni München)

Wolfgang Fänderl (Lehrbeauftragter am Geschwister-Scholl-Institut und Mitarbeiter der Akademie Führung & Kompetenz am Centrum für angewandte Politikforschung)


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