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Aufrüttelnder Weckruf birgt Chancen

Tagesanzeiger-Interview mit Prof. Dr. Werner Weidenfeld zum "Non" der Franzosen zur EU-Verfassung

Der deutsche Politologe Werner Weidenfeld beklagt bei den politischen Eliten Europas ein generelles Führungs- und Überzeugungsdefizit.

Mit Werner Weidenfeld sprach Stefan Hostettler vom Tagesanzeiger.

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31.05.2005 · Tagesanzeiger



Haben die französischen Wählerinnen und Wähler die EU irreparabel geschädigt?

Es ist natürlich ein Desaster. Aber sie haben vorerst einmal nur das Verfassungsprojekt aufgehalten. Man kann eine historische Parallele ziehen zu 1954, als die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die Europäische Politische Gemeinschaft in der französischen Nationalversammlung scheiterten. Darauf folgte der grosse Aufbruch, der zu den Römer Verträgen mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) führte. Ein aufrüttelnder Weckruf birgt also durchaus auch Chancen. Aber harmonischer und effektiver wäre es natürlich gewesen, die Verfassung zu bejahen.

Aus Respekt für die anderen Mitgliedstaaten soll der Ratifizierungsprozess fortgesetzt werden. Macht es noch Sinn, wenn am Mittwoch in den Niederlanden über eine Verfassung abgestimmt wird, die in dieser Form nie in Kraft treten wird?

Das kann man noch nicht abschliessend sagen. Natürlich ist das Nein in Frankreich keine Motivationsspritze für die Niederlande. Zunächst soll der Ratifizierungsprozess aber einfach weitergehen. Der Vertrag sieht vor, dass sich der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs erst damit befasst, wenn nicht alle Mitgliedstaaten innerhalb zweier Jahren ratifiziert haben. Aber man muss gleichzeitig über Alternativen nachdenken. Die EU muss sich fragen, ob sie das Ziel der Verfassung nicht auf anderem Weg erreichen kann.

Wie wäre das möglich?

Grosse Teilausschnitte der Verfassung könnten in Einzelverträge umgegossen werden, die keiner grösseren Ratifizierung bedürfen. Wenn die EU einen Vertrag verabschiedet, um einen europäischen Aussenminister einzuführen, kommt niemand auf die Idee, deswegen eine Volksabstimmung durchzuführen.

Neuverhandlungen zur Verfassung, wie sie viele linke Verfassungsgegner in Frankreich wünschen, schliessen Sie aus?

Das halte ich für unwahrscheinlich, weil man im französischen Votum überhaupt keine spezifische Speerspitze für einen ganz konkreten europapolitischen Anlass ausmachen kann. Was den Franzosen europapolitisch nicht behagt hat, nämlich die Einwirkungsmöglichkeiten Brüssels auf den französischen Markt oder die reduzierte Schutzfunktion des französischen Staates, ist in früheren EU-Verträgen längst geregelt. Mit der Verfassung hat das gar nichts mehr zu tun. Man kann nicht wie beim irischen Nein zum Nizza-Vertrag 2001 auf deren Neutralität Rücksicht nehmen oder wie bei Dänemark und dem Maastricht-Vertrag das Problem mit einem Optingout für Sozialpolitik regeln.

Die vorliegende Verfassung war den Franzosen zu neoliberal, den meisten Briten aber ist sie zu dirigistisch. Wird Europa an diesem Dilemma scheitern?

Im Kern ist ein Sachverhalt entscheidend, der weder bei den Briten noch den Franzosen zu einer Kontroverse geführt hat: Die EU-Entscheidungsprozesse sollen optimiert, bestimmte institutionelle Abläufe vereinfacht sowie der Aussenministerposten und der gewählte Präsident des Europäischen Rates eingeführt werden. Hätte sich die Verfassung auf solche elementaren Dinge konzentriert, hätten wir heute dieses Problem nicht. Doch im vorliegenden Vertrag fanden die Franzosen eine Projektionsfläche für ihre innenpolitischen Frustrationen. Dieser Vorgang beweist, dass ein generelles Führungs- und Überzeugungsdefizit der politischen Eliten in Europa besteht. Sie haben viel Zeit in das Vertragswerk investiert, doch die Bürger sind ihnen in Frankreich nicht gefolgt. In weiteren Staaten wird es womöglich nicht anders sein.

Ist die Grundsatzdebatte, die sich jetzt aufdrängt, die grosse Chance, endlich die Fragen vieler Bürger nach der Zukunft und den Grenzen der EU zu beantworten?

Natürlich wird jetzt die Grenzfrage schärfer gestellt, weil der Türkeibeitritt in Frankreich auch eine Rolle gespielt hat. In Deutschland wird dieses Thema im anlaufenden Wahlkampf ebenfalls aufkommen. Doch richtige Antworten auf diese Fragen wird man nicht so einfach aus dem Ärmel schütteln können: Wer soll jetzt definieren, warum die Ukraine oder Serbien nicht dazu gehört? Vielleicht hätte die EU den Erweiterungsprozess behutsamer angehen sollen. Aber wenn wie im Fall Osteuropas die historische Situation sich ergibt, können wir den Polen nicht sagen, sie müssten noch 20 Jahre warten.

Die Erweiterung ist durch das sonntägliche Votum nicht gefährdet?

Nein. Sicher wird alles schwieriger, aber deshalb nicht unmöglich. In der Vergangenheit hatten Frankreich und Deutschland eine Führungsrolle bei der europäischen Integration. Doch beide Staaten sind derzeit vor allem mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Dieser Motor stottert, da beide Hauptakteure innenpolitisch geschwächt sind. Aber irgendwann wird sich das korrigieren. Wenn im Herbst die Opposition in Deutschland die Wahlen gewinnen sollte, hat das Land wieder ein festes Fundament und auch ein europapolitisch klares Konzept. Und in Frankreich dürfte sich auch früher oder später ein Wechsel ergeben. Mit Herrn Sarkozy als Präsident und Frau Merkel als Kanzlerin hätten wir wahrscheinlich wieder so ein Duo, das gut harmoniert.

Das «deutsch-französische Kerneuropa» ist also noch nicht Geschichte?

Nein. Das Duo gönnt sich eine Atempause. Es hat in der europäischen Integration schon genügend Beispiele gegeben, wie grosse Ideen scheiterten, aber im Moment des Scheiterns eine neue grosse Idee entstand, die dann auch realisiert wurde.


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