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"Wirtschaftliche Datenlage der Türkei besser als erwartet"

Interview mit Josef Janning zum Thema "Türkei in die EU?"

Moderation:
Bettina Klein
Deutschlandfunk

06.10.2004 · Deutschlandfunk



Klein: Am Telefon begrüße ich Josef Janning, stellvertretender Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München, guten Tag, Herr Janning.

Janning: Guten Tag, Frau Klein.

Klein: Welche Details, welche Einzelheiten dieses Berichtes kennen wir noch nicht, wir haben es gerade gehört, die Empfehlung ist offenbar bekannt geworden, aber noch keine Einzelheiten. Wie kann es denn Günter Verheugen schaffen, in seinem Bericht mit Wortwahl und mit seinen Details den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen, die ihm vorwerfen, eine zu schnelle Vorentscheidung pro EU-Beitritt gefällt zu haben?

Janning: Die EU-Kommission ist ja ein Kollegialorgan, das heißt, er braucht die Zustimmung der Mehrheit der Kommissare und dazu muss er auf diejenigen zugehen, die Befürchtungen haben, damit werde das Projekt der Integration, also einer immer engeren Union der Völker Europas, wie es in den Verträgen heißt, zu einer Utopie werden, also unmöglich werden und er muss gleichzeitig denjenigen entgegenkommen, die befürchten, dass ein Beitrittsprozess das soziale, das wirtschaftliche, das strukturpolitische Gleichgewicht der Union so aus den Fugen bringt, dass die Union selbst daran zerbricht. Dieses ist nach Lage der Dinge durchaus möglich, durchaus auch mit Semantik, denn die wirtschaftliche Datenlage der Türkei ist besser als man es vor Jahren noch erwarten konnte. Die Türkei befindet sich in einer Zollunion mit der Union, das ist weit mehr als die mittelosteuropäischen Beitrittsstaaten vor ihrem Dazukommen am ersten Mai diesen Jahres realisiert hatten.

Klein: Wie wird diese Voraussetzung zu erfüllen sein, wenn es auch auf die Wortwahl ankommt? Was muss sich mindestens dann darin wiederfinden, um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, die Sie gerade angesprochen haben.

Janning: Eben im Bericht klang die Formulierung einer Aussetzungsklausel an, ich glaube, dass ist sehr wichtig, die Türkei hat anders als die Mittelosteuropäer keinen kompletten Systemwechsel durchgemacht, sondern bewegt sich graduell von einem wenig leistungsfähigen, beschränkt demokratischen und marktwirtschaftlich nicht einwandfreien System hin zur Beitrittsreife. Hier ist die Implementation von ganz besonderer Bedeutung, das heißt, hier muss es ein fortlaufendes Monitoring geben, ob die Partei noch auf dem richtigen Weg ist. Gleichzeitig ist die politische Bewegung, deren Führer Erdogan ist, ein neuer Faktor in der türkischen Politik. Auch hier ist nicht klar, ob diese Form eines moderaten, auf die Trennung von Kirche und Staat bedachten, aber an islamischen Werten orientierten politischen Systems nachhaltig ist. Auch dort kann es Rückschläge geben, diese Aussetzungsklausel wird sehr wichtig sein. Daneben ist zu bedenken, dass die Türkei das einzige Land ist, dass für eine Mitgliedschaft der EU ansteht, dessen Bevölkerung auch in den nächsten Jahrzehnten noch deutlich wachsen wird, das heißt, die Freizügigkeitsklausel, die Überlegung, hier lange Übergangszeiten zu schaffen, um Ängsten entgegenzuwirken sind die zentralen Stellhebel, um die Widerstände zu überwinden.

Klein: Eine andere Frage ist, wie ergebnisoffen sollten die Verhandlungen nun festgeschrieben werden? Für diese Ergebnisoffenheit spricht sich die Opposition, vor allen Dingen die CDU in Deutschland aus. Wie ergebnisoffen sollte diese Verhandlung geführt werden?

Janning: Vom Prozess her sind dies keine ergebnisoffenen Verhandlungen, auch wenn das Ergebnis offen ist. Das ist jetzt mehr als eine reine Spitzfindigkeit. Beitrittsverhandlungen werden eröffnet zum Zweck der Vorbereitung des späteren Beitrittes. Der Hauptpunkt der Verhandlungen ist die Überprüfung der zigtausend Seiten des so genannten "Acquis Communautaire", also des Rechtsbestandes der EU, den jedes Mitglied zu übernehmen hat. Dieses in Kapiteln abzuarbeiten, bestimmt den Prozess, in diesem Prozess kann sich durchaus herausstellen, schon allein aufgrund der Dauer des Prozesses selbst, dass der politische Wille eines Landes beizutreten oder die gesellschaftliche Akzeptanz oder aber auch die wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen sich nicht so entwickeln oder nicht mehr so gegeben sind. Das heißt, ein Prozess der Annäherung und Vorbereitung auf den Beitritt kann durchaus zu einer Entscheidung führen, diesen Beitritt nun nicht mehr anzustreben. Das haben wir in Norwegen beispielsweise zweimal erlebt, wo die Verhandlungen ebenfalls begleitet wurden durch eine intensive Europadebatte im Lande selbst.

Klein: Es gibt offensichtlich doch noch einige Differenzen oder es gab sie unter den EU-Kommissaren über die Frage der Formulierungen, über die Frage, welche Auflagen gestellt werden sollen. Was bedeutet das für die Arbeit der Europäischen Union, auch der Europäischen Kommission? Welches Signal haben die Türkeiverhandlungen auf dieser Ebene für die Zukunft?

Janning: Die Kommission hat, wenn sie heute zu einer Entscheidung Pro-Aufnahme der Gespräche zu einem Zeitpunkt X jenseits der Jahreswende kommt, mit dieser Art der Entscheidung ein ganz sensibles Mandat, denn sie muss anders als in anderen Fällen, wo im Grunde das politische Grundsignal ist, sobald die Bedingungen stimmen, geht an einem Beitritt nichts mehr vorbei, viel sensibler ausdeuten, sie muss genau darauf achten, wo sich Entwicklungen in der Türkei zeigen, die auf ein Abbrechen der bisherigen Entwicklung oder auf Modifikationen im Reformplan hindeuten könnten und muss dann sofort reagieren. Reagiert sie nicht sofort, dann wird die Aussetzungsklausel und die damit verbundene Beruhigungswirkung sich sofort verflüchtigen.

Klein: Noch kurz zum Schluss, Herr Janning, die Union, also CDU und CSU wollen eine Abstimmung über diese Frage im Bundestag erzwingen, wie es heißt und zwar noch vor dem 10. Dezember, also auf dem EU-Gipfel, auf dem die Staats- und Regierungschefs dann endgültig über Beitrittsverhandlungen entscheiden werden. Ist das eine sinnvolle Forderung?

Janning: Die Opposition versucht durch eine solche Debatte und einen solchen Antrag die Regierung in ihrer Entscheidung im Europäischen Rat zu binden. Ob das sinnvoll ist oder nicht, ist eher eine Frage der politischen Taktik. Kommt eine Entscheidung gegen ein positives Votum auf den Fortschrittsbericht der Türkei zustande, dann hat die Bundesregierung ein Problem im Dezember, denn sie ist ja nicht nur Sprachrohr der jeweiligen Stimmungslage im Parlament, sondern sie ist gleichzeitig Teil eines EU-Entscheidungsgremiums und als solche hat sie auch das Gesamtinteresse und die Kohärenz und Stimmigkeit der EU-Politik zu beobachten. Sie gerät also in einen ziemlichen Zwiespalt.

Klein: Josef Janning war das, Politikwissenschaftler an der Universität München.


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