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"Das Parlament ist endlich aufgewacht"

Interview mit Prof. Dr. Werner Weidenfeld nach dem Rückzieher von José Barroso im Europäischen Parlament.

Die Fragen für das Handelsblatt stellte Silke Kersting.

28.10.2004 · Handelsblatt



Nachdem der designierte Kommissionschef José Barroso seine Personalvorschläge zurückgezogen hat, wird es am 1. November keine neue EU-Kommission geben. Befindet sich Europa in einer Krise?

Nein, was wir sehen, ist eine längst überfällige Praktizierung der in den europäischen Verträgen vorgesehenen Entscheidungslage. Das EU-Parlament ist endlich aufgewacht und hat zum ersten Mal mit den ihm zur Verfügung stehenden Kompetenzen Ernst gemacht. Bislang hat sich das Parlament eher wie ein Papiertiger bewegt. Sein Verhalten richtet sich im Übrigen nicht nur gegen die Kommission, sondern auch gegen den Rat: Die nationalen Regierungen haben das Grummeln des Parlaments nie so ganz ernst genommen. Das wird sich jetzt ändern.

Die Kommissare werden von den Staats- und Regierungschefs vorgeschlagen. Ist es ein Nachteil, dass der Kommissionspräsident aus dieser Delegation eine starke Mannschaft bilden muss?

Es ist ein Fehler, dass die Kommissionspräsidenten von ihrem starken Mitwirkungsrecht bei der Zusammensetzung der Kommission bisher praktisch keinen Gebrauch gemacht haben – auch nicht Barroso. Bei der Zuteilung der Ressorts gab es eine gewisse Handschrift von ihm, das hat er sehr geschickt gemacht. Auch dass er beim ersten Gegenwind aus dem Europäischen Parlament nicht gleich eingeknickt ist, finde ich in Ordnung. Es reicht nicht aus, nur das Parlament zu beachten, auch der Rat muss gehört werden. Man muss gewissermaßen wie ein Artist mit verschiedenen Bällen umgehen können. Und das traue ich ihm durchaus zu.

Barroso als Person ist nicht gescheitert?

Formal gesehen ist die gesamte Kommission gescheitert. Aber das Parlament hat vorher zu erkennen gegeben, dass sein Widerstand durch einzelne Kandidaten ausgelöst wurde. Insofern spricht die politische Machtsprache nicht in die Richtung, dass nun auch Barroso nicht mehr antreten soll, sondern dass er eine neue Komposition der Mannschaft vornimmt.

Sehen Sie ein böses Omen für die Europäische Verfassung?

Vordergründig ja, wenn man die Stimmung, dass da etwas schief gelaufen ist, sich entfalten lässt. Doch wenn die konstitutionelle Klarheit, die das Ganze schafft, in den Vordergrund gerückt wird, kann es auch eine Chance für die Verfassung sein, weil den Beteiligten klar wird, dass es hier um eigentlich sehr transparente Entscheidungsprozesse geht, an denen die Repräsentanten der europäischen Bürger markant mitwirken können.


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