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Ein Beweis der Vitalität der EU

Interview mit Werner Weidenfeld zu Verfassung und EU-Konvent

20.10.2003 · EU-Nachrichten, Nr. 6



EU-Nachrichten: Verfassungen dokumentieren in der Geschichte tiefgreifende gesellschaftliche Zäsuren. Ist bei den Menschen angekommen, was eine EU-Verfassung bedeutet?

Werner Weidenfeld: Das glaube ich nicht, denn die Menschen sind nur wenig berührt, wenngleich die Medien ungleich mehr berichten als früher. Erst wenn sich die Leute elementar betroffen fühlten, wäre das Interesse an Einzelheiten größer. Erschwerend wirkt sich aus, dass die EU mit großen Zeitspannen arbeiten muss. Von der Vorbereitung der Reform in Gremien, Konvent und Regierungskonferenz, über harte Einzelentscheidungen und feierliche Unterzeichnung bis zur Ratifizierung und Realisierung vergehen etliche Jahre. Jetzt hat man in der Verfassung sogar einige Punkte auf 2009 terminiert. Da lässt die Wahrnehmung merklich nach.

EU-Nachrichten: Wie bewerten Sie die Konventsergebnisse?

Werner Weidenfeld: Im Rahmen unseres politisch-kulturellen Selbstverständnisses ist eine Verfassungsgebung für Europa ein großer Schritt, um

  • wegzukommen vom vertraglichen Wildwuchs;

  • eine elementare Orientierung im politischen System der EU zu geben;

  • den europäischen Konsens in eine Form zu gießen

  • und mittelfristig die europäische Identität zu stärken.

Vor zwei Jahren hat man es noch für unmöglich gehalten, dass Europa eine Verfassung erhält.

Im Ergebnis ist jedoch nicht alles erreicht worden. Nach dem Motto "Der Weg ist das Ziel" ist der Text streckenweise mit "der heißen Nadel gestrickt". Daher denke ich heute schon über den Konvent II im Jahr 2010 nach, der die Verfassung in eine kleine, handliche Form gießen wird. So wie das Grundgesetz Dutzende von Korrekturen erlebt hat, wird auch diese Verfassung fortentwickelt werden. Hierzu ist ein neuer Konvent einzuberufen, sagt der Verfassungsentwurf - ein Hinweis auf die Offenheit des Prozesses.

EU-Nachrichten: Werden Grundrechte und Einflussmöglichkeiten der Unionsbürger ausreichend gestärkt?

Werner Weidenfeld: Die Rechtsgemeinschaft wird schon erheblich gestärkt, angefangen vom Grundrechtekatalog, der Verfassungsrang erhält, und der die EU als Union bindet, über die Stärkung des Europäischen Gerichtshofs bis hin zu den neuen Möglichkeiten, Einwände gegenüber der Europapolitik geltend zu machen. So wird die Rolle der nationalen Parlamente erheblich gestärkt. Würde der Verfassungsentwurf des Konvents Geltung erlangen, wären die Verantwortlichkeiten viel klarer. Damit sind die Mitwirkungsmöglichkeiten des Bürgers und sein Schutz erheblich verbessert.

EU-Nachrichten: Wie reiht sich die EU-Verfassung in Verfassungstraditionen der Länder ein?

Werner Weidenfeld: Nationale Traditionen lassen sich nicht einfach auf die europäische Ebene heben. Die EU-Integration ist vielmehr ein beispielloser Vorgang - ein eigenes "spezifisches Gebilde". Das Bundesverfassungsgericht versuchte dies mit einem neuen Begriff zu fassen: Die Union ist demnach kein Staatenbund, kein Bundesstaat, sondern ein "Staatenverbund".

EU-Nachrichten: Haben sich einzelne nationale Traditionen Geltung verschafft? Gibt es Vorbilder?

Werner Weidenfeld: Es gibt zum einen weitgehende Überschneidungen in den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten selbst. Einen Dissens, der vielfach angenommen wurde, haben wir nicht feststellen können. So lassen sich Wertbekenntnisse in der Präambel wie Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft am ehesten in die französische Verfassungstradition einordnen. Eine verstärkte Mitwirkung der europäischen Bürger wurzelt in der "Volkssouveränität" der deutschen Verfassungstradition. Die Charta der Grundrechte kann bei der britischen "Bill of Rights" verortet werden. In Analogie zum deutschen Grundgesetz: "Die Länder schließen sich zum Bund zusammen", heißt es sinngemäß im Verfassungsentwurf: "Die Mitgliedstaaten schließen sich zur Europäischen Union zusammen. Sie übertragen Kompetenzen. Alles, was nicht geregelt ist, verbleibt in der Kompetenz der unteren Ebene".

Mit dieser Offenheit gegenüber vielen Traditionen beweist die EU ihre Lernbereitschaft. Die Fähigkeit, Potenziale aus den Staaten zu bündeln, ohne jemanden vor den Kopf zu stoßen, ist ein Beweis für die Vitalität der Union.


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