Nicht einfach weiterwurschteln
Interview mit Jürgen Turek zu seinem Buch "Wie Zukunft entsteht"
04.01.2003 · Thüringer Allgemeine
Die Zukunft ist das Schicksal unserer Familien, Kinder oder der Gesellschaft, sie ist das, was uns am meisten bewegt. Ich denke, begrifflich lässt sich das am besten mit den Szenarios einfangen, die nach unseren Eindrücken am wahrscheinlichsten eintreffen werden. Die große Ära der Globalisierung, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts begann, führte auf der einen Seite zu großer Zuversicht, auf der anderen Seite erzeugte sie aber ein erhebliches Unbehagen, was da eigentlich auf uns zu kommt. Insofern kann Zukunft in einer Sekunde, einer Stunde, einem oder in 100 Jahren sein. Aber sie ist auch jetzt! Zukunft entsteht nicht einfach so, sie wird gemacht, also liegt es an uns, an unserem Verhalten, unserer Politik, welche Szenarios der Futurologen Wirklichkeit werden.
Man gewinnt den Eindruck, als ob mit Begriffen wie etwa Nachhaltigkeit Zukunft in die Gegenwart geholt werden soll - sind die Menschen heute weniger zukunftsgewiss als in früheren Zeiten?
Die großen Heilsversprechen, Ideologien oder Visionen des industriellen Zeitalters haben an Gewicht verloren. In Deutschland wie anderswo gibt es eine Vielfalt gegenläufiger Tendenzen. Nur ein Beispiel: Während unser Land durch eine beispiellose Phase der Entkirchlichung geht, wächst das Interesse an alternativen Religionen. Gleichzeitig setzt sich die Individualisierung fort. Das passt schwer zusammen. Ein einigender Konsens ist heute schwerer zu erreichen. Nachhaltigkeit könnte man hier als kleinsten gemeinsamen Nenner bezeichnen, der zwar nicht die Qualität eines Heilsversprechens hat, der aber in der Ausrichtung auf dauerhafte ökologische, soziale und wirtschaftliche Lösungen von niemanden in Frage zu stellen ist.
Ihr Metier steht im Ruf der Prophetie - braucht man nur den besonderen Blick, um Zukunft zu entdecken?
Das mit der Prophetie ist der Zukunftsforschung leider im Verlauf ihrer eigenen Geschichte nicht immer gut bekommen. Schauen Sie, die moderne Zukunftsforschung hatte ihre Wurzeln nach dem Zweiten Weltkrieg in Amerika und breitete sich dann weltweit rasch aus. Man arbeitete zum Teil mit wilden Prognosen oder sehr detaillierten Modellen, die zum Schluss häufig genug falsch waren. In vielem waren Schriftsteller wie Jules Verne mit ihren Fantasien näher an der Wirklichkeit. Das berühmteste Beispiel ist sicher der Bericht an den Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums, der das Ende fossiler Ressourcen für den Ausgang des 20. Jahrhunderts prognostizierte, was sich als falsch erwies. Heute arbeitet die Zukunftsforschung mit Szenarios, die mögliche Entwicklungen bewusst machen, ohne prognostische Urteile zur Zukunft zu fällen. Da ist einfach besser und seriöser, da man auch das Eintreffen unvorhergesehener Entwicklungen, so genannte "Wild Cards", nicht einfach ignoriert.
Nie war Zukunftsbewusstsein so ausgeprägt wie heute, bei der Bereitschaft, etwas dafür herzugeben, stockt es aber - was läuft falsch?
Dieses größere Problembewusstsein ist auch eine Folge besserer Daten und ihrer Vermittlung in die Öffentlichkeit. Aber hier gibt es jetzt auch viel mehr Unbehagen, ob etwas an eigenen Besitzständen rührt. Gerade in einem so "satten" Land wie Deutschland schwindet merklich die Sicherheit, ob der Wohlstand linear weiter wächst. Jeder merkt irgendwie, dass wir in einer immer schnelleren, komplexeren und störanfälligeren Welt leben. Die einerseits Opfer abverlangt, andererseits aber auch innovative gesellschaftspolitische Reaktionen auf Globalisierung und sozialen Wandel fordert. Und dann geht es nach dem Motto "Rette sich wer kann" - Anpassungen ja, aber zuerst bei den anderen.
Wir können nicht wissen was sein wird, sondern müssen sagen, was wir wollen, was nicht sein sollte - so der verstorbene Robert Jungk 1993 in einem TA Gespräch. Beim Lesen Ihres Buches "Wie Zukunft entsteht" mit sehr konkreten wirtschaftlichen und politischen Vorstellungen entsteht der Eindruck, dass Sie sich mit dieser Art des Verhinderns von Negativem nicht begnügen möchten?
Nein, wir vom C·A·P in München verfolgen prinzipiell einen anderen Ansatz. Wissenschaft muss praxisrelevant sein und Strategien und Lösungsmöglichkeiten für konkrete Probleme anbieten. Insofern muss man etwas darüber nachdenken, wie sich Demokratie im Zeitalter der Globalisierung entfalten, wie globales Regieren funktionieren oder wie man neuartigen Konflikten, man denke nur an den 11. September, konstruktiv mit politischen Konzepten begegnen kann.
Ein Staat sollte die Lebensbedingungen kommender Generationen im Blick haben - ist so gesehen die Art und Weise, wie derzeit regiert wird, tatsächlich zukunftsfähig?
Nicht wirklich. Aber um es vorab zu sagen: Das ist nicht nur das spezielle Problem von Rot-Grün, sondern liegt auch an modernen Problemen des Regierens. In Deutschland kommt speziell das System-Problem des Entscheidungsverfahrens im Föderalismus als Bremsklotz hinzu. Da kam es schon in den 80er- und 90er-Jahren im Bundesrat zu Blockaden. Mittlerweile steht Deutschland nicht nur im Reformstau fest, sondern es hockt auch in einer Unbeweglichkeitsfalle. Das kann sich das Land mit Blick auf seine Zukunft nicht länger leisten.
Dennoch scheint in Sachen wichtiger Weichenstellungen vielfach eher die Angst vor dem zu überwiegen, was uns da über den Kopf zu wachsen droht. In Ihrem Buch ist ganz selbstverständlich auch von der genetischen Machbarkeit des Lebens oder vom Zeitalter des Nanokosmos die Rede - haben Sie keine Furcht vor der Büchse der Pandora?
Generell sind mit diesen ungemein spannenden Entwicklungen sowohl Risiken als auch große Chancen verbunden. Zugegeben, hinsichtlich der für das Auge nicht mehr sichtbaren Nanotechnologie lässt sich dies noch nicht wirklich abschätzen. Dagegen wissen wir über die modernen Molekularbiologie und die Gentechnik heute schon mehr, sodass es auch vor dem Hintergrund etwa der Heilung heute noch unheilbarer Krankheiten zu einer sehr konzentrierten gesamtgesellschaftlichen Befassung kommen muss. Hier sind natürlich ethische Fragen wichtig. Bislang kaum diskutiert wird jedoch der notwendige Schutz gentechnologischer Daten und ihre einzelne Verwendung im Gesundheits- oder Wirtschaftsbereich. Von unvoreingenommenen Diskussionen hängt es aber ab, of diese Technologien zum Segen oder zum Fluch werden.
Apropos Mut: Alle Welt redet vom Reformstau auf nahezu allen Ebenen der Politik - sind unsere Politiker feige?
Das ist für mich weniger eine Frage von Feigheit, sondern eine Frage des Drucks der Verhältnisse. Da sind zunächst die Komplexität und die Schwierigkeiten des Regierens in der modernen Mediendemokratie. Schauen Sie sich den vergangenen Wahlkampf in Deutschland an: Außer dem Arbeitsmarkt tauchte wenig Programmatisches auf und die Kandidaten versuchten unter Anleitung ihrer medialen "Hirtenhunde" vor allem im Fernsehen durch Ihre Persönlichkeiten zu überzeugen. Ein anderes Problem sind die Blockaden durch Lobbys oder andere Interessengruppen, die sich alle vehement mit ihren Anliegen in die Gesetzgebung einmischen, Einschnitte aber nur bei anderen gesellschaftlichen Gruppen, und nicht bei sich selbst fordern. Im Pulverdampf dieser politischen Scharmützel tauchen die Bürger oftmals ab.
Fehlt es einfach nur an mehr Mut zur Zukunft?
Für uns Deutsche gilt, dass Sicherheitsbedürfnisse als Arbeitnehmer, Konsumenten oder als Väter oder Mütter wachsen und dass gleichzeitig das Misstrauen um sich greift. Das letztere bezieht sich insbesondere auf die Politik. Laut einer Umfrage des Bundesverbands Deutscher Banken ist da heute eher Verzagen als Mut am Werk, das ist nicht gut, angesichts der rasanten Veränderungen etwa in den sozialen Sicherungssystemen und Arbeitsmärkten, aber verständlich. Aber Globalisierung und technologische Innovationen bedeuten nicht nur neue Risiken, sondern auch gewaltige Chancen etwa im Bereich der Bildung, der Logistik und damit der Versorgung der Bevölkerung oder im Bereich der präventiven Medizin. Neben dem Mut bedarf es also allgemeinverständlicher, kompakter Szenarios, um dies den Menschen verständlicher zu machen.
Ist Zukunft auch davon abhängig, etwas zu wagen?
Sicher, wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wir Deutschen tun uns dabei offenbar etwas schwerer als etwa Amerikaner, aber ich denke, wird der Leidensdruck noch größer, muss auch hierzulande ein wagemutiger Ruck durch die Gesellschaft gehen.
Wie viel Ruck ist möglich, wenn doch kein Geld da ist?
Deshalb beunruhigt es doch viele Bürger so, wenn man etwa sieht, wie die strategische 3-Monats-Reserve der Rentenkasse schwindet und die Notwendigkeit einer höheren Beitragsanpassung wächst. Die Menschen hierzulande haben einfach Angst, dass ihre Besitzstände und ihre Grundversorgung nicht zu halten sein werden. Deutschland ist heute mit sagenhaften 1,29 Billionen Euro verschuldet und die Frage ist berechtigt, wer bis wann diese große Schuld eigentlich abzutragen in der Lage sein wird und welcher politische Gestaltungsspielraum da für Zukunftsinvestitionen überhaupt noch besteht.
Während die Politiker auf der Bühne über Nebensächliches streiten und sich die Bürger auf den Rängen langweilen, zerbirst am Grunde des Gebäudes das Fundament - so Meinhard Miegel in seinem Buch "Die deformierte Gesellschaft" über die Zukunft Deutschlands - malt er zu schwarz?
Nein, auch wenn man seinen Generalvorwurf an die Politik und die Politiker, alle hätten versagt, so nicht teilen mag; jenseits dieser Polemik sind seine Sorgen alleine aufgrund der nackten Zahlen im Land nicht von der Hand zu weisen.
Irgendwie hat die Menschheit dann aber doch immer überlebt - sind wir möglicherweise dazu verdammt, einfach nicht untergehen zu können und irgendwie weitermachen zu müssen?
Das ist mir zu passiv ausgedrückt. Es gibt viele gute Beispiele, wie gutes Regieren geht und wie man die Gesellschaft als ganzes oder in Teilen gut organisiert. Darüber hinaus öffnet das Ende des Ost-West-Konflikts große Chancen, positive Entwicklungen in weit größerem Maße national und international anzustoßen. Das "irgendwie weitermachen" - bei uns in Bayern heißt auch "weiterwurschteln" - sollte keiner wollen. Wir müssen uns in der Gesellschaft in Zukunft viel mehr Gedanken darüber machen, was uns diese Mentalität später kostet.
Wir schauen heute alle auf die Politiker und Wissenschaftler und hoffen, dass sie es schon richten mögen - wie viel Zukunftsgestalter steckt in jedem von uns?
Jeder ist gefordert, zunächst die gewählten Politiker, deren Job es schlicht und einfach ist, das Volk zu repräsentieren und effiziente Problemlösungen zu entwickeln, dann die Experten, deren Rat in die politische Tat einzufließen hat, aber schließlich auch der Bürger oder die Kommune, nämlich dann bürgerschaftliche Belange in die Hand zu nehmen, wenn klar ist, dass staatliches Handeln alleine nicht mehr ausreicht.
Erfragt von Hanno Müller
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