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Keine Kraft für zweiten Anlauf

taz-Interview mit Josef Janning zum EU-Gipfel in Brüssel

Von Sabine Herre

12.12.2003 · taz



taz: Herr Janning, wie groß ist die Chance, dass es beim heute beginnenden EU-Gipfel zu einer Einigung über die Verfassung der EU kommt?

Josef Janning: Das Ergebnis ist völlig offen. Es hängt davon ab, ob es gelingt, in Brüssel so etwas wie eine Gruppendynamik zu erzeugen, also den Wunsch, zu einer Einigung zu kommen. Dennoch wird bis zur letzten Minute gepokert werden. Im Unterschied zu den letzten Gipfeln ist die Hartnäckigkeit bei den Staaten, die früher meist nachgegeben haben, jetzt größer. Das betrifft auch Deutschland.

Warum ist die Bundesregierung so stur?

Josef Janning: Nach dem Gipfel von Nizza brüstete sich Spaniens Premier Aznar seiner Unnachgiebigkeit. Das hat sehr ungute Erinnerungen hinterlassen. Jetzt sagt Berlin: Wir wollen, dass eine EU mit 25 Staaten funktionsfähig ist, dass sie eine gute Verfassung bekommt. Bei diesen Zielen geben wir nicht nach.

Was wäre für Sie das beste Gipfel-Ergebnis?

Josef Janning: Der Verfassungsentwurf des Konvents sollte bei der Zahl der Kommissare sowie bei den Abstimmungsregeln im Rat von den Regierungschefs übernommen werden. Also eine kleine Kommission mit nur 15 Mitgliedern und das Abstimmungsprinzip der so genannten doppelten Mehrheit. Dies würde aber bedeuten, dass sowohl die kleinen Staaten, die eine ständige Vertretung in Büssel fordern, als auch Polen und Spanien nachgeben müssten. Dieses große Nachgeben - das ist unwahrscheinlich.

Und was wäre das schlechteste Ergebnis?

Josef Janning: Gar keine Einigung, das wäre das Schlimmste. Kaum weniger schlimm aber wäre es, die Entscheidung über die Abstimmungsregeln auf das Jahr 2009 zu vertagen. Wie jetzt von den Briten vorgeschlagen. Dann könnte man erst 2012 zur doppelten Mehrheit übergehen.

Die alles entscheidende Frage in Brüssel wird also die der Stimmgewichtung im Rat sein. Wie könnte ein sinnvoller Kompromiss aussehen?

Josef Janning: Man könnte das Quorum für die Mehrheit von den vom Konvent vorgeschlagenen 60 Prozent auf 63 bis 66 Prozent der Bevölkerung erhöhen. Dadurch würde die Entscheidungsfähigkeit der EU allerdings deutlich verschlechtert. Denn das würde bedeuten, man braucht noch mehr Staaten, um eine Mehrheit zu erzielen. In der Vergangenheit haben manche Staaten ihre Zustimmung nicht selten von finanziellen Zusagen abhängig gemacht. Dieses Druckmittel wollen sie nicht verlieren. Daher unterstützen sie aus rein taktischen Gründen Polen und Spanien. Um die EU wirklich handlungsfähig zu machen, müsste man das notwendige Quorum für Entscheidungen nicht erhöhen, sondern mittelfristig auf 51 Prozent reduzieren.

Wäre es dann nicht besser, den Gipfel scheitern zu lassen und eine Phase des Nachdenkens darüber einzulegen, was unsere europäischen und eben nicht nur unsere jeweiligen nationalen Interessen sind?

Josef Janning: Wenn man die EU rein philosophisch sieht, wäre dies sicher eine gute Variante. Aber in dem Moment, in dem der Gipfel scheitert, steht der gesamte Verfassungsprozess auf dem Spiel. Die Kraft für einen zweiten Anlauf wäre wohl nicht da. In den letzten Monaten hat sich der Grundton in der EU verändert. Selbst Staaten, die sonst die Integration vorangetrieben haben, wie etwa Finnland, schauen jetzt zuerst auf ihr nationales Interesse.

Wegen des Streits über die Stimmgewichtung hat sich das deutsch-polnische Verhältnis deutlich verschlechtert. Dabei war es gerade die Bundesregierung, die sich bei den Beitrittsverhandlungen für Polen stark gemacht hat. Was ist da falsch gelaufen?

Josef Janning: Das besondere Engagement Deutschlands für eine EU-Mitgliedschaft Polens ist der Hauptgrund für die jetzigen Irritationen. Der Bundesregierung fällt es schwer, nachzuvollziehen, warum Warschau sich so einmauert und zu Kompromissen nicht bereit zu sein scheint. Ich bin nicht glücklich, dass die Deutschen sich so sehr auf Polen einschießen. Die Warschauer Regierung befindet sich in einer schwierigen Lage. Es ist ihre erste Regierungskonferenz, das heißt, sie muss erst lernen, wie diese funktioniert. Im Nizza-Vertrag ist Polen eine Stimmenzahl zugesprochen worden, die zwar in etwa der Bevölkerungsgröße, aber überhaupt nicht dem politischen und wirtschaftlichen Gewicht des Landes entspricht. Dies versuchen sie jetzt zu verteidigen. Ich glaube aber, dass die Polen im letzten Moment nachgeben werden. Dann nämlich, wenn sie das Gefühl haben, allein dazustehen. Viel schwieriger werden die Verhandlungen mit Madrid. Denn die Überbewertung Spaniens im Nizza-Vertrag ist nicht ganz so hoch wie bei Polen. Hier entspricht auch die wirtschaftliche Bedeutung in etwa der Stimmenzahl, die sie in Nizza erhalten haben. Die Spanier haben also die besseren Argumente.

Die britische Unterstützung für Polen und Spanien wird eine Einigung nicht gerade erleichtern.

Die Briten jonglieren in der EU mit vier, fünf Bällen gleichzeitig. Einerseits sind sie zu einer verstärkten Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik mit Deutschland und Frankreich bereit, andererseits zeigen sie Spanien und Polen ihre Unterstützung. London will sich möglichst viele Koalitionen offen halten.

Seit einigen Monaten wächst bei den kleinen EU-Staaten der Eindruck, sich immer weniger gegen die großen Mitglieder durchsetzen zu können. Verläuft hier die künftige Konfliktlinie der EU?

Josef Janning: Hier geht es eher um ein Problem der neuen osteuropäischen Mitglieder. Die Benelux-Staaten wissen als Gründungsmitglieder der EU genau, wie sie ihre Interessen auch als kleine Staaten durchsetzen können. Den Beitrittsstaaten fehlt diese Erfahrung. Sie fühlen sich überrollt und daher kommt es jetzt zu der Dramatisierung "Klein gegen Groß". Schaut man sich EU-Entscheidungen an, wird man schnell feststellen, dass es diese Konfrontation gar nicht gibt. Allerdings stimmt eines: Wenn sich die Großen einig sind, müssen die Kleinen sich ganz schnell positionieren, um noch etwas für sich herauszuholen.

Wird die künftige Konfliktlinie dann zwischen armen und reichen Staaten verlaufen?

Josef Janning: Es ist tatsächlich so, dass die Staaten, die besonders viel Geld aus den Brüsseler Fördertöpfen erhalten, künftig eine sehr starke Gruppe bilden. Irland, die Südeuropäer und die neuen Mitglieder im Osten haben zwar keine Mehrheit, aber sie sind nahe dran.

Die EU ist noch gar nicht erweitert, doch schon jetzt zeigt sich, wie schwierig es ist, zu Entscheidungen zu kommen. Führt überhaupt noch ein Weg an einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten vorbei?

Josef Janning: Unser Forschungsinstitut arbeitet schon seit den 90er-Jahren an einem Modell der differenzierten Integration. Es geht davon aus, dass nicht alle Staaten an allen Stufen der europäischen Zusammenarbeit teilnehmen. Es wird unterschiedliche Gruppen geben. Die einen arbeiten bei der Verteidigung zusammen, die anderen bei der Währung, andere kooperieren besonders eng bei Umweltfragen. In der Schnittmenge all dieser Kooperationen befindet sich dann ein so genanntes Gravitationszentrum …

… und das wird von Deutschland und Frankreich gebildet? Die Debatte über eine deutsch-französische Union hat also eine reale Grundlage?

Josef Janning: Der Vorschlag zu einer engeren Kooperation zwischen Frankreich und Deutschland ist ja nicht neu. Er wurde schon von Präsident de Gaulle aufgebracht, als dieser zu der Ansicht kam, dass die europäische Integration zu langsam verlaufe. Schon damals galt die enge Kooperation also in gewisser Weise als Alternative zur EU. Dass in den französischen Medien jetzt verstärkt Berichte über eine deutsch-französische Union auftauchen, hängt natürlich mit den Verhandlungen über die Verfassung zusammen. So soll Druck auf die anderen Staaten ausgeübt werden. Wenn ihr nicht wollt, dann machen wir es eben allein, dies soll vermittelt werden. Tatsächlich werden in dem von uns prognostizierten Gravitationszentrum aber nicht allein Deutschland und Frankreich sein, sondern mehrere Staaten.

Aber was heißt dies für die EU und ihre gemeinsame Außenpolitik? Wenn sie nur von ein paar wenigen gemacht wird, wird man die Stimme Europas kaum ernst nehmen?

Josef Janning: Es ist wichtig, zu unterscheiden. Bei der EU-Außenpolitik sollten sich möglichst viele Staaten aktiv beteiligen, um Europa eine mächtige Stimme zu geben. Bei der Sicherheitspolitik dagegen sind einige Länder schon auf Grund ihrer Neutralität gar nicht in der Lage, mitzumachen, andere wollen es nicht. Hier wird es also eine verstärkte Zusammenarbeit einer kleinen Gruppe geben. Dass sich nicht alle EU-Mitglieder beteiligen können, wird jedoch nicht zu Alleingängen führen. Im Gegenteil. Man wird sich bemühen, ein Mandat der EU zu bekommen, um so im Namen Europas handeln zu können.

Das heißt, zumindest was die gemeinsame Außenpolitik anbelangt, ist die EU auf einem guten Weg.

Josef Janning: Ja. Und dies ärgert besonders die USA. Der amerikanische Präsident fordert von Europa zwar immer weitere Anstrengungen im Bereich der Verteidigung. Aber wenn die Europäer sich dann nicht national, sondern europäisch in diese Richtung bewegen, dann mauert Amerika.


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