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Regionale und Europäische Identität

23.04.2012 · Forschungsgruppe Deutschland


Historische Prägestempel in grenzregionalen Identitäten

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der EU-Erweiterung um die Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes avancierten die früher am 'Eisernen Vorhang' gelegenen Regionen zum Laboratorium europäischer Identität. Hier sollte sich, so auch die Rede der EU selbst, das europäische Gemeinschaftswerk beweisen. Doch erfüllten sich nicht alle Hoffnungen, statt eines grenzüberschreitenden Wir-Gefühls kennzeichneten auch Jahre später noch vielfach Vorurteile und Desinteresse die gegenseitige Wahrnehmung des Nachbarn. Auf der Suche nach Gründen für diese Entwicklung und Möglichkeiten, ihr entgegenzuwirken, bediente sich das von der Forschungsgruppe Deutschland in Kooperation mit dem Soziologischen Institut der Tschechischen Republik (Abteilung „Grenzland“) zwischen 2003 und 2005 bearbeitete Forschungsprojekt identitätstheoretischer Erklärungsansätze.

Gefördert durch die VolkswagenStiftung führte das deutsch-tschechische Projektteam mehr als 120 qualitative Interviews auf beiden Seiten der bayerisch-böhmischen Grenze und wertete die regionalen Selbstdarstellungen der Grenzregionen aus. Im Zentrum stand dabei die Frage, wie regionale Identitäten im bayerisch-böhmischen Grenzraum konstruiert sind, welche Rolle dabei der Andere jenseits der Grenze spielt und welchen Einfluss Geschichte auf die gegenseitige Wahrnehmung ausübt. Auf Grundlage eines weit gefassten Identitätsbegriffes wurde so ein differenziertes und anschauliches Panorama regionaler Identitätsbildung und der Inkorporierung des Anderen in diese regionalen Selbstverständnisse gezeichnet. Offensichtlich wurde dabei nicht zuletzt die entgegen den politischen Bekundungen weiterhin herausragende Bedeutung historischer Wahrnehmungstraditionen des Anderen. Solche 'historische Prägestempel' weisen inhaltlich weit über die weithin diskutierten historischen Belastungen unter den Bannern des Nationalsozialismus und der Vertreibung hinaus auf historische Tiefenschichten der Nachbarschaft, welche auf ihre aktuelle Ausgestaltung fördernd wie hemmend einwirken. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes breiten damit nicht nur die mentale Seite der aktuellen deutsch-tschechischen Nachbarschaft im bayerisch-böhmischen Grenzraum in einer bislang einmaligen Detailfülle aus. Sie sind darüber hinaus auch geeignet, vorliegende Identitätstheorien um neue Einsichten und Ansätze zu bereichern.

Ergebnisse des Forschungsprojektes wurden publiziert in dem Band Tschechen und Deutsche als Nachbarn (und als C·A·P Analyse).

Regionale und europäische Identitätspolitik

Kollektive Identitätsdiskurse bedürfen, um Wirksamkeit zu erlangen, ihrer Träger. Akteure mit Zugang zu den kollektiven Medien müssen Identitätsangebote kommunizieren und in Diskurse einspeisen oder diese selbst initiieren. Während die Europäische Union explizit für sich in Anspruch nimmt, solche Identitätspolitik zu betreiben, bekennen sich politische und gesellschaftliche Akteure in den Regionen nur selten zu derartigen zielgerichteten Bemühungen um ein kollektives Wir-Gefühl. Wenn so auch die Ausgangsbedingungen regionaler und europäischer Identitätspolitik unterschiedlich sind, verfolgt der Projektstrang "regionale und europäische Identität" doch in beiden Fällen vor allem drei Ziele: 1) Die Analyse europäischer bzw. regionaler Identitätsdiskurse, 2) die Identifizierung von Voraussetzungen wirksamer Identitätspolitik und 3) die Formulierung von Strategieoptionen europäischer wie regionaler Identitätsbemühungen. Dabei nimmt der Projektstrang nicht für sich in Anspruch, Lösungen in Form von Identitätsnarrativen zu präsentieren. Identitätsdiskurse können nur von denjenigen geführt werden, die sie betreffen. Allerdings ist es das Ziel, alternative Wege zur Stärkung kollektiver Identitäten zu formulieren und diese möglichst frühzeitig in europäische respektive regionale Diskurse einzuspeisen. Die Arbeit des Projektstranges findet damit wesentlich vor Ort in interdisziplinären Debatten mit europäischen wie regionalen Akteuren statt, beispielsweise auch mit Initiativen des regionalen Standortmarketing.

Gekreuzte Blicke zur europäischen Identität. Deutsche und französische Positionen zum EU-Beitritt der Türkei

Im Verlauf der kontroversen Debatte um einen EU-Beitritt der Türkei ist zu beobachten, dass sich trotz gemeinsamer Traditionslinien die Perzeptionen und Perspektiven zur Zukunft Europas in Deutschland und Frankreich unterscheiden. Auch wenn in der Sache selbst von bestimmten Akteuren ähnliche Positionen vertreten werden, differieren doch die Begründungen. Dies verweist auf unterschiedliche Identitätsmuster, die in konkreten Entscheidungssituationen aktualisiert werden und politische Deutungsmacht entfalten.

Der Debattenverlauf in beiden Ländern ist nicht kompatibel. Doch gibt es auch innerhalb der beiden Länder keinen Konsens. Die Türkei-Debatte eignet sich damit im Besonderen, nationale und europäische Identitätsmuster in Frankreich und Deutschland als außenpolitische Einflussfaktoren zu identifizieren. Ein Ziel der in Zusammenarbeit mit dem Cerfa am Institut français des relations internationales (Ifri) Paris erarbeiteten Studie ist es so dazu beitragen, die politisch hochsensible Frage des Türkei-Beitritts zu entemotionalisieren. Durch eine klare Reflexion der identitären, kulturellen und politischen Befindlichkeiten soll der Weg zu einer sachlichen Diskussion bereitet werden.

PDF-Downloads

Claire Demesmay, Simone Weske: Si loin, si proche - les Allemands et la question turque, Note du Cerfa 31 (b), Mars 2006

Michael Weigl / Michaela Zöhrer: Regionale Selbstverständnisse und gegenseitige Wahrnehmung von Deutschen und Tschechen (C·A·P Analyse 3/2005)

Folgenlose Nachbarschaft? Spuren der DDR-Außenpolitik in den deutsch-tschechischen Beziehungen
Bericht Claudia Beier zur gleichnamigen Tagung der FGD in Zusammenarbeit mit der Brücke/Most-Stiftung Dresden/Prag in Dresden, 24./25. Juni (entnommen: Deutschland-Archiv, 5/2004, S. 887-890).

Folgenlose Nachbarschaft? Spuren der DDR-Außenpolitik in den deutsch-tschechischen Beziehungen
Bericht Michael Weigl zur gleichnamigen Tagung der FGD in Zusammenarbeit mit der Brücke/Most-Stiftung Dresden/Prag in Dresden, 24./25. Juni (entnommen: WeltTrends, 447/2004, S. 178-181).

Die Bedeutung der Geschichte für die Konstituierung regionaler Identität im bayerisch-böhmischen Grenzraum
Vortrag Michael Weigl anlässlich des Studientages "Regionale Identitäten im bayerisch-böhmischen Grenzraum" am 05. Februar 2004 in München

Altbekanntes Fremdes. Deutsch-tschechische Nachbarschaft und Identität
Impulsreferat Michael Weigl anlässlich der Tagung "Auge in Auge statt Zahn um Zahn. Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen und Tschechen in Politik, Wirtschaft, Sprache und Religion" am 10./11. Oktober 2003 in Prag

Literatur

Michael Weigl: Geschichte vs. Zukunft, in: Manuela Glaab/Werner Weidenfeld/Michael Weigl (Hrsg.): Deutsche Kontraste 1990-2010. Politik - Wirtschaft - Gesellschaft - Kultur, Frankfurt a. Main/New York 2010, S. 653-691.

Michael Weigl: Mehr als ein Zufallsprodukt: Wirkung und Voraussetzung regionaler Identität, in: Harald Pechlaner/Monika Bachinger (Hrsg.): Lebensqualität und Standortmanagement. Kultur, Mobilität und regionale Marken als Erfolgsfaktoren, Berlin 2009, S. 261-274.

Michael Weigl: Europa neu denken? Zur historischen Umorientierung europäischer Identitätspolitik, in: Katrin Hammerstein u.a. (Hrsg).: Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 177-188. 4. Michael Weigl: Identitätspolitische Konsequenzen einer „Verfassung ohne Verfassungskonzept“, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.): Lissabon in der Analyse, Baden-Baden 2008, S. 213-233.

Michael Weigl: Tschechen und Deutsche als Nachbar. Historische Prägestempel in grenzregionalen Identitäten, Baden-Baden 2008.

Michael Weigl: Grenze als Identitätsstiftung in der Gegenwart, in: Robert Luft/Ludwig Eiber (Hrsg.): Bayern und Böhmen: Kontakt, Konflikt, Kultur (Veröffent-lichungen des Collegium Carolinum, 111), München 2007, S. 333-360.

Michael Weigl: Identität zweiter Klasse. Vom Unwillen, Europas Selbstverständnis zu denationalisieren, in: Julian Nida-Rümelin / Werner Weidenfeld (Hrsg.): Europäische Identität: Voraussetzungen und Strategien, Baden-Baden 2007, S. 99-121.

Michael Weigl: „Ich dachte nie daran, dass sie fallen könnte“. Regionale Identitäten entlang der Grenze zu Böhmen, in: Lichtung, 2/2007, S. 5-7.

Michael Weigl: Bayern-Sachsen-Tschechien. Überlegungen zur wechselseitigen Abhängigkeit von Selbst- und Fremdbildern, in: ders. (Hrsg.): Folgenlose Nachbarschaft? Spuren der DDR-Außenpolitik in den deutsch-tschechischen Beziehungen, Münster u.a. 2006, S. 131-155.

Michael Weigl: Geschichte als Kompass der Nachbarschaft. Zur Wirkungsmacht der Heimatvertreibung in regionalen Identitäten des bayerischen Grenzraumes zu Böhmen, in: Ingrid Hudabiunigg/Wolfgang Aschauer (Hrsg.): Alteritätsdiskurse und grenzüberschreitende Beziehungen im sächsisch-tschechischen Grenzraum, Chemnitz 2005, S. 107-118. 11. Michael Weigl: Les identités régionales en Allemagne, in: Claire Demesmay/Hans Stark (Hrsg.): Qui sont les Allemands?, Paris 2005, S. 147-163.


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