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Analyse: EU 2017

Sterbender Schwan oder Phönix aus der Asche?

Unsicherheit wegen Brexit und Trump - Gefahren durch Wahlen vor allem in Deutschland und Frankreich - Hoffnungsschimmer Bürger-Engagement? Von Tom Körkemeier

23.12.2016 · Reuters News



Brüssel, 23. Dez (Reuters) - Brexit, Donald Trump, Flüchtlinge - die großen Themen von 2016 hinterlassen der Europäischen Union für das kommende Jahr ein Minenfeld. Dass die Staatengemeinschaft 2017 aus dem Modus der Dauerkrisen herausfindet, scheint unwahrscheinlich. Angesichts des Aufstiegs von Rechtspopulisten bergen die Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland ebenso wie eine mögliche vorgezogene Parlamentswahl in Italien zusätzliche Gefahren für die Stabilität der EU. Doch nach den Erfahrungen von 2016 scheint alles möglich: Vom Zerfall der EU über einen Stillstand bis hin zur Rückbesinnung auf die Werte, die das Projekt eines geeinten Kontinents seit 60 Jahren leiten.

BREXIT: DER SPRUNG INS DUNKLE

Einen Sprung ins Ungewisse wagt die britische Premierministerin Theresa May voraussichtlich Ende März, wenn sie der EU offiziell den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Staatengemeinschaft erklärt. Etwa zur gleichen Zeit feiern die übrigen 27 Staats- und Regierungschefs der EU in Rom den 60-jährigen Jahrestag der Römischen Verträge, mit denen am 25. März 1957 der Grundstein für die jetzige Europäische Union gelegt wurde.

Sobald May den Austritt nach Artikel 50 der EU-Verträge erklärt hat, tickt die Uhr. Der Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, hat die Briten mit seiner Ankündigung bereits unter Zugzwang gesetzt, dass die Verhandlungen bis Oktober 2018 abgeschlossen sein müssen, wenn der "Brexit" innerhalb der vorgegebenen Zwei-Jahres-Frist vollzogen sein soll. "Ich halte das nicht für realisierbar", sagt der Politologe und EU-Experte Werner Weidenfeld mit Blick auf die komplexen Verhandlungen. Für den Direktor des Programms "Europas Zukunft" bei der Bertelsmann-Stiftung, Joachim Fritz-Vannahme, ist noch kein Konzept Großbritanniens für die Verhandlungen erkennbar: "Es gibt keine Strategie."

Die EU sei deshalb in der bequemeren Situation und könne die Briten den ersten Schritt machen lassen. "Wenn es in die Details geht, könnte es aber eventuell schwieriger werden, die Mitgliedsländer zusammenzuhalten", vermutet Fritz-Vannahme. Mit einem Durchbruch bei den Verhandlungen schon 2017 rechnet keiner der Experten. Für Weidenfeld ist eine Abkehr der Briten vom EU-Austritt aber ausgeschlossen: "Der Brexit wird durchgezogen."

TRUMP: EINE CHANCE FÜR EUROPA?

Noch größere Unsicherheit als beim Brexit herrscht auf dem Kontinent, wenn man weiter über den Atlantik Richtung USA blickt. "Die Frage wird sein, wie man mit so einem schwer berechenbaren Mann umgeht", sagt Fritz-Vannahme mit Blick auf die am 20. Januar beginnende US-Präsidentschaft von Donald Trump. In einem Bereich haben die Europäer bereits erste Schritte unternommen, um unabhängiger von den USA zu werden. So verabschiedete der EU-Gipfel im Dezember die Umrisse einer gemeinsame Verteidigungspolitik. (Full Story)

Für den EU-Experten Weidenfeld muss die rhetorische Annäherung Trumps an den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die Lockerung der Bande zwischen Europa und den USA deshalb nicht nur negative Auswirkungen haben. "Wenn in der Politik Druck da ist, passiert etwas." Nach seiner Ansicht könnte die EU nun enger zusammenrücken, da die Briten bei dem Thema nicht mehr bremsten und die schützende Hand der USA über Europa nicht mehr selbstverständlich sei. "Man kann von der Trump-Chance Europas sprechen."

WAHLEN: DIE VIER FRAGEZEICHEN

Ganz andere Chancen wittern Rechtspopulisten, wenn im März in den Niederlanden, im April und Mai in Frankreich, danach womöglich in Italien und im Herbst in Deutschland gewählt wird. Nach den unerwarteten Ergebnissen zum Brexit-Referendum und den US-Wahlen 2016 wirkt ein Ausblick darauf wie der Blick in die Glaskugel. Die größten Gefahren für die EU gehen nach Expertenmeinung von den Präsidentenwahlen in Frankreich aus, wo der rechtsnationale Front National unter Marine Le Pen die traditionellen Parteien unter Druck setzt.

"Ich bin mir nicht mehr zu 100 Prozent sicher, dass der Front National verhindert werden kann", sagt Fritz-Vannahme. Sollte Le Pen Präsidentin werden, würde sie voraussichtlich zunächst aus dem Euro aussteigen wollen. "Dann ist die Gemeinschaftswährung tot, mit katastrophalen Folgen für die Exportnation Deutschland." Fritz-Vannahme plädiert dafür, dass die etablierten Parteien engagierter in die Wahlkämpfe gehen und die Samthandschuhe gegenüber den Populisten ausziehen. Nach Ansicht Weidenfelds müssen die traditionellen Parteien zudem Zukunftsstrategien präsentieren und wieder mehr Anziehungskraft entwickeln. "Da gibt es eine dramatische Nachfrage". Das gelte auch für Deutschland.

Lichtblicke sieht Fritz-Vannahme im Engagement der Bürger. So sei die Kür von Francois Fillon zum Kandidaten der Konservativen für das französische Präsidentenamt beachtlich, weil sich allein für eine solche Vorwahl vier Millionen Menschen eingebracht hätten. Auch der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn habe, selbst wenn er umstritten sei, die Zahl der Mitglieder seiner Partei verdoppelt. In Deutschland verzeichnen die Parteien links der Mitte seit der Wahl Trumps ebenfalls Zulauf. (Full Story) "Es gibt ein wachsendes politisches Bewusstsein und nicht mehr Politikverdrossenheit", folgert Fritz-Vannahme.

DIE BAUSTELLEN: VOM EU-PARLAMENT BIS ZUR SCHULDENKRISE

Mehr Diskussionen dürfte es 2017 auch in der größten Vertretung für die EU-Bürger geben, denn im EU-Parlament stehen die Zeichen nach dem Wechsel seines Präsidenten Martin Schulz Richtung Berlin auf Umbruch. Am 17. Januar steht die Wahl des künftigen EU-Parlamentspräsidenten an und schon jetzt ist klar, dass die bisherige große Koalition zwischen konservativer EVP sowie den Sozialisten und Sozialdemokraten wegen des Streits um die Nachfolge von Schulz gescheitert ist. (Full Story) Das könnte auch Auswirkungen auf die EU-Gesetzgebung haben - die angesichts der genannten Wahlen in mehreren Ländern und dortiger Befindlichkeiten aber ohnehin schleppender vorankommen dürfte als in den vergangenen Jahren.

Trotzdem hat die EU-Kommission einiges zu tun - von den weiter schwelenden Schuldenproblemen Griechenlands und der unklaren Beteiligung des Internationalen Währungsfonds am Hilfsprogramm über die Krise der italienischen Banken bis hin zum Streit mit der Regierung in Warschau über den Zustand des Rechtsstaates in Polen. Auch die "On-off-Beziehung" ("Politico") zwischen der EU und der Türkei dürfte die EU-Institutionen genauso beschäftigen wie die offenen Fragen in der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Letzteres birgt angesichts der Wahlen und der weiter vorhandenen Anschlagsgefahr besonders viel Zündstoff.


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