C·A·P Home > Aktuell > Pressespiegel > 2012 > Risse in Europas Fundament

Risse in Europas Fundament

Eine Analyse von Werner Weidenfeld

Die große europäische ldee scheint in einem Meer aus Misstrauen und Unverständnis unterzugehen. „Wir brauchen“, meint Werner Weidenfeld, Professor für Politikwissenschaft, „einen großen, strategischen Entwurf.“


08.06.2012 · private wealth 02/12



Praktisch stündlich liefert Europa neue Krisenmeldungen. Die Verschuldungen einzelner Länder verlangen Aufmerksamkeit, ebenso die Arbeitsmärkte. Die Urteile der Ratingagenturen stimmen die Märkte nervös. Es ist nicht Griechenland allein, worauf sich geradezu existenzielle Befürchtungen richten: Portugal, Spanien, Irland, eventuell auch Italien ... Europa wird zum Sorgenkontinent.

Vor diesem aktuellen Hintergrund ist es wichtig, die Sachverhalte zu ordnen, Verstehen möglich zu machen. Zunächst darf nicht übersehen werden, dass Europa einen Lernprozess vollzieht. Bereits bei den Vertragsverhandlungen von Maastricht vor mehr als 20 Jahren wussten wir alles, was uns heute bedrückt. Die gemeinsame europäische Währung braucht einen stimmigen, handlungsfähigen Gestaltungsrahmen. In Maastricht fehlten dazu Kraft und Zeit. Möglichst schnell sollte deshalb ein neuer Vertrag abgeschlossen werden. Doch weil Europa die Schönwetterzeit des Euros genoss, wurden die Dinge schleifen gelassen.

Jetzt galt es, währungspolitisch zu reformieren: Zunächst erhielt die EU das Recht, einige Daten zur Finanzlage zu erheben - und nicht nur die Angaben der Mitgliedstaaten entgegenzunehmen. Dann wurde vereinbart, dass die EU frühzeitig im Jahr die Informationen der Mitgliedsstaaten über künftige Budgetplanungen erhält und rechtzeitig Stellung nehmen kann. Schließlich wurde der Fiskalpakt in kürzester Zeit verhandelt und unterschrieben. Das politische Management des Euros unterliegt damit viel schärferen Kriterien und viel schmerzhafteren Sanktionen. Für diese Form des Krisenmanagements hat Europa Respekt verdient. Unter dem massiven Druck der Ereignisse zeigt der Lernprozess des Kontinents beachtliche Ergebnisse.

Die eigentlichen Befürchtungen zur Zukunft Europas müssen an anderen Entwicklungen festgemacht werden. In etlichen Ländern gewinnen populistische Bewegungen gegen Europa an den rechten und linken Rändern erhebliches politisches Gewicht. Der Zorn der Griechen gegen die traditionellen Parteien, die jene ökonomische Katastrophe zu verantworten haben, ist nur allzu verständlich. Aber der Blick ist genauso auf etliche andere Länder zu richten - Ungarn, die Niederlande, Dänemark, Frankreich.

Die populistischen Extremisten entziehen sich jeder konstruktiven Mitverantwortung. Sie wollen den Karren so richtig gegen die Wand knallen lassen - um anschließend noch größere Wahlerfolge zu erzielen. Es sind also die Fundamente der Machtarchitektur, die immer größere Risse aufweisen. Diese Erosionserscheinung macht mir Sorge. Die Europapolitik hat vieles eingebüßt: Zuverlässigkeit, Kalkulierbarkeit, Standfestigkeit, Gewissheit. Stattdessen dominieren Hektik und strategische Konfusion. Wahlabende erhalten den Stempel des „Historischen“. Die Seelenlage der Gesellschaften scheint tief erschüttert. Dramatische Wählerbewegungen und sprunghafte Positionsveränderungen in der Politik sind die Folge - Europa sind die Haltegriffe der politischen Kultur abhandengekommen.

Die Schlüsselfrage jeder Gesellschaft: „Wie ist der Zusammenhang zu verstehen?“, bleibt unbeantwortet. Doch wo Ratlosigkeit an die Stelle von Perspektiven tritt, fehlt das Vertrauen. Europa hat sich zur Misstrauuensgesellschaft verändert. Politiker und Parteien sind zu Magneten dieses Misstrauens degeneriert. Die moderne Gesellschaft mit hoher Arbeitsteiligkeit lebt aber vom Vertrauensvorschuss.

Es gab Zeiten, da wurde der Orientierungsbedarf durch das Angebot großer Ideen erfüllt. Nach dem Zweiten Weltkrieg bot „Europa“ mit seiner historischen Einigungsperspektive einen solchen Anker. Diese Strahlkraft hat die Einigung Europas eingebüßt. Heute dominieren bürokratische Ausbremsungen und alltägliche Konflikte das Bild. Gibt es eine Lösung? Als sich Anfang der 80er Jahre Europa schon einmal im mentalen und ökonomischen Verfall befand, der als „Eurosklerose“ beschrieben wurde, gelang der Aufbruch. Wir verständigten uns auf eine große Strategie der Zukunft. Mit einer klaren Zeitperspektive wurde die ldentitätsstiftung durch eine Vollendung des Binnenmarkts entdeckt. Die Eurosklerose wurde überwunden. So könnte es heute auch gelingen, den Riss in Europa zu kitten - mit einem großen strategischen Entwurf.


News zum Thema


Europa ist zum Kontinent der Fragezeichen geworden
Gastbeitrag von Prof. Dr. Werner Weidenfeld
14.08.2019 · Tichys Einblick

Vier Wochen vor der bayerischen Landtagswahl: Warum die CSU nervös sein muss
Statements von Prof. Dr. Werner Weidenfeld
14.09.2018 · deutschlandfunk.de

Schwarz-grün? Nein, danke
Statements von Prof. Dr. Werner Weidenfeld
28.06.2018 · Bayerische Staatszeitung

Meget mere Europa
Interview mit Prof. Dr. Werner Weidenfeld
22.06.2018 · Udland

Andrea Zeller: Eurorettung um jeden Preis?
Die Frage nach der demokratischen Legitimität
18.05.2018 · Münchner Beiträge zur europäischen Einigung, Band 28