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Die Flüchtigkeitsfehler des Helmut Kohl

Der Fall der Berliner Mauer - mit Statements von Prof. Dr. Werner Weidenfeld

Von Wolfgang Böhm (DiePresse.com)

23.09.2012 · Die Presse



Vor 30 Jahren wurde Helmut Kohl deutscher Kanzler. Ein Politiker mit Gespür für den historischen Moment, aber nicht immer für das richtige Tempo. Den Fall der Berliner Mauer hat er fast verschlafen.

Es ist der 9. November 1989: Der deutsche Kanzler befindet sich auf einem heiklen Staatsbesuch in Polen, wo die kommunistische Führung bereits angeschlagen ist. Es riecht nach politischem Umbruch. Helmut Kohl spürt die Bedeutung der Ereignisse, er will mitgestalten. Am frühen Nachmittag trifft er mit Lech Wałęsa zusammen, der eben die ersten – noch nicht völlig freien Wahlen – gewonnen hat. Der Vorsitzende der Solidarność spricht Kohl darauf an, dass angesichts der Fluchtwelle vieler DDR-Bürger die Berliner Mauer bald fallen könnte, und sagt forsch: „Da müssen Sie etwas vorbereiten. Hundertausende werden in die Bundesrepublik einreisen wollen.“

Unmittelbar nach dem Verlassen des Raums wendet sich Kohl seinen Beratern zu und sagt schmunzelnd: „Jetzt ist er vollkommen durchgeknallt.“ Ein Fall der Mauer, der am selben Abend Realität wurde, stand nicht am politischen Radar des Pfälzer Riesen. Kohl wusste freilich auch nicht, das sich die Lage in Ostberlin mit einem Mal verändert hatte. Die Delegation aus Deutschland hatte den Auftrag, in Warschau keine Telefone zu benutzen, weil es Ängste gab, vom polnischen Geheimdienst abgehört zu werden. Bei einer Pressekonferenz kamen dann seltsame Fragen über Ereignisse in Deutschland, die Kohl nicht einordnen konnte. Als der Kanzler am selben Tag bei einem Abendessen mit dem polnischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki saß, dramatisierte sich die Lage in Berlin. Später in der Nacht rief die Delegation dann doch daheim an. Der diensthabende Beamte im Außenministerium berichtete, dass etwas Seltsames im Fernsehen laufe: „Auf der Mauer tanzen Menschen.“

Helmut Kohl, der zum 30. Jahrestag seiner Amtsübernahme kommende Woche in Berlin als großer Europäer und Kanzler der deutschen Einheit gefeiert wird, hatte die Lage im Jahr 1989 vorerst völlig falsch eingeschätzt. Allerdings reagierte er dann umso rascher. Werner Weidenfeld, der als einer der engsten Berater Kohls mit in Warschau war, berichtet der „Presse am Sonntag“ von den dramatischen Stunden: „Am Morgen des 10. November legte Kohl noch einen Kranz im ehemaligen jüdischen Ghetto nieder, dann unterbrach er den Besuch, flog mit seinem engsten Stab nach Deutschland. An Bord der Maschine saßen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Vizekanzleramtschef Horst Teltschik, Kohls Bürochef Walter Neuer und auch Weidenfeld. Die Maschine bekam keine Landeerlaubnis für Berlin, Kohl musste in Hamburg auf ein Flugzeug des US-Botschafters umsteigen, um rasch nach Tegel zu gelangen. Er hatte Eile. Weidenfeld: „Kohl hat sich gedacht, es ist schon einmal ein Kanzler zu spät gekommen – nämlich Konrad Adenauer, als die Mauer gebaut wurde.“ Er wollte vor Ort sein, die Geschichte erleben, sie vertiefen, begleiten. „Helmut Kohl hatte ein Grundgespür für historische Weichenstellungen“, so Weidenfeld. Wenige Stunden nach dem Fall der Mauer sprach der Kanzler vor dem Schöneberger Rathaus: „Es ist ein historischer Augenblick für Berlin und für Deutschland. Wir alle stehen jetzt vor einer großen Bewährungsprobe.“ Er selbst hat die Bewährungsprobe bestanden. Helmut Kohl, dessen Beitrag für die deutsche Einheit die jüngst erschienene Biografie von Hans-Peter Schwarz noch einmal belegt, war 1989 innenpolitisch schwer angeschlagen. Seine Rede in Berlin wurde von Pfiffen begleitet. Vielleicht war es der Ärger über sich selbst, die Lage so falsch eingeschätzt zu haben, die ihn dazu drängte, angesichts des historischen Moments konsequent zu handeln. Er wuchs über sich hinaus, telefonierte sofort mit Gorbatschow, Bush und Mitterrand, nutzte die angeschlagene wirtschaftliche Lage in der DDR geschickt als Trumpf für die Herauslösung des Landes aus dem Ostblock.

Adrenalin. Wenige Wochen später wurde Kohl bei einem Auftritt in Dresden von 120.000 Menschen gefeiert. Die Pfiffe waren verstummt. Er hatte einen detaillierten Plan zur Wiedervereinigung in der Tasche. Der eben angeschlagene Kanzler gewann auf allen Linien: Mit der Wiedervereinigung sicherte er seinen Eingang in die Geschichtsbücher, mit seinem Durchsetzungsvermögen schuf er sich internationale Anerkennung und feierte eine innenpolitische Wiederauferstehung.

Die Dynamik der Wendejahre wurden Kohls politisches Adrenalin. Er reiste von einem Umbruchland in das nächste, forcierte die rasche Erweiterung der Europäischen Union, nahm die Worte „Vereinigte Staaten von Europa“ in den Mund und begeisterte sich für die Idee der Vollendung des europäischen Binnenmarkts mit einer gemeinsamen Währung. Den großen Wurf der Wiedervereinigung wollte er auf ganz Europa übertragen. 1991 sagte er im Bundestag: „Jemand, der davon ausgeht, man könnte die Währung ohne politische Union machen, irrt.“ Kohl sah auch hier den historischen Moment gekommen. Er wollte die Chance, die Europa durch die Wende entstanden war, nicht ungenützt vorbeiziehen lassen. Die gemeinsame Währung auf Basis einer weit engeren politischen Zusammenarbeit aller Mitgliedstaaten sollte der Schlussstein der Nachkriegsordnung werden. „Kohl interessierte dabei das Politische, ökonomische Details schob er hingegen beiseite“, erinnert sich Weidenfeld. Viele Ökonomen hatten den Kanzler gewarnt, dass der Umtauschkurs der Ostmark zur D-Mark mit einem Wert von 1:1 ein Fehler wäre. Er tat es trotzdem.

Als die Gründung der Währungsunion anstand, mangelte es ebenfalls nicht an Warnungen: Der Volkswirtschaftler und CDU-Politiker Kurt Biedenkopf sprach von einem fatalen Teufelskreis, sollten auch Länder wie Italien oder Spanien von Beginn an in die Währungsunion eintreten. Kohl hatte erneut die historische Chance vor Augen. Er saß außerdem der Fehleinschätzung auf, dass mit der Durchsetzung einer unabhängigen Europäischen Zentralbank nach Muster der Deutschen Bundesbank die Stabilität der künftigen Währung abgesichert sei. „Die Risiken des Staatsbankrotts eines oder mehrerer Mitgliedsländer der Wirtschafts- und Währungsunion liegen außerhalb des Vorstellungshorizonts von Kohl, Mitterrand und Delors, übrigens auch außerhalb der Erwartungen jener zahlreichen kritischen Ökonomen, die eine Währungsunion für sehr riskant halten und dabei in erster Linie an die Inflationsgefahr denken“, schreibt der Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz in seiner Biografie über den Kanzler. Kohl und sein damaliger Finanzminister Theo Waigel setzten zwar als weitere Absicherung den Stabilitätspakt durch, der alle Teilnehmerländer zu einer Defizitgrenze von drei Prozent des BIP und einer Staatsschuldenquote von maximal 60 Prozent des BIP verpflichtete. Dem Widerstand gegen automatische Sanktionen im Fall des Paktbruchs gaben sie bei den Verhandlungen in Dublin nach.

Verzicht auf politische Union. Heute sagt Biedenkopf, der in den 1990er-Jahren zu einem der parteiinternen Widersacher Kohls wurde: „Schon während der Verhandlungen zum Stabilitätspakt war deutlich geworden, dass die meisten Länder eine strikte Sparpolitik und Haushaltsdisziplin als Einmischung in ihre politische Souveränität ablehnten. Kohl konnte nicht ernsthaft darauf hoffen, dass die Stabilitätskriterien eingehalten würden.“

An der politischen Union hielt Kohl als Voraussetzung für die Währungsunion nicht mehr fest. In Deutschland und Frankreich waren die Vorstellungen darüber zu unterschiedlich. Sie sollte nachgeliefert werden. Und noch einen Fehler beging Kohl: Er lies sich bei den Verhandlungen zum EU-Maastrichtvertrag auf eine „irreversible“ Lösung ein. Ohne seinen Finanzminister Theo Waigel und Bundesbankchef Hans Tietmeyer zu informieren, stimmte er einem italienisch-französischen Vorstoß für ein unwiderrufliches Inkrafttreten der Währungsunion am 1. Jänner 1999 zu. Damit war der politische Druck da, den Euro zu realisieren, gleich ob die fiskalen Voraussetzungen ausreichend erfüllt wurden. Tietmeyer später: „Ich gestehe, dass ich damals mit dem Kopf geschüttelt habe.“ Der Termin, so Zeithistoriker Schwarz, „war Kohl wichtiger als die Kriterien“.

Freilich war Helmut Kohl mancher Mangel bewusst. Nach den Verhandlungen in Maastricht räumte er vor dem Bundestag ein, dass er sich mehr Fortschritte bei der politischen Union gewünscht hätte. Noch hoffte der agile CDU-Politiker, selbst die Korrekturen vornehmen zu können. In seinem historischen Übermut hatte er jedoch seine eigene politische Halbwertszeit übersehen. Mitte der 90er-Jahre verlor er an innenpolitischem Gewicht und schließlich die Wahlen 1998. Nachfolger Gerhard Schröder trug dazu bei, dass die unperfekte Konstruktion des Euro mit einem unsanktionierten Bruch des Stabilitätspakts offensichtlich wurde. Theo Waigel verteidigt deshalb das historische Werk Kohls: „Beim Euro sind nicht Geburtsfehler zu verzeichnen, sondern schwere Erziehungsfehler in den Flegeljahren.“


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