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Helmut Kohl - Ära, wem Ära gebührt

Ein Essay von Werner Weidenfeld

Vor 30 Jahren wurde Helmut Kohl zum Kanzler gewählt. Der Deutungskampf um sein politisches Erbe erreicht einen neuen Höhepunkt - mit der wichtigen, aber lückenhaften Biografie von Hans-Peter Schwarz.

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21.09.2012 · Financial Times Deutschland



Es gibt kein Ding an sich, sondern nur die Wahrnehmung davon. Diese Schlüsselerkenntnis des Immanuel Kant lässt sich auch auf das Bild der großen Staatsmänner in der Geschichte anwenden. Es verändert sich, je nach zeitlichem Abstand und je nach aktuellem Sorgehorizont des Betrachters. Das galt für einen Bismarck wie für einen Stresemann. Ein Konrad Adenauer wurde mal als der große Architekt der politischen Nachkriegsarchitektur gefeiert. Ihm war als Einzigem seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ein Wahlsieg mit absoluter Mehrheit im Deutschen Bundestag vergönnt (1957). Und dann wurde sein Bild fokussiert auf eine konservative, verstaubte Republik, die geradezu nach Aufbruch und neuer Dynamik lechzte.

Den Horizont einer neuen Ära mit der Überschrift "Demokratie fängt jetzt erst richtig an" eröffnete ein charismatischer Willy Brandt, der später in geradezu depressiver Zerfaserung versank. Sein Nachfolger Helmut Schmidt hatte dann in seiner aktiven Amtszeit nie ein nur annähernd so grandioses Ansehen wie Jahrzehnte später im nostalgisch erwärmenden Rückblick. Es darf daher nicht überraschen, wenn auch der Staatsmann Helmut Kohl nicht diesem Auf und Ab der Bilderwelt entkommen kann. Bei ihm fällt nur alles noch dramatischer aus.

Am 1.Oktober jährt sich der Tag seiner Bundeskanzlerwahl zum 30. Mal. Etliche Festakte werden absolviert. Ihm wird eine Sonderbriefmarke gewidmet. Und es erscheint eine mehr als 1000-seitige Biografie aus der Feder des wohl bedeutendsten Zeitgeschichtlers Hans-Peter Schwarz, der auch schon die Standardwerke über Konrad Adenauer geschrieben hat (Hans-Peter Schwarz: "Helmut Kohl. Eine politische Biographie", DVA, München 2012, 1052 Seiten). Ist damit das Bild des Helmut Kohl fixiert? Ist damit der nachdrückliche Wunsch des Altkanzlers nach einem großen Panoramaprofil in der Geschichte in Erfüllung gegangen?

Der notorisch Umstrittene

Es gibt wohl kaum einen anderen Politiker, dessen Wahrnehmungsmuster so drastisch schwankte. Der Oggersheimer schaffte es zur weltpolitischen Schlüsselfigur und stürzte wieder ab. Zunächst begann er als die große Reformhoffnung aus Rheinland-Pfalz. Als Ministerpräsident setzte er eine umfassende Verwaltungsreform durch und schuf die Konfessionsschule ab. Und dann erzielte er bei der Bundestagswahl 1976 gegen Helmut Schmidt das Rekordergebnis von 48,6 Prozent der Stimmen, musste aber die harte Oppositionsbank drücken. Zum Vergleich: Angela Merkel ist 2005 mit 35,2 Prozent und 2009 mit 33,8 Prozent im Bundeskanzleramt angelangt.

Nach 1976 war aber von Helmut Kohl bald in groben Strichen das Bild des nur schwer erträglichen Provinzpolitikers fixiert. Er schaffte es nicht einmal mehr, für die Bundestagswahl 1980 erneut Spitzenkandidat der Unionsparteien zu werden. Erst später gelang es, mit der Hilfe Hans-Dietrich Genschers durch ein konstruktives Misstrauensvotum, den ersehnten Sitz im Kanzleramt zu erreichen. "Die geistig-moralische Wende" wurde von ihm ausgerufen, deren Strahlkraft aber bald erschöpft war. Der Fall der Mauer verschaffte ihm neue Kraft für eine neue Ära, gewissermaßen eine "zweite Luft". "Architekt der deutschen Einheit", "Ehrenbürger Europas" - die großen historischen Beschreibungsformeln konnten gar nicht feierlich genug ausfallen.

Umso krasser dann der Absturz in der Parteispendenaffäre. Unehrenhaft wurde er auch von seiner eigenen Partei - umgangssprachlich formuliert - in die Wüste geschickt. Der eiskalte Schnitt zu diesem Mann wurde von seiner Meisterschülerin vollzogen, Angela Merkel. Seit geraumer Zeit aber wird wieder das Strahlbild der historischen Leistung jenes Mannes aus dem Archiv hervorgeholt und eifrig poliert. Bildet nun eine große, umfangreiche Biografie des Hans-Peter Schwarz den Schlussstein für das historische Denkmal des Helmut Kohl? Die Antwort: ein klares Nein! Da sind über 1000 Seiten sensibel formuliert, da ist neues Dokumentenmaterial ausgewertet (etwa die Tagebücher von Kurt Biedenkopf, Gerhard Stoltenberg, Walter Leisler Kiep), und etliche Zeitzeugen sind nun ausgefragt. Aber dem Blick des Lesers entgehen auch die Lücken nicht.

Der Beziehungsmachtmensch

Die Ratio des Machtmolochs Kohl bleibt darin unterbelichtet. Das große Drama seines vergeblichen Kampfes gegen Bernhard Vogel gerinnt in dieser Biografie auf ganze elf Zeilen, die eher ungewöhnlich buchhalterisch formuliert sind. Auch die Logik seiner ersten Kampfkandidatur gegen Rainer Barzel mit der vorauskalkulierten Niederlage als Voraussetzung für seinen danach entscheidenden Sieg bleibt unterbelichtet.

Die ebenso höchst gelassen von ihm aufgenommene dramatische Niederlage gegen Franz Josef Strauß 1979 in der Frage der Kanzlerkandidatur für 1980 verdient schärferes Licht. Am Tag der Niederlage, an dem sein Büro ohne Besucher blieb, war ihm bewusst, dass dieser Vorgang die Grundlage seiner eigenen Kanzlerschaft bilden würde. In aller Ruhe präparierte er an diesem Tag seinen Terminkalender, den er auch als Bundeskanzler nutzen wollte.

Das jeweilige psychodramatische Umkippen der Beziehungen seines Machtnetzwerks muss noch viel intensiver geklärt werden. Seine machtvollsten Unterstützer wurden eines Tages zu seinen schärfsten Gegnern: Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, Norbert Blüm, Richard von Weizsäcker, Rita Süssmuth, Lothar Späth, Wolfgang Schäuble und so weiter - eine Liste, die sich schier endlos fortsetzen ließe.

Als die Mauer dann am 9. November 1989 fiel, setzte er nicht sofort mit einem operativen Kurs der deutschen Einheit ein. Er brauchte bis zum 19. Dezember 1989, um durch die Stimmung der Bevölkerung bei seinem nicht perfekt vorbereiteten Besuch in Dresden den konkreten strategischen Kurswechsel zu vollziehen.

Diese Liste offener Punkte ließe sich noch weiter fortsetzen - von den Details des Verhältnisses zu US-Präsident Ronald Reagan bis hin zur Kooperation mit dem US-Präsidenten Bill Clinton und Besonderheiten seiner politischen Verantwortung für Israel, weshalb er sich als Bundeskanzler auch mit dem Gedanken des Rücktritts konfrontierte.

Natürlich blieb haften, womit Hans-Peter Schwarz seine Biografie beginnt: "Er war schon immer groß in der historischen Inszenierung." Jeder Staatsmann führt einen Kampf um sein Bild in der Geschichte. Niemand will es dem Zufall späterer Generationen überlassen. Da werden Memoiren geschrieben und viele Zeitzeugeninterviews gegeben. Kohl hat sich als besonders intensiver Kämpfer um das Geschichtsbild erwiesen - aber auch seine Feinde blieben nicht untätig. In der mehr als 1000-seitigen Biografie kann man sich sogar regelrecht hineinfühlen, welcher Interviewpartner und welcher Dokumentenlieferant an welcher Bildvariante arbeiten wollte. Das Bild des Staatsmanns gerät zum Kampfplatz. Golo Mann hätte ihm wohl auch den Ehrentitel verliehen, den er schon an Konrad Adenauer literarisch vergeben hatte: "Großvater der Füchse".


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