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Die falsche Europarhetorik

Artikel mit Statements von Prof. Dr. Werner Weidenfeld

05.06.2012 · Tagesanzeiger



Kanzlerin Merkel will eine gemeinsame Bankenaufsicht, Finanzminister Schäuble eine «richtige Fiskalunion»: Berlin schlägt in der Eurokrise neue Töne an. Doch wie ernst meint man es mit Europa wirklich?

Deutschland brauche künftig eine «richtige Fiskalunion», sagt Wolfgang Schäuble heute in einem Interview mit dem deutschen «Handelsblatt». Die Übereinstimmung zwischen Geld- und Finanzpolitik habe in Europa bisher gefehlt. Seine Wortwahl lässt aufhorchen: In der weiteren Diskussion über die Schuldenpolitik sei nun eine neue Integrationsstufe nötig, so der Finanzminister. Auch die Idee einer Bankenunion – mit gemeinsamer Einlagensicherung und Aufsichtsbehörde – findet bei Schäuble neuerdings Zuspruch.

In Berlin zeichnet sich offenbar ein Gesinnungswandel ab. Die Zeit drängt: Bereits am Donnerstag braucht Spanien frisches Geld – aber die Märkte sind zu den derzeitigen Zinsen de facto nicht mehr zugänglich, wie Finanzminister Cristobal Montoro heute einräumt. Das Land hat Banken zu rekapitalisieren, doch für 10-jährige Anleihen werden gegen 7 Prozent Zinsen verlangt. Die kritische Grenze ist beinahe erreicht: Dass Spanien Rettungskredite in Anspruch nehmen muss, wird immer wahrscheinlicher. Und was mit Griechenland nach den Wahlen geschieht, daran mag in Brüssel, Berlin oder Paris erst recht kein Politiker denken.

Zeit für eine Kursänderung

Deutschland hat Europa einen rigiden Sparkurs verordnet. Und stösst damit je länger, je weniger auf Gegenliebe. Zumindest ein Stück weit hat sich die Kanzlerin jedoch erweichen lassen: Medienberichten zufolge plant Merkels Regierung ein Massnahmenpaket, das Europa neuen Schwung verleihen soll. Das Konzept mit dem Titel «Mehr Wachstum für Europa: Beschäftigung – Investitionen – Innovationen» sieht eine Kapitalaufstockung der Europäischen Investitionsbank von 10 Milliarden Euro, staatliche Garantien für private Projektanleihen sowie Gelder zur Verminderung der Jugendarbeitslosigkeit vor.

Politikwissenschaftler Wichard Woyke von der Uni Münster erkennt in diesen Signalen ein wiederkehrendes Muster. Schon die Rettungsgelder für Griechenland waren von Berlin ursprünglich abgelehnt worden: «Doch Angela Merkel ist mit einer gewissen Zeitverzögerung immer wieder von ihren Positionen abgewichen». Nun scheint Merkel den Forderungen nach Wachstum, wie sie von ihren europäischen Partnern geäussert wurden, nachzugeben. Auch Werner Weidenfeld, Politologe an der LMU München, sieht nun den Zeitpunkt für weitere Integrationsschritte gekommen: «Eine Währungsunion funktioniert nicht ohne politische Union.»

Weidenfeld zufolge ist diese Tatsache auch der Bundesregierung bewusst. Und zwar schon lange. Nur um den Reformwillen der Krisenländer nicht zu brechen, hätten Merkel und Schäuble entsprechende Initiativen bisher aufgeschoben. Weidenfeld betont: «Die Deutschen haben eine positive Grundhaltung gegenüber Europa bewahrt». Dies zeige sich in regelmässig durchgeführten Umfragen, allem Unmut gegenüber Schuldenwirtschaft und Rettungspaketen zum Trotz. Seit März befindet sich der DAX indes wieder auf Talfahrt. Auch aus diesem Grund scheinen Schäuble und Co. dem deutschen Wähler nun eine Nuance mehr europafreundliche Rhetorik zuzumuten.

Beliebige Formeln

Der deutsche Finanzminister sieht sich selbst als Visionär, was Europa anbelangt. Ihn treibt die grundtiefe Überzeugung, dass Europa politisch zusammenwachsen muss. Vor zwei Wochen durfte er den prestigeträchtigen Karlspreis entgegennehmen, eine Auszeichnung für Verdienste um die Europäische Einigung. «Es gibt heute keinen grösseren Verfechter der Europäischen Integration als Wolfgang Schäuble», würdigte IWF-Chefin Christine Lagarde den Preisträger anlässlich der Verleihung. Einwohnern des mediterranen Europa dürften diese Worte indes wie blanker Hohn vorkommen: Kaum jemand hat sich seit der Finanzkrise stärker gegen die finanzielle Verflechtung Europas gewehrt als der Schwabe im deutschen Ministeramt.

Ob Schäubles aktuelles Drängen auf ehrlicher Europafreundlichkeit beruht, bleibt denn auch fraglich. «Die Formel von der ‹Fiskalunion› kann beinahe beliebig gefüllt werden», sagt Europaexperte Wichard Woyke. Was der deutsche Finanzminister darunter versteht, verdeutlicht sich in seinen Interviewausführungen im «Handelsblatt». Man könne keine «hohen Schulden mit noch höheren Defiziten» bekämpfen, betont Schäuble. Diese Leier kommt Europa bekannt vor. Im Klartext bedeutet sie, dass vorerst alles beim Alten bleiben soll: Deutschland wünscht sich langfristiges Trendwachstum durch Strukturreformen. Eine Verschlimmerung der Konjunktur durch Sparprogramme wird dabei als unbequeme, aber unumgängliche Nebenwirkung in Kauf genommen.

Was ist eine Fiskalunion wirklich?

Ist in Berlin demnach alles nur Rhetorik? Werner Weidenfeld mag dies nicht so sehen: «Mit dem Fiskalpakt allein ist Europa auf halber Strecke.» Dies sehe auch Wolfgang Schäuble so. Der Fiskalpakt – er wurde im Dezember nach nur zweimonatiger Verhandlungszeit verabschiedet – soll spätestens binnen fünf Jahren in europäisches Recht überführt werden. Bis dahin gilt es für die Bundesregierung, die nötigen Weichen für ein funktionsfähiges Europa zu stellen, so Weidenfeld – will heissen, Dinge wie die Banken- oder Fiskalunion im selben Zug vertragsmässig zu verankern.

Europas Vorstellungen bezüglich letzterem Punkt divergieren allerdings: Denken Frankreich und Italien beim Wort Fiskalunion etwa an einen europaweiten Finanzausgleich, wie er innerhalb eines Bundesstaats existiert, so will Deutschland der EU vor allem mehr Mitsprache bei der Gestaltung nationaler Haushalte geben. Klar ist eigentlich nur eines: Bis Europa so etwas wie eine Fiskalunion hat, werden Politiker noch manchen Sitzungsmarathon austragen. Bereits am 21. Juni folgt der nächste Eurogipfel.


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