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Die Zukunft Europas: Die Kraft der großen Idee

Eine SZ-Außenansicht von Werner Weidenfeld

Der europäische Erweiterungsmagnet steht nah am Abgrund. Europa kann seine Sklerose nur überwinden, wenn es die Berufung zur Weltmacht erkennt.

08.11.2008 · Süddeutsche Zeitung



Europa ist strategisch verwirrt. Die übliche tagespolitische Hektik verbindet sich mit großer Ratlosigkeit. Wäre die Perspektive klarer, dann hätte die Europäische Union sofort eine präzise Antwort auf die Finanzkrise gegeben. So bleibt es bei den vorsichtigen Versuchen zur Koordinierung und bei einem Streit über die Einrichtung einer europäischen Wirtschaftsregierung. Ein vergleichbares Defizit an strategischer Weitsicht gab es beim Krieg in Georgien wie bei der irischen Ablehnung des Vertrags von Lissabon.

All die Probleme deuten auf eine gemeinsame Wurzel: Europa fehlt die Orientierung, es fehlt ein finales Profil, ein eindeutiges Ziel. Die einen verstehen Europa als Marktprojekt oder als pragmatische Gemeinschaft, die anderen als politische Großmacht oder aber als ein bürokratisches Monster. Es besteht kein Konsens zur Erweiterung wie zu den Prioritäten im Haushalt. In diesem perspektivischen Nebel wirkt der komplizierte Lissabon-Vertrag umso fataler. In praktisch jedem Mitgliedsland ließe sich eine Bürgerbewegung gegen diesen Text mobilisieren. Das Papier ist zwar ein Beitrag zur Modernisierung, aber zugleich ein Symbol bürokratischer Intransparenz.

So lange die Kernelemente des Lissabon-Vertrages nicht in Kraft treten, tickt eine Zeitbombe: Explodieren könnte das bisschen Legitimation, das die Union bei den Bürgern genießt. Diese Bürger müssen nur bei einigen sensiblen Themen mitbekommen, welch dramatische Asymmetrie, welch Mangel an Demokratie in den gewichteten Mehrheitsentscheidungen liegt. Der ebenfalls intransparente Nizza-Vertrag hat bisher das Projekt Europa geschützt - man hat es nicht verstanden. Sobald aber die Unproportionalität zum großen, begreifbaren Thema wird, dann ist die Legitimationskrise nicht mehr abzuwenden. Der europäische Erweiterungsmagnet steht also nah am Abgrund.

Wieso gelingt Europa nicht mehr der große, historische Schritt nach vorn? In allen wichtigen Fragen ist dem Kontinent seit vielen Jahren kein Durchbruch, kein großer Erfolg gelungen. Das Wunder der Integration nach dem Zweiten Weltkrieg mündete zunächst in den 70er Jahren in eine Erschöpfung, die man Eurosklerose nannte.

Dann fand man die Kraft zu einem neuen historischen Aufbruch. Die Vollendung des Binnenmarktes wurde gekrönt mit dem Vertrag von Maastricht, der die Wirtschafts- und Währungsunion schuf und die Erweiterung institutionell grundierte. Nach diesem Vertrag von 1992 sind nur noch kleinliche Detailkorrekturen wie im Vertrag von Amsterdam oder gar Rückschritte wie bei der Entscheidung über die dreifache Mehrheit im Vertrag von Nizza kodifiziert worden.

Europa hat also seit 16 Jahren keinen großen Entwurf zur Architektur seines politischen Systems verabschiedet. Entweder hat es nur kleine Reformdetails geliefert oder große Pläne sind gescheitert. Wer dieses Desaster überwinden will, der darf nicht einfach routinemäßig taktieren. Man muss sich über den Grund der Stagnation Klarheit verschaffen und dort ansetzen.

Europas große Erfolgsgeschichte konnte nur in einer spezifischen weltpolitischen Konstellation geschrieben werden. Der Ost-West-Konflikt hat im Westen ein Gespür für die fundamentale Bedrohung seiner zivilisatorischen Lebensform erzeugt. Freiheit und Sicherheit, persönliche Würde und wirtschaftliche Wohlfahrt - dies alles konnten einzelne Staaten nicht alleine gewährleisten. Nur die supranationale Integration versprach Besserung, und sie entfaltete eine archaische politische Wucht. Mit dieser Kraft konnte sich der Prozess der Einigung in Europa phasenweise schneller entfalten, als es die kühnsten Visionäre vorhersagten.

Europa hat nun diese Wucht verloren. In der Weltpolitik finden sich die prägenden Strukturen früherer Jahrzehnte nicht mehr. Der Vertrag von Maastricht war deshalb das letzte Dokument, das die existentielle Kraft der Ost-West-Polarisierung atmete. Deswegen ist jetzt die Frage zu stellen, womit Europa heute neue Vitalität finden kann. Sie wird nicht aus bürokratischen Mammutverträge erwachsen. Europa kann heute nur als die rettende, elementare Antwort auf die Globalisierung ein neues Ethos entfalten. In der Globalisierung liegt die Idee für die neue, kraftvolle Begründung. Sie muss - ganz konkret - mit dem Weltfinanzgipfel beginnen, auf dem die Konsequenzen aus dem Zusammenbruch der Märkte gezogen werden - all dies ein Produkt der Globalisierung.

Die Staaten sind zu kleinen Spielbällen der Weltpolitik verkümmert. Der integrierte Kontinent aber kann bei den immensen Anforderungen der Weltpolitik durchaus mithalten. Die gemeinsame Währung Euro ist der anschauliche Beleg dafür. Auch in allen anderen großen Themen könnte Europa die staatliche Hilflosigkeit überwinden: Steuerung der Migration, Versorgung mit Energie, Sicherung der Rohstoff-Ressourcen, Abwehr des Terrorismus, soziale Umschichtung durch demographischen Wandel.

Ein Aufbruch aus der "zweiten Eurosklerose" kann nur vermitteln, wer die Kunst der großen Deutung beherrscht. Am Beginn steht die Globalisierung mit ihren dramatischen Konsequenzen für jeden Einzelnen. Europa liefert die Antwort darauf mit seinem strategischen Konzept der Differenzierung nach innen und nach außen. Zaghafte Versuche gibt es bereits, diese Übersetzungsarbeit vom Großen ins Kleine zu leisten: von der Sicherheit bis zur Energie, von der Mittelmeerunion bis zum Umgang mit den Nachbarn im Osten. Nur die Union kann schlüssige Antworten liefern, nur die Gemeinschaft ist stark genug, den einzelnen Staaten Schutz, Ordnung und Individualität zu garantieren.

Im Alltag dominiert nach wie vor das Gefühl, in der "zweiten Eurosklerose" zu stecken. Die Modernisierung der EU bleibt aus, die weltpolitische Rolle ist rudimentär. Aber Europa hat das Potential zur Weltmacht, es steht an der Spitze im Welthandel, bei der Produktion, in Forschung und Bildung. Dieses Potential muss angemessen organisiert und mit dem Geist europäischer Identität erfüllt werden. Eine solche historische Großleistung kann das gleiche Europa erbringen, das heute verunsichert vor sich hindümpelt. Nicht die großen Apparate werden diese Krise überwinden, sondern nur die große Idee, der richtige geistige Entwurf. Aus ihm entsteht das Momentum, mit dem Europa sein neues Gesicht gewinnt.


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