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"Differenzierte Integration ist keine Gefahr, sondern eine Chance"

Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten

Der Politologe Werner Weidenfeld spricht sich für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten aus. Nur wenn mutige Staaten zusammen vorangehen können, gelingt in der EU der 27 die politische Vertiefung.

21.07.2008 · dw-world.de



Die immer größer gewordene Union wirkte und wirkt weit über ihre Grenzen hinaus. Mehrere, erfolgreiche Erweiterungsrunden haben dabei die Heterogenität innerhalb der EU erhöht. Ökonomische, soziale und politische Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bleiben trotz steigender Kohärenz bestehen. Die Vorstellungen davon, wie sich das Gebilde namens EU entwickeln soll, streben zunehmend auseinander. Eine Vertiefung der Integration im Gleichschritt wird daher immer schwieriger zu bewerkstelligen sein. Entscheidend ist es, diese Tatsache nicht allein als Problem, sondern auch als strategische Chance für die Zukunft Europas zu sehen.

Die differenzierte Integration ist bereits Realität

Bereits in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als mit der Wirtschafts- und Währungsunion und dem bevorstehenden Beitritt neuer Mitgliedstaaten aus Mittelost-Europa Strategien zur Vertiefung und Erweiterung parallel verfolgt wurden, besannen sich Europas Staatslenker einer Idee, die Willy Brandt und Leo Tindemans bereits zwanzig Jahre zuvor geprägt hatten: die differenzierte Integration. In den verschiedensten Politikbereichen sind seitdem Integrationsschritte erfolgt, an denen sich nicht alle EU-Mitgliedstaaten beteiligen.

Der Eurozone zum Beispiel gehören seit dem Beitritt Zyperns 15 Staaten an und der Schengen-Raum umfasst 24 Mitglieder, zu denen mit Island und Norwegen auch zwei Staaten zählen, die nicht Mitglied der EU sind. Diese und weitere Projekte zeigen, dass die differenzierte Integration schon seit vielen Jahren ein fester Bestandteil des Integrationsprozesses ist. 

Sogar in der Verteidigungspolitik möglich

Primärrechtlich wurde die differenzierte Integration erstmalig im Vertrag von Amsterdam verankert. Die Regeln dafür waren kompliziert und in der Realität nicht anwendbar. Das hat man erkannt und die Regeln und Anwendungsbereiche von Nizza über den gescheiterten Verfassungsvertrag bis zum Vertrag von Lissabon verändert und es damit eher ermöglicht, Schritte der differenzierten Integration zu gehen. Man hat diese Möglichkeit im neuen Vertrag mit der "Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit" sogar auf die Verteidigungspolitik ausgeweitet. Trotz des nach wie vor schwierigen Procedere, war die Anwendung der differenzierten Integration nie einfacher als heute.

Differenzierte Integration kann als Laboratorium für das Innovationspotenzial der EU dienen. Die Heterogenität und die schiere Zahl unterschiedlicher Interessen laden geradezu dazu ein, Projekte voranzutreiben, die von einer Gruppe von Staaten für wichtig erachtet werden, die aber keine Realisierungschance im Geleitzug der ganzen Union haben. Allerdings gilt es, vorsichtig zu sein. Um ‚Wildwuchs’ zu vermeiden muss differenzierte Integration als strategisches Instrument an verschiedene Prämissen  geknüpft werden.

Das Risiko der zentrifugalen Kräfte

Sie darf erstens den allgemeinen Zielen der Union nicht zuwiderlaufen. Zweitens muss jede Form der Differenzierung grundsätzlich allen Mitgliedstaaten offen stehen. Drittens birgt die differenzierte Integration trotz aller positiven Erfahrungen das Risiko, zentrifugale Kräfte freizusetzen. Als Drohkulisse für integrationsunwillige Mitgliedstaaten oder als Instrument machttaktischer Überlegungen ist sie daher nicht geeignet. Politische Führung ist zwingend erforderlich, um bestehende und zukünftige Differenzierungsprojekte in einen gesamteuropäischen Kontext einzubinden. Nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die neue Troika aus Präsident des Rates, Kommissionspräsident und dem Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik müssen hierbei eine entscheidende Rolle spielen, denn differenzierte Integration sollte in Zukunft vorzugsweise im Rahmen der Unionsverträge und nicht über eine rein intergouvernementale Zusammenarbeit wie in der Vergangenheit ablaufen.

Offener Gravitationsraum, keine Zweiklassengesellschaft

Im Umfeld der differenzierten Integration kursiert eine Vielzahl von Schlagworten und Leitbildern, von der abgestuften Integration über ein "Europa à la carte" bis hin zum Gedanken eines Kerneuropas. Ein zukunftsfähiges Modell der Differenzierung muss sich an der Vorstellung eines offenen Gravitationsraumes orientieren. Sowohl ein fester und geschlossener Kern von Mitgliedstaaten, der stets gemeinsam voranschreitet, als auch die Beliebigkeit unbegrenzter Wahlmöglichkeiten würden zwangsläufig eine Spaltung der Union herbeiführen.

Differenzierte Integration bedeutet eben gerade nicht, eine Zweiklassengesellschaft der europäischen Staaten einzuführen. Stattdessen sollten dort, wo eine Vertiefung gegenwärtig nicht mit allen Mitgliedstaaten erfolgen kann, gezielt sachorientierte Kooperationsformen entstehen. Ist ein solches Projekt dann erst einmal erfolgreich umgesetzt, wird dieses die notwendige Anziehungskraft für den Beitritt weiterer Staaten entwickeln. Differenzierung in diesem Sinne ist also vor allem zeitlich beschränkt zu sehen. Das heißt keine dauerhafte Trennung konkurrierender Integrationsräume, sondern verschiedene Differenzierungsinitiativen, die sich nach und nach auf die ganze Europäische Union überführen lassen.

Differenzierte Integration ist keine Gefahr, sondern eine Chance. In den Köpfen der politisch Verantwortlichen, aber auch der Integrationsbefürworter in Wissenschaft und Gesellschaft, muss sich diese Sicht erst noch durchsetzen. Vielleicht entstehen mit der differenzierten Integration manchmal Gefahren und Probleme. Wenn aber weiterhin alle in gleicher Geschwindigkeit voranschreiten müssen, wird das irgendwann Stillstand bedeuten. Das wäre für das große europäische Projekt eine wahrlich tödliche Gefahr.


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