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Gute Grundlagen geschaffen

Prof. Dr. Werner Weidenfeld zu den Ergebnissen des EU-Gipfels Ende Juni in Brüssel

Zur Strategie- und Gestaltungsfähigkeit der Europäischen Union nach der deutschen Ratspräsidentschaft

05.09.2007 · ifo Schnelldienst 15/2007



Blick zurück in die Krise

Der deutsche EU-Vorsitz fiel in eine Zeit voller Fragezeichen. Nach dem Scheitern der Verfassung und einer Phase des Nachdenkens lag es an Deutschland, dem Projekt Europa neuen Mut zu geben und einer von Dissens und Widersprüchlichkeit bestimmten Agenda Klarheit und Perspektive zu verleihen.

Die Erwartungen an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier waren hoch. Die allermeisten Mitgliedstaaten, vor allem aber diejenigen, welche die Verfassung bereits ratifiziert hatten, erhofften sich, dass die deutsche Ratspräsidentschaft die tiefe Interessenkluft zwischen den Mitgliedstaaten überbrücken und einen substanziellen Beitrag zur Ankurbelung der Integrationsdynamik Europas leisten könne. Wenn nicht Deutschland, wer sonst könnte in der festgefahrenen Verfassungsfrage eine entscheidende Weichenstellung vornehmen? Deutschland als traditionell pro-europäisches Mitglied stand voll hinter der Verfassung und besaß gleichzeitig das politische Gewicht, divergierende Interessen zu versöhnen und den Weg zu bahnen für einen erneuten Anlauf einer Reform des europäischen Vertragswerks.

Nach dem Gipfel: die zwei Gesichter der Reform

Dass sich die Staats- und Regierungschefs der Union auf ihrem Gipfel im Juni 2007 auf einen Fahrplan zur Reform des EU-Primärrechts einigen konnten, ist vor allem der Verhandlungsführung der deutschen Präsidentschaft und der Kompromissbereitschaft der „Freunde der Verfassung“ zu verdanken. Die uneingeschränkte Durchsetzung eines nationalen Wunschkatalogs war nicht möglich. Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier kam die schwierige Aufgabe zu, die verschiedenen Interessen und nationalen Befindlichkeiten behutsam auszubalancieren und zusammenzuführen.

Um es vorweg zu nehmen: Was erreicht wurde, ist mehr als viele erwartet haben. Europa schaffte es noch einmal, nicht in den Abgrund des Scheiterns zu stürzen, in den es während des Gipfels mehrfach blicken musste. Die Techniker der Integration können befriedigt feststellen, dass die Substanz der Verfassung weitgehend gerettet wurde – sofern der Vertrag auch von allen Mitgliedstaaten ratifiziert wird. Statt eines einheitlichen Textes wird es einen knappen Änderungsvertrag in der Tradition von Maastricht, Amsterdam und Nizza geben. Dieser reformiert die bestehenden Verträge und greift in weiten Teilen auf die Substanz des Verfassungsvertrags zurück. Damit werden im Vergleich zum geltenden Vertrag von Nizza demokratische Legitimation und Handlungsfähigkeit der EU erheblich gestärkt sowie weltpolitisches Handeln ermöglicht.

Zu den zentralen Reformen gehören die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens, die Reform der Zusammensetzung der Kommission, die Wahl des Präsidenten des Europäischen Rates, die Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die klarere Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten sowie die Einführung eines europäischen Bürgerbegehrens.

Insbesondere die Abkehr von der „dreifachen Mehrheit“ im Ministerrat und damit die Einführung der „doppelten Mehrheit“ ist ein Meilenstein in der Geschichte der Union. Die undurchschaubare Machtverteilung des Nizza-Vertrags ist zum Skandal geworden. Derzeit haben die großen Staaten 29 Stimmen, die kleinsten Staaten drei. Die kleineren Staaten verfügen über ein weit überproportionales Gewicht, nimmt man das demokratische Prinzip der Bevölkerungszahl. Dieses machtpolitische Ungleichgewicht ist auf Dauer nicht mehr hinnehmbar. Die Einführung der doppelten Mehrheit ist daher die Schlüsselqualifikation auf dem Weg zu mehr Handlungsfähigkeit und Demokratie. Doch wie bei früheren Vertragsrevisionen ist auch diesmal ein Kompromiss entstanden, der den Verfassungsfreunden einige Opfer abverlangte. So wird sich die endgültige Einführung der doppelten Mehrheit bis ins Jahr 2017 verzögern. Bis dahin gelten die Bestimmungen des Vertrags von Nizza. Diese sind allerdings nur für 27 Mitglieder gedacht. Treten wie vorgesehen Kroatien und möglicherweise weitere Staaten des Westbalkans bei, wird die Union auf eine Größe von 30 und mehr Mitgliedstaaten anwachsen. Es drohen erhebliche Effizienz- und Reibungsverluste.

Ein weiterer schmerzhafter Kompromiss, der auf das Drängen Großbritanniens zurückzuführen ist, ist die eingeschränkte Geltung der Charta der Grundrechte. Wohl  erhält sie durch den geplanten Reformvertrag Rechtsgültigkeit und findet Anwendung in den Mitgliedstaaten der Union, der scheidende Premierminister Tony Blair setzte aber durch, dass dieses Grundwerk des europäischen Gedankens der Aufklärung ausgerechnet in einer so traditionsreichen Demokratie wie der des Vereinigten Königreichs nicht gilt. Das mag man vor dem Hintergrund der ganz besonderen verfassungsrechtlichen und –politischen Traditionen Großbritanniens nachvollziehen können, es ist aber ein schlechtes Zeichen für Europa. Nicht wenige werden sich fragen, warum ausgerechnet ein solcher grundlegender Text nicht in allen Mitgliedstaaten gilt, vor allem wenn auch z.B. Polen und Tschechien während der Regierungskonferenz noch das selbe Recht in Anspruch nehmen wie das Vereinigte Königreich.

Identität und Transparenz fehlen

Das größte Manko des europäischen Integrationsprozesses jedoch, dessentwegen der Verfassungsprozess erst in Gang gesetzt worden war und das so schmerzlich wahrgenommen wird, bleibt bestehen. Es fehlen weiterhin Identitätselemente, die es den Menschen erleichtern, dem europäischen Integrationsprojekt eine Vertrautheit entgegenzubringen, die Europa so dringend benötigt und verdient. Es ist eben keine Verfassung, die aufs Gleis gesetzt wurde, es wird keine rechtliche Verankerung für die Symbole des Europäischen geben, Gesetze werden weiterhin nicht Gesetze genannt werden dürfen. Und: Die Traditionslinie kompliziertester Verfassungsentwicklung der vergangenen Jahrzehnte hat sich fortgesetzt. Es gibt keinen schlanken, leicht verständlichen und kurzen Text, der alles enthält und alles erklärt. Auch weiterhin wird der Bürger eher ratlos einem Konvolut unterschiedlicher Vertragsteile gegenüberstehen, die allenfalls von Spezialisten verstanden werden können. Es fehlt die gebotene Überblickstransparenz, ohne die eine innere Verbindung zwischen Europäischer Union und Bürgern nicht entstehen kann. Aber nur mit Vertrauen und Transparenz können die Menschen Europas für dieses für Frieden und Wohlstand so wichtige und zentrale Erfolgsprojekt der letzten Jahrzehnte gewonnen werden.

Unter dem Strich lässt sich jedoch feststellen, dass der Gipfel von Brüssel eine befriedigende Lösung für den Streit um die Verbesserung der Entscheidungsprozesse gefunden hat. Was aber weiterhin fehlt, ist eine Neubegründung des europäischen Gedankens, der Konsens schafft und den Weg frei macht für eine Zukunft, in der sich die Europäische Union mit solidem Selbstbewusstsein ihren Herausforderungen in einer globalisierten Welt stellen kann.

Die Herausforderungen der nächsten Jahre

Die nächsten beiden Jahre sind geprägt von entscheidenden Wegmarken europäischer Politik. 2009 wird das neue Europaparlament gewählt. In den Jahren 2008 und 2009 werden die Finanzen der Europäischen Union einer Revision unterworfen, währenddessen die Interessen der Nettozahler und der Nettoempfänger hart aufeinanderprallen werden. Gleichzeitig soll der neue Reformvertrag ratifiziert werden, von dem wir noch nicht wissen, ob er wirklich in Kraft treten wird. Die unversöhnlichen Geister des nationalen Interesses, die im Juni 2007 noch einmal eingefangen werden konnten, könnten ein weiteres Mal gerufen werden, den Vertrag scheitern lassen und die Europäische Union in eine existenzielle Krise stürzen. Die Kluft zwischen denen, die mehr und denen, die weniger Integration wollen, erschiene dann nicht mehr überwindbar. Dies würde jedoch angesichts der weltpolitischen Herausforderungen große Risiken bergen: Das Tempo globaler Entwicklungen beschleunigt sich, besonders auf dem Gebiet der Wirtschaft, aber auch in der internationalen Außen- und Sicherheitspolitik. Die EU droht in zentralen Politikfeldern ihren Integrationsvorsprung einzubüßen und im Vergleich zu den anderen großen regionalen Blöcken und Mächten ins Hintertreffen zu geraten. Nur eine Anpassung europäischer Politik an die veränderten Realitäten dieser Welt – und dazu bedarf es der Annahme und Umsetzung des Reformvertrags – kann der Europäischen Union die notwendige Handlungsfähigkeit gewährleisten. Im Wesentlichen sind es drei Felder, auf denen sich die EU dringend weiterentwickeln muss.

Eine vitale transnationale Demokratie für Europa entwickeln

Es ist unabänderlich notwendig, dass sich die EU-Bürger mit dem politischen System identifizieren und europäische Politik demokratisch legitimieren – etwa durch den Wahlakt zum Europäischen Parlament, vor allem aber in politischen Debatten zu europäischer Politik. Die schon seit längerem schwelende Akzeptanz- und Legitimationskrise der EU wurde durch das Scheitern des Verfassungsvertrags in Frankreich und in den Niederlanden blitzartig deutlich. Es liegt im wohlverstandenen Eigeninteresse der EU, die Unterstützung des Bürgers für das europäische Projekt wiederzugewinnen. Es wäre nicht positiv, bliebe es bei der Weiterentwicklung der EU bei der vertraulich, diplomatischen Renaissance, die wir im Vorfeld des Gipfels akzeptieren mussten. Das wertvolle Instrument des Konvents, das ernsthafte und dauerhafte Bestreben, die Menschen für Europa wieder zu gewinnen und die europäische Sache in der öffentlichen Debatte zu verhandeln, ist notwendig und auf lange Sicht für Europa, seine Staaten und seine Bürger die beste und einzige Lösung. Die Abschottung der nationalen von der europäischen Ebene im politischen Diskurs muss aufgehoben werden, denn sie entspricht im Mehrebenensystem nicht mehr der Realität. Lernen ist erforderlich, für Bürger und Politiker. Gelingt dies nicht, droht die europäische Integration in den Ländern der EU an Legitimation zu verlieren. 

Eine interessengeleitete Erweiterungsstrategie

Jenseits der technischen Machbarkeit und der politischen Mechanik, für die der Reformvertrag eine notwendige Voraussetzung darstellt, sehen wir uns einem großen Erweiterungsprozess gegenüber, dessen Ende heute nicht definiert werden kann. Der Beschluss, mit der Türkei Beitrittsverhandlungen zu eröffnen, ebnete hierfür den Weg. Mit dem Türkei-Beschluss ist Europa nun endgültig entgrenzt. Es wäre Unsinn zu sagen, die Türkei gehört dazu, die Ukraine, Marokko oder die restlichen Balkanstaaten aber nicht. Je früher Europa diese Reichweite des eingeschlagenen Wegs strategisch begreift, desto besser. Aktuell wird diese Realität politisch verdrängt. Es wird so getan, als sei die Türkei das letzte Land, das legitimerweise seinen Eintritt in die Union fordern kann.

Was mit dem Flexibilitätsartikel des Vertrags von Amsterdam begonnen wurde und im Reformvertrag seinen vorläufigen Abschluss findet: In der nächsten Ära der Europapolitik wird es zu Ende gebracht werden müssen. So wie in den 1950er Jahren die Existenz von UN und NATO die Gründerväter nicht daran hinderte, EWG, EGKS und Euratom zu gründen, so wird künftig die Existenz der EU die Staaten nicht daran hindern, regionale Teilgemeinschaften zu gründen. Das Ziel dieser Teilgemeinschaften müsste es sein, Effizienz und Handlungsfähigkeit zu gewinnen, die im Europa der 27 und mehr Mitgliedstaaten für viele Themen nicht mehr zu erreichen sein wird.

Wer sich Ausmaß und Tragweite dieses Wandels vor Augen führt, spürt das Fehlen einer Debatte umso schmerzlicher. Als ein systematisches Konzept zum Beitrag einer weltpolitischen Ordnung braucht der Kontinent eine Idee von sich selbst.

Die Europäische Union als globaler Akteur

Ein zentrales Thema Europas ist und bleibt seine weltpolitische Mitverantwortung. Europa ist störanfälliger als jeder andere Akteur in der Weltpolitik. Seine wirtschaftlichen und politischen Interessen reichen deutlich über den eigenen Gestaltungsrahmen hinaus, da Europa durch Krisen und Konflikte, etwa in der Rohstoffversorgung, unmittelbar betroffen ist. Geopolitisch gesehen liegt Europa in sensibler und unruhiger Nachbarschaft, deren Politik und Entwicklung zugleich besondere Interessen der anderen heutigen und potenziellen Weltmächte berührt. Schon aufgrund ihrer schieren Größe und wirtschaftlichen Stärke ist die Europäische Union ein Faktor in der Weltpolitik. Die EU ist aus Eigeninteresse zur Weltpolitik verpflichtet.

Auch der Sektor Sicherheit fordert die besondere Leistungsfähigkeit der EU. Die Weltpolitik erlebt eine Epoche der Unordnung, der Risiken, Krisen und Gefahren, nicht zuletzt in näherer Nachbarschaft. Auf globaler Ebene bestimmen Konfliktformationen die Lage, die von der Professionalisierung des internationalen Terrors und asymmetrischer Kriegsführung über die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen bis hin zu regionalen Krisen und den Konsequenzen von Staatsversagen reichen.

Angesichts des erheblichen Problemdrucks muss sich Europa stärker als bisher als weltpolitischer Akteur begreifen. Dabei stärkt die Idee eines differenzierten Europas im Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik die internationale Handlungsfähigkeit der EU. Der Reformvertrag ebnet hierfür potenziell den Weg, und Europa wird gut beraten sein, beizeiten diesen Weg zu begehen.

Fortschritt mit Hürden

Angesichts der komplexen Problemlage, vor der die Europäische Union stand, ist das Mandat für die Regierungskonferenz beachtlich. Mit dem In-Kraft-Treten des neuen Vertrags wäre ein großer Fortschritt im Vergleich zum Status Quo erzielt. Europa könnte sein Potenzial als weltpolitische Gestaltungsmacht effektiver entfalten und sich damit besser den skizzierten Herausforderungen stellen. Einige haben jedoch bereits wieder taktische Fallen aufgestellt und neue Forderungen bzw. Änderungswünsche angemeldet. Dies könnte eine politische Lawine auslösen und eine rücksichtslose Interessendurchsetzung durch weitere Mitgliedstaaten nach sich ziehen.

Endet die kommende Regierungskonferenz oder die darauf folgende Ratifikation des Vertrags in den Mitgliedstaaten erfolglos, steht Europa vor der großen Krise. Es geht also einmal mehr um die Wiederentdeckung der Strategie- und Gestaltungsfähigkeit Europas. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat dafür eine feste Grundlage geschaffen.


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