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Eine Unruhe-Region wird zum Machtfaktor

Die Kurden setzen auf die neue Verfassung. Ihnen würde sie mehr Rechte und mehr Autonomie bringen.

Erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 15.10.2005.

15.10.2005 · SZ-Außenansicht von Felix Neugart



Der Besucher, der über den Grenzübergang Ibrahim al-Khalil von der Türkei in den Irak reist, sucht vergeblich nach Hoheitssymbolen des irakischen Zentralstaats. Nach dem Überqueren des Grenzflusses Habur heißt ein Schild den Gast im "irakischen Kurdistan" willkommen. Die irakischen Kurden, die etwa 20 Prozent der Bevölkerung des Irak ausmachen, haben seit Beginn der neunziger Jahre in den drei Provinzen Dohuk, Irbil und Sulaymaniya einen quasi unabhängigen Staat aufgebaut. Der kurdische Norden des Irak hat sich damit von der latenten Unruheregion der letzten Jahrzehnte zu einem Anker der Stabilität und einem kaum zu unterschätzenden Machtfaktor für die Neugestaltung des Landes entwickelt. Während in den arabischen Landesteilen die staatlichen Strukturen nur noch in Ansätzen funktionieren und gesellschaftliche oder politische Organisationen kaum vorhanden sind, kontrollieren die kurdischen Parteien ein effizientes Netz von Institutionen.

Die Entstehung der kurdischen Autonomieregion ist dem Handeln mehrerer Akteure zu verdanken, die den Kurden keineswegs wohl gesonnen sind. Nach der Befreiung Kuwaits durch amerikanische Truppen und ihre Verbündeten erhob sich sowohl der schiitische Süden als auch der kurdische Norden gegen Saddam Hussein. Dem bedrängten Regime gelang es, die Aufständischen niederzuringen, die vergeblich auf internationale Unterstützung gehofft hatten. Die Kurden flüchteten aus Furcht vor einer Wiederholung der blutigen Massaker Ende der achtziger Jahre zu Hunderttausenden über die Grenzen in die Türkei und den Iran. Auf Druck der Türkei entschlossen sich die Amerikaner in dieser dramatischen Situation zur Einrichtung eines "sicheren Hafens" für die Kurden, verbunden mit einer Flugverbotszone nördlich des 36. Breitengrads. Saddam verhängte daraufhin 1992 eine umfassende Blockade, um dadurch das Experiment kurdischer Selbstverwaltung im Keim zu ersticken.

Doch die beiden kurdischen Parteien haben es in den zurückliegenden Jahren vermocht, Strukturen eines funktionierenden Gemeinwesens aufzubauen. Irbil, die Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion, ist heute eine brodelnde Provinzmetropole mit mehr als einer Million Einwohner. Die Sicherheitslage ist, verglichen mit dem Rest des Landes, stabil; terroristische Anschläge sind die Ausnahme. Die beiden großen Parteien, die Demokratische Partei Kurdistans (DPK) und die Patriotische Union Kurdistans (PUK), verbindet eine langjährige Rivalität, die Mitte der neunziger Jahre zu einem innerkurdischen Bürgerkrieg und zur Teilung der Autonomieregion führte. Die bevorstehende anglo-amerikanische Invasion zum Sturz des Saddam-Regimes zwang die beiden verfeindeten kurdischen Parteien aber, ihre Rivalitäten beizulegen, um ihren Einfluss auf die Neuordnung des Irak zu maximieren und mögliche Risiken optimal abfedern zu können.

Ob die Vertrauensbasis zwischen beiden Seiten mittlerweile groß genug ist, um eine echte Integration beider Verwaltungsapparate, insbesondere im sensiblen Sicherheitsbereich, zu ermöglichen, bleibt fraglich. Die zentrale Forderung der Kurden im gegenwärtigen Verfassungsprozess ist die Schaffung einer föderalen Staatsstruktur. Die Bildung der Föderation ist nach kurdischer Lesart voluntaristisch angelegt, das heißt, der Verbleib der kurdischen Region im Bundesstaat ist von der Anerkennung kurdischer Rechte abhängig. Damit ist er, zumindest im Prinzip, reversibel. Die Gründung eines unabhängigen Staates, der möglichst alle Kurden in der Region umfassen soll, bleibt aber ein "Traum", also ein Fernziel.

Die Kurden haben im Verfassungsprozess versucht, möglichst große Entscheidungskompetenzen für die Regionen durchzusetzen, da jede Verlagerung von Zuständigkeiten nach Bagdad de facto eine Schwächung ihrer bestehenden Institutionen bedeutet. Im Verfassungsentwurf liegt die Gesetzgebungskompetenz bei den Regionen. Die exklusive Zuständigkeit des Zentralstaates beschränkt sich auf die Außenbeziehungen, Verteidigung sowie Fiskal- und Zollpolitik. In der Schlüsselfrage der Verteilung der Einnahmen aus dem Export von Öl und Gas ist der Text des Entwurfs schwammig, im Bezug auf die bestehende Ölförderung findet sich ein Mitbestimmungsrecht der Regionen. Eine zentrale Streitfrage ist der geographische Zuschnitt der kurdischen Region. Die Kurden fordern den Anschluss angrenzender Gebiete mit hohem kurdischen Bevölkerungsanteil, insbesondere der ölreichen Stadt Kirkuk. Die Zusammensetzung der Bevölkerung Kirkuks ist von Saddam durch die Vertreibungen von Kurden und die gezielte Ansiedlung von Arabern manipuliert worden. Der Verfassungsentwurf bekräftigt, dass in den von den Kurden beanspruchten Gebieten eine "Normalisierung" der Bevölkerungsstruktur, gefolgt von einer Volkszählung und einem Referendum über den Anschluss an die kurdische Region, bis Ende 2007 vorgesehen sind. Dieses Vorhaben birgt enorme Sprengkraft in einer aufgeheizten, von ethnischen Spannungen gekennzeichneten Situation. Für die Kurden bietet die Schaffung eines föderalen Irak die historische Chance auf weitgehende Entscheidungsautonomie, verbunden mit konstitutionellen Garantien gegen die in der Vergangenheit of blutigen Interventionen des Zentralstaats.

Der gegenwärtige Verfassungsentwurf sieht auch für die nicht-kurdischen Teile des Irak die Möglichkeit der Bildung neuer Regionen vor. Diese Regelung ist der wohl umstrittenste Teil des Entwurfs und wird von zahlreichen Irakern, insbesondere Angehörigen der arabisch-sunnitischen Minderheit, erbittert bekämpft.

Obwohl die Dezentralisierung der autoritären Staatsgewalt grundsätzlich zu befürworten ist, birgt der gegenwärtige Prozess der geographischen Reorganisation enorme Risiken. Die durch Jahrzehnte repressiver Herrschaft atomisierte irakische Gesellschaft wird von einer Welle ethnisch-konfessioneller Mobilisierung erfasst, die bestehende, komplexe Identitäten auf einfache Zuschreibungen wie "schiitisch" oder "sunnitisch" reduziert. Aber viele Iraker lehnen den konfessionellen Bezug als primäres Identitätsmerkmal ab. Denn die zentrifugale Dynamik der Gründung von ethnisch weitgehend homogenen Regionen mit weit reichenden Kompetenzen dürfte aufgrund der mangelnden Attraktivität der weitgehend paralysierten Zentrale die Gefahr einer gewaltsamen Teilung des Irak verstärken.


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