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Ankunft in der Wirklichkeit

Besonderheiten des Bundestagswahlkampfes
Von Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte (C·A·P-Fellow)

Erschienen in: Rheinischer Merkur, Nr. 37 vom 15.09.2005

15.09.2005 · Rheinischer Merkur



Diese Bundestagswahl bringt gleich mehrere Besonderheiten mit sich. Das sind erstens die Umstände, die zur Verkürzung der Legislaturperiode haben. Sie waren ein eigenes Wahlkampfthema. Zweimal hat es schon vorzeitige Wahlen gegeben. 1972 und 1983. Und bei beiden Urnengängen haben die Parteien gewonnen, die eine vorzeitige Auflösung erzwungen hatten. Diesmal sieht das anders aus. Seitdem Bundeskanzler Schröder die Vertrauensfrage stellte, befindet sich die Regierungskoalition in der Abwicklung: Die Mehrzahl der Wähler sieht die rot-grüne Koalition bereits als abgewählt an.

Entsprechend beurteilen die Bürger die Union mit ihrer Kanzlerkandidatin über viele Wochen als Regierungspartei mit einer gefühlten Kanzlerin an der Spitze. Im Abwahl-Wahlkampf muss sie sich an der Meßlatte einer Regierungsverantwortung einordnen lassen. Jeder ihrer Fehler reduziert das Umfragenhoch. Auch solche Verortungen bewirken ein kontinuierliches Annähern der beiden großen Lager.

Anders bei der SPD. Sie kämpfte mit einem  Spitzenkandidaten, der, demoskopisch ermittelt, über viele Wochen keine annähernde Chance hatte, Kanzler zu bleiben. Auch wenige Stunden vor der Wahl scheint es unmöglich, dass die SPD erneut stärkste Partei im Deutschen Bundestag wird. Um Kanzler zu bleiben, müsste er aus der strategischen Minderheitenposition heraus eine Dreier-Koalition eingehen, die er freilich ablehnt (rot-rot-grün) oder prinzipiell ausschließt (rot-grün-gelb/Ampel). Das ist auch für Wähler verwirrend. Noch nie war es vor einer Bundestagswahl unklarer, welche Regierungskoalition die Wähler ins Amt befördern werden.

Eine weitere Besonderheiten ist die Tatsache, dass eine Kanzlerkandidatin zur Wahl steht. Das hat es noch nie gegeben. Die Wahlforschung hat insofern keine seriösen Vergleichsmaßstäbe, um mögliche Konsequenzen zu erörtern. Ungewöhnlich ist daran auch, dass Angela Merkel über keine eigene Hausmacht verfügt. Alle vorangehenden Kanzlerkandidaten konnten sich als Ministerpräsidenten auf eine klar zu verortende politische und regional differenzierte Hausmacht verlassen. Oppositionsarbeit bleibt alltagspraktisch höchst schwierig, wenn nicht eine Regierungszentrale der Bundesländer als verlässliche Steuerungsgröße im Hintergrund die Fäden mit zieht. Die Unterstützung durch die CDU-Parteizentrale oder die Fraktionsmitarbeiter sind äußerst begrenzt, selbst wenn man an der Spitze der Organisationen steht. Schlagkräftige Ressourcen können im politischen Alltagsgeschehen in der Regel nur über eine Staatskanzlei oder große Landesministerien aktiviert werden. Dennoch ist es der Kanzlerkandidatin in den vergangenen Jahren - teils zufällig, teils strategisch angelegt - gelungen, mit einer Doppel-Strategie der begrenzten Zusammenarbeit mit der Bundesregierung bei gleichzeitiger Teil-Blockade den Bundeskanzler zur vorzeitigen Aufgabe zu zwingen.

Neu ist auch das Phänomen „Linkspartei“: Erstmalig haben die Wähler die Chance, ihrem Protest gegen die Reformpolitik der Bundesregierung (abgeschwächte Agenda 2010) und gegen die Vorschläge der Union (verschärfte Agenda) in der Wahlkabine Ausdruck zu verleihen, ohne gleichzeitig erkennbar links- bzw. rechtsextremistische Parteien zu fördern. Hinzu kommt, dass die Linkspartei offenbar relativ sicher mit dem ersten Versuch in den Bundestag gelangen wird, was für eine neuformierte Partei einmalig ist. Freilich kann man es auch anders sehen: Bereits 1998 zog die PDS, die das Rückgrat der Linkspartei bildet, in Fraktionsstärke ins Parlament. Auch solche Betrachtungen könnten manch künstliche Aufgeregtheit relativieren.

Noch etwas fällt auf: Es gibt eine Wende zum Weniger. Das Austauschen von Wohltaten gegen Zumutungen durchzieht die meisten Wahlprogramme, allerdings in sehr unterschiedlicher Intensität. So hat die Union erstmalig in der Wahlgeschichte der Parteien angekündigt, keine Nettoentlastungen nach dem Wahltag anzubieten.

Tatsächlich hat sich im Ton der neuen Sachlichkeit in der Bevölkerung über Monate eine gewisse Opferromantik ausgebreitet. Viele Bürger erwarten Besserung durch Änderung. Mehr nicht. Gewählt wird nicht mehr, wer die Wirklichkeit verdrängt und die Probleme verschweigt. Das ist neu bei Wahlkämpfen. Kostenbewusst fragen die Wähler mittlerweile, welche Regierung sie sich leisten können. Offenbar lassen sich Mehrheiten sind für unpopuläre Entscheidungen finden. Damit ändern sich in Zeiten ökonomischer Knappheit die Bedingungen des Erfolges im politischen Wettbewerb – ganz gleich, wie stark die Linkspartei am Ende abschneidet: Die Mehrheit belohnt keinen Sozialpopulismus und keine rückwärtsgewandten Vorkämpfer sozialer Errungenschaften.

Eine Polarisierung setzte erst in den letzten drei Wochen des Wahlkampfes ein. Mit Paul Kirchhof, einer Schlüsselfigur der gesamten Reformdebatte, gelang der Union die Rückkehr zur Offensive. Die Gegenmobilisierung ließ allerdings nicht lange auf sich warten, so dass zum jetzigen Zeitpunkt unklar ist, ob für die Union eine win-win-Situation durch den Quereinsteiger in die Politik gelungen ist.

Bemerkenswert in diesem Wahlkampf ist zudem, dass der Spielraum für Inszenierungen ist sehr eng geworden. Inhaltslose Shows strafen die Wähler sofort ab. Auch das TV-Duell war von Inhalten geprägt. Im Feld der politischen Führung hat sich neue Sachlichkeit, gepaart mit Bescheidenheit, ausgebreitet. Populär ist eben nicht nur die starke politische Führung, sondern die Stilsicherheit. Authentizität geht dabei vor Kraftmeierei. Auch die schüchterne Gestik genießt wieder Renaissance.

So können die Bürger wählen zwischen dem medialen Charismatiker Schröder auf der einen Seite und einer dem Politainment fernen Merkel, zwischen vertraut-bewährter Ein-Mann-Präsenz und einer selbstdarstellungsarmen Nüchternheit. All das Wahlkampfgetöse spielt sich zudem in einem Klima resignativer Wechselstimmung ab, die ebenso in dieser düsteren Färbung niemals zuvor messbar war.


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