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Der Fall der Mauer und die Deutsche Einheit

In unserer Erinnerung an die Geschichte ist Deutschland nach wie vor geteilt. Von Werner Weidenfeld.

06.11.2004 · Bayernkurier



Die deutsche Spaltung hatte sich tief in die Köpfe der Deutschen eingegraben. Alles schien so unendlich stabil: der große weltpolitische Konflikt zwischen Ost und West, der Antagonismus der Menschenbilder, die Teilung Europas – und in dies alles eingepfercht die deutsche Frage.

Wenige Tage vor dem 9. November 1989 wurden die Bundesbürger zu ihren Erwartungen und Hoffnungen für Deutschland gefragt. Weit über 80 % erhofften die deutsche Einheit eines fernen Tages, aber nur 3 % glaubten, sie würden die deutsche Einheit persönlich erleben. Man hatte sich offensichtlich im scheinbar so festgefügten Status quo auf lange Sicht eingerichtet. Entsprechend überrascht und ungläubig war das Staunen, als dann am 9. November 1989 die Mauer geöffnet wurde. Überrascht war nicht nur die Bevölkerung, überrascht war auch die Bundesregierung:

"Herr Bundeskanzler, im Augenblick fällt gerade die Mauer!" Ein begeisterter Eduard Ackermann bestätigte Helmut Kohl, was dieser kurz zuvor seinem Pressesprecher Hans Klein nicht hatte glauben wollen. Nach dem schnellen Ende des Festbanketts im Palast des polnischen Ministerrates in Warschau hatte Kohl sich deshalb selbst telefonisch in Bonn rückversichert. Was dem Kanzler am frühen Abend des 9. November 1989, unmittelbar vor seiner Abfahrt vom Gästehaus der polnischen Regierung, von Kanzleramtsminister Rudolf Seiters aus Bonn als Ankündigung des SED-Politbüros mitgeteilt worden war, wurde auch für ihn zur Tatsache: Die Berliner Mauer – in ihrer Undurchlässigkeit das Symbol für die europäische Nachkriegsordnung, die damit verbundene deutsche Teilung und den SED-Staat – hatte ihre zentrale Aufgabe verloren. Unter den Augen von Grenzsoldaten strömten Zehntausende aus dem Osten der geteilten Stadt ungehindert nach Westen, wo sie von jubelnden Landsleuten empfangen wurden.

Der Fall der Mauer bedeutete den Höhepunkt jener Revolution der Rahmenbedingengen europäischer Politik, die mit den Aktivitäten der polnischen Gewerkschaftsbewegung „Solidarität" in den frühen achtziger Jahren ihren Anfang genommen hatte. In den unter Michail Gorbatschow zunächst in der Sowjetunion, dann in immer weiteren Teilen des Ostblocks angeregten und geduldeten Reformen hatte sich diese Revolution fortgesetzt – und im Frühsommer 1989 schließlich auch die DDR erreicht. Die wachsende Unzufriedenheit der DDR-Bevölkerung mit ihren Lebensumständen und ihrer Parteidiktatur, der friedliche Protest und die anhaltende Massenflucht Hunderttausender bewirkten letztendlich den Zusammenbruch des Grenzregimes. Die über Jahrzehnte tödliche Trennlinie zwischen Deutschen in Ost und West wurde von den Machthabern unter dem Druck der freiheitssuchenden Menschen unter chaotischen Bedingungen aufgegeben.

Helmut Kohl und seine Delegation wurden von dieser Entwicklung in Warschau völlig überrascht. Am Morgen desselben Tages hatte Innenminister Wolfgang Schäuble in einer kurzen Sitzung des Bundeskabinetts noch ausführlich über die Flüchtlingsproblematik berichtet; die Mauer war in der Ministerrunde aber kein Thema gewesen. Nun war aus den von der Bundesregierung erhofften Reiseerleichterungen für die Menschen in der DDR die Öffnung der innerdeutschen Grenze geworden – und der bereits im Vorfeld mit Missverständnissen und innerdeutschen Streitigkeiten belastete Besuch in Polen von zusätzlichen Problemen beschwert. Wie sollte Kohl auf die neue Situation reagieren? In ganz Europa werde genau beobachtet, ob die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt hätten und „welche Sprache sie sprechen", mahnte er im Anschluss an das Festbankett die in einem Warschauer Hotel wartenden Journalisten. Zugleich verkündete er aber: „Jetzt wird Weltgeschichte geschrieben". Das „Rad der Geschichte" drehe sich nunmehr schneller - und Kohl fühlte sich dabei sichtlich unsicher. Angesichts der Ereignisse in Ost-Berlin, so sein Eindruck, war er in Warschau am falschen Ort. Dass Konrad Adenauer nach dem Mauerbau am 13. August 1961 nicht sogleich nach Berlin geflogen war, sondern in Augsburg seinen Wahlkampf fortgesetzt hat, war ihm angesichts des massiven Stimmenverlusts bei der darauf folgenden Bundestagswahl immer wieder vorgehalten worden. Einen derartigen Fehler wollte der ebenso geschichts- wie machtbewusste Helmut Kohl keinesfalls wiederholen, zumal er auch aus dem Kreis seiner Mitarbeiter zur Rückkehr nach Bonn aufgefordert wurde. Gleichzeitig war ihm allerdings bewusst, dass ein Abbruch des auf fünf Tage angelegten Besuchsprogrammes in Polen einen nur schwer wieder gutzumachenden Affront gegenüber den Gastgebern und großen Schaden für den von ihm angestrebten deutsch-polnischen Versöhnungs- und Annäherungsprozess bedeuten konnte. Kohl entschied sich, nach Berlin zu reisen und anschließend nach Polen zurückzukehren.

Dies alles sollte der ungewöhnliche Beginn eines historischen Vorgangs sein, an dessen Ende im Oktober 1990 die deutsche Einheit stand.

So tief greifend seitdem die Veränderungen in Deutschland waren, in einem Punkt ist Deutschland nach wie vor geteilt: in unserer Erinnerung an die Geschichte. Langfristig wird nicht die ökonomische Entwicklung, nicht der sozialpolitische Streit über Gelingen oder Scheitern der wirklich vollendeten Einheit entschieden. Es wird unsere Wahrnehmung unserer Geschichte sein, gewissermaßen das konstituierende Element unserer Identität. Die Untersuchungen meines Centrums für angewandte Politikforschung (C·A·P) an der Universität München aber zeigen: Wir Deutsche haben in Ost und West völlig unterschiedliche Erinnerungskulturen entwickelt. An diesem Punkt lebt die Spaltung Deutschlands fort. Wer dies überwinden will, der muss mit langem Atem gesamtdeutsche Erinnerungsarbeit leisten. Die Mauer ist erst dann endgültig gefallen, wenn wir auf die Frage "wer wir sind" und "woher wir kommen" eine gemeinsame Antwort geben.


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